Chamonix. Es gibt Sportler, die zu schier unglaublichen Leistungen imstande sind. Die an ihre Grenzen gehen – und darüber hinaus. Die durch ihre Willenskraft, Ausdauer und Zielstrebigkeit buchstäblich Berge versetzen können. Einer von ihnen ist Markus Mingo aus Bad Kötzting, einer der erfolgreichsten Trailrunner Deutschlands.
Zweimal stand der Bayerwäldler bereits an der Startlinie des UTMB Mont Blanc in Chamonix – dem größten und bedeutendstem Trailrunning-Event der Welt. Das erste Mal 2021 im „Hauruckverfahren“ mit Anreise am Donnerstag, einem Rennen über 100 Kilometer und 6.000 Höhenmetern sowie der nächtlichen Heimfahrt direkt im Anschluss. Das zweite Mal ging er 2022 mit dem Team Gamsbock an den Start. In diesem Jahr wollte der Familienvater endlich seinen Kindern einmal Chamonix zeigen und den UTMB in einen Familienurlaub integrieren. Ein Bericht aus eigener Perspektive.
Der Wahnsinn beginnt…
Chamonix: beschauliches Bergsteigerdorf, Sehnsuchtsort von Bergsportlern aus aller Welt und Ende August für eine Woche Mekka der Trailrunning-Szene mit dem wichtigsten Event des Jahres, dem Ultra-Trail du Mont Blanc (UTMB). Schweißgebadet und mit flauem Magen hetze ich zum dritten Mal durch dieses „Paradies“, um meinen reservierten Slot bei der Ausgabe der Startunterlagen nicht zu verpassen. Ich bin ein alter Hase in diesem Sport und doch überkommt mich wieder das beklemmende Gefühl, der strengen Ausrüstungskontrolle nicht zu genügen – und im letzten Moment nicht mitspielen zu dürfen.
Neben mir schwebt eine bekannte Trailrunnerin durch den Elite-Eingang der Startnummernausgabe – begleitet von Kamerateams für eine exklusive UTMB-Dokumentation. Eigentlich kenne ich sie ganz gut und schätze sie als Mensch und Sportlerin sehr, aber ich wage es kaum, sie in dieser Situation anzusprechen und ihr viel Erfolg zu wünschen. Zu groß erscheint in diesem Umfeld die Kluft zwischen Elitestartern und „Normalos“ wie mir. Es ist mir alles zu viel hier in dieser UTMB-Woche in Chamonix. Zu viel Ego, zu viel Selbstdarstellung, zu viele Handys, GoPros und selbsternannte Superstars…
Ich bin froh, als ich endlich aus dem Trubel herauskomme und meinen idyllischen Campingplatz erreiche. Etwa vier Kilometer abseits des hektischen und überfüllten Ortszentrums spielt sich hier das wahre UTMB-Leben ab. Freundliche Menschen, unterschiedlichste Sprachen, erschwingliche Preise, der Mont Blanc direkt vor der Nase und hunderte zäher Waden – dies alles bildet ein gemeinschaftliches Miteinander, abseits von Hektik und überbordender Social-Media-Abhängigkeit. Meinen beiden Jungs gefällt es und sie rasen zusammen mit einigen spanischen Niños auf den Bikes über die Trails des Campingplatzes. Glückliche Kinder und eine zufriedene Frau ermöglichen auch mir eine gute Vorbereitung auf die bevorstehenden 100 Kilometer und 6.000 Höhenmeter im Rahmen des „CCC“ am nächsten Morgen.
Letzte Vorbereitungen
Am nächsten Tag wandern wir zum Fuße des Mont-Blanc-Gletschers – beeindruckend und erschreckend zugleich, wenn man den Rückgang dieses Naturjuwels in den vergangenen 50 Jahren betrachtet. So unschuldig sind wir Trailrunner vermutlich auch nicht an dieser Gletscherschmelze. Weltweite Events, um sich für das Finale am Mont Blanc zu qualifizieren, High-End-Laufschuhe, die teilweise nur 200 Kilometer halten und kiloweise abgepackte Gels und Riegel als Nahrung werden nicht dazu beitragen, diesen Prozess aufzuhalten.
Anschließend gilt es, meinen Support zu planen. Mit dem eigenen Auto oder Wohnmobil kann man nicht zu den Verpflegungsstellen fahren, schließlich soll die Veranstaltung ja nachhaltig sein. Die Organisation und Planung des Bustransportes kostet uns neben unzähligen Nerven und Kilometern in den Beinen den ganzen Nachmittag. Gott sei Dank konnten die Jungs bei Freunden auf dem Campingplatz bleiben – sonst hätte sich der Spaß in Grenzen gehalten und ich hätte wahrscheinlich meinen eigenen Start verpasst.
Apropos Start: Mein Shuttle (fünf Kilometer vom Campingplatz entfernt) nach Courmayeur verlässt Chamonix bereits um 6 Uhr morgens – der Startschuss fällt erst drei Stunden später. Außer unserem Wohnmobil, das unserer vierköpfigen Familie als Homebase dient, habe ich kein eigenes Fahrzeug vor Ort. Ich überlege mir so einiges – sogar die Option, mit dem E-Bike direkt durch den Tunnel nach Courmayeur zu fahren (bitte nicht machen!) und es am übernächsten Tag auf dem Weg in den Italien-Urlaub abzuholen…
Der Race-Day ist da!
Schließlich nimmt mich ein netter Campingnachbar aus Neuseeland mit zum Busparkplatz. Um 6.30 Uhr sitze ich also auf der anderen Seite des Mont Blanc und warte mit tausenden Gleichgesinnten auf den Countdown. Durchgefroren und übermüdet hocke ich auf dem Boden und erinnere mich sehnsüchtig an Veranstaltungen, bei denen ich mich fünf Minuten vor dem Start in die erste Reihe stellen und „losballern“ durfte. Kurz bevor’s losgeht, reißt mir jemand versehentlich die angenähte Startnummer vom Trikot. Auf der Suche nach Sicherheitsnadeln verlasse ich den Startbereich und muss mich ganz hinten in meinem zugewiesenen Block anstellen. 1.000 Teilnehmer vor mir – kein Vorankommen.
Nach dem Startschuss wird es eng. Statt zu laufen, zücken viele Menschen vor mir erst einmal ihre Handys und GoPros, um sich und ihren persönlichen Aufbruch zu filmen. Trotzdem versuche ich mich auf den ersten vier Kilometern über links und rechts ausweichende Bürgersteige an das etwas ambitioniertere Feld heranzukämpfen – wohl wissend, dass danach ein Single-Trail mit 1.400 Höhenmetern am Stück folgt, auf dem man kaum überholen kann. Das kostet Zeit, Kraft und Nerven. Doch irgendwann finde ich meinen Rhythmus und genieße den Lauf.
Flowige Trails, jubelnde Menschen und wunderschöne Landschaften erwarten mich bis kurz vor La Fouly (Kilometer 42). Die Hitze, das Tempo und die Strecke sind anspruchsvoll – und ab Kilometer 45 wird es zum ersten Mal hart. Die fünfzehn Kilometer nach Champex-Lac sehen auf dem Höhenprofil wie ein Klacks aus, aber der anspruchsvolle Untergrund, die Gluthitze und der Marathon in den Beinen fordern den ganzen Ultraläufer in mir. Meiner Meinung nach wird der UTMB zu Unrecht als wenig technische Strecke bezeichnet. Klar gibt es keine ausgesetzten Stellen, keine Kletterpassagen oder Gletscherquerungen, aber der Untergrund ist abwechslungsreich, erfordert jede Sekunde höchste Konzentration – und gerade im letzten Drittel empfinde ich weite Teile der Strecke als extrem anspruchsvoll. Über eine Distanz von 100 Kilometern und für viele Teilnehmer teilweise bei Nacht bräuchte ich es keinen Ticken technischer…
Familienzeit und Extrakilometer
Mein Highlight folgt bei Kilometer 71 in Trient. Zwei strahlende Kinder erwarten mich am Eingang der Verpflegungsstelle, laufen mit mir ein, umarmen mich und lassen mich hochleben. Meine Frau Veronika hat es wirklich geschafft und das UTMB-Transportsystem durchschaut. Mental ist es schwierig. Wie einfach wäre es an dieser Stelle abzubrechen und mit meiner Familie in den Bus nach Hause zu steigen. Die Jungs begleiten mich auf Schritt und Tritt und erzählen von ihren bisherigen Erlebnissen. Ich nehme mir Zeit – auf zehn Minuten hin oder her kommt es nach dem Startdebakel eh nicht an – und genieße den Moment.
Zwölf Kilometer später in Vallorcine dasselbe Spiel – hier fällt mir das Weiterlaufen noch schwerer. Die Verantwortlichen lotsen uns nach der VP auch noch in die falsche Richtung – und meine Kids und ich laufen eine „Ehrenrunde“ durch das schöne Örtchen. „101 oder 102 Kilometer ist egal“ könnte man meinen – an dieser Stelle tat mir der Zusatzkilometer aber schon weh. Das ist ärgerlich und darf bei dieser Topveranstaltung nicht passieren. Es warten noch 18 Kilometer und 900 Höhenmeter, die ich in üblicher Manier mit viel Willenskraft, bei Dunkelheit und mit einem gebrochenen Stock hinter mich bringe.
In Chamonix weiß ich, warum ich mir dieses Spektakel noch einmal antun wollte und wieso jeder ambitionierte Trailrunner einmal diesen Torbogen in dem französischen Skiort sehen sollte: Der Zieleinlauf ist einfach magisch! Mein Sohn Paul erwartet mich kurz vor der Ziellinie – und wir laufen bei ohrenbetäubenden Anfeuerungsrufen gemeinsam ein. Wunderschön und beeindruckend für uns beide. Emil ist leider kurz vorher in den Armen seiner Mutter rund 20 Meter neben der Ziellinie eingeschlafen…
Quo vadis?
Am Ende stehen 102 Kilometer, knapp über 6.000 Höhenmeter und 13:20 Stunden auf der Uhr. Das bedeutet den 51. Platz bei den Männern und den dritten Platz in meiner Kategorie. Ich stehe am nächsten Tag glücklich und zufrieden neben all den Stars auf dem wichtigsten Podium zur Siegerehrung.
Natürlich weiß ich, dass ich mit dieser Leistung weit hinter der internationalen Spitze zurückgeblieben bin. Klar stellt man sich die Frage, wie viel noch drin gewesen wäre mit einem Startplatz weiter vorne im Feld, einer professionelleren und zügigeren Verpflegung, ohne Extrarunde und mit dem letzten Punch, der mir so weit entfernt von den Spitzenplätzen einfach fehlte. Mein Resümee: Ich bin stolz auf meine Leistung und den Podiumsplatz – den CCC bei dieser Hitze muss man erstmal durchdrücken.
Meine Bilanz: Drei Starts beim UTMB (einmal OCC, zweimal CCC), drei Zieleinläufe, zweimal Podestplatz in meiner Kategorie. Mehr ist für mich nicht drin in Chamonix – und ich werde auch nicht mehr am UTMB teilnehmen. Wobei: Paul (8 Jahre) hat bereits angekündigt, dass er hier unbedingt einmal mitrennen möchte. Veronika hat sofort ihr Veto eingelegt („100 Kilometer läufst du mir auf keinen Fall!“) und wir haben uns vorerst auf einen Kompromiss geeinigt: Es gibt eine 20-Kilometer-Strecke für 18 bis 24-Jährige (YCC). Also UTMB 2034, diesmal dann mit mir als Support…
Markus Mingo