Verdachtsberichterstattung ist stets eine Gratwanderung, „für die Zeitungen und Sender in der Regel ihre juristischen Abteilungen beschäftigen“. Dass Medien überhaupt über Verdachtsfälle berichten dürfen, ist eine Art Privileg, wie Rechtsanwalt Felix Zimmermann gegenüber Deutschlandfunk betont. Die Rechtsprechung habe dafür über Jahrzehnte hinweg Regeln entworfen, um die Verdachtsberichterstattung von der Verbreitung von Gerüchten durch einzelne Personen abzugrenzen.
Im ersten Teil sind die Autorinnen Kristina Wegele-Dippold und Julia Gasser der Frage auf den Grund gegangen, welche Punkte eine Verdachtsberichterstattung rechtfertigen. Ihre Interview-Partnerin Gabriela Keller, Investigativjournalistin beim Medienhaus Correctiv, betonte dabei u.a. die Bedeutung einer ausgewogenen Berichterstattung und den Grundsatz: „Je härter der Vorwurf, desto mehr betonharte Belege brauche ich.“
„Wer das noch nie gemacht hat, läuft Gefahr, Fehler zu machen“
Schnell wird bewusst, wie komplex die Arbeit hinter einer Verdachtsberichterstattung wirklich ist. Lässt sich somit schlussfolgern, dass diese Methode nur erfahrenen Journalisten vorbehalten ist? Auch Thomas Schuler sieht in der Verdachtsberichterstattung ein journalistisches Privileg, welches jedoch mit einer großen Verantwortung einhergeht. Als freischaffender Journalist führt er seit vielen Jahren regelmäßig Recherchen zu Vorwürfen im öffentlichen Interesse durch. Er hat neben Correctiv auch für den SPIEGEL, die Berliner Zeitung und die Süddeutsche Zeitung geschrieben. Darüber hinaus ist er Dozent für Recherche an der Katholischen Universität Eichstätt und gründete gemeinsam mit Kollegen die Lehrredaktion ProRecherche. Diese vermittelt Recherchetechniken sowie rechtliche und ethische Aspekte des Journalismus.
2018 erreichten den Journalisten Hinweise auf Korruption in Ingolstadt. Hintergrund dieser Vorwürfe ist der sogenannte „Bürgerkonzern“ – ein Geflecht aus 56 kommunalen Tochterunternehmen, die für Aufgaben wie Sozialwohnungsbau, Müllabfuhr oder Energieversorgung zuständig sind. Die Stadt gründete diese Unternehmen, um Verwaltungsaufgaben auszulagern.
Der Bürgerkonzern IFG, im späteren Correctiv-Artikel als Ingolstadt GmbH benannt, rückte in den Fokus der Ermittelnden, nachdem sie Hinweise auf Korruptionsvorwürfe erhalten hatten. Im Mittelpunkt stehen drei Männer. Der ehemalige Oberbürgermeister Alfred Lehmann soll mit dem Geschäftsführer des Klinikums, Heribert Fastenmeier, Steuergelder veruntreut haben. Obwohl Lehmann aus seinem Amt als Oberbürgermeister ausgeschieden ist und Christian Lösel diesen Posten übernommen hat, soll Lehmann weiterhin für Verwaltungsaufgaben des Klinikums zuständig gewesen sein. Den Stadträten war diese Abmachung nicht bekannt. Wegen Verdacht auf Untreue, Vorteilsannahme und Bestechlichkeit wurde der Klinikchef Fastenmeier in Untersuchungshaft genommen. Nach acht Monaten beging er in seiner Zelle Suizid.
In seinem Rechercheseminar an der Uni Eichstätt lernte Schuler Vinzenz Neumaier kennen. Er studierte zu der Zeit Journalistik und stach mit guten Leistungen aus der Gruppe hervor. Schuler wollte Neumaier die Chance geben, sein Können unter Beweis zu stellen und setzte ihn auf diese Geschichte an. Schnell wurde klar, dass er die Recherche mit allen komplexen Zusammenhängen nicht allein bewältigen kann. „Die Verdachtsberichterstattung ist ein komplizierter Bereich. Wer das noch nie gemacht hat, läuft Gefahr, Fehler zu machen“, erklärt Schuler.
Bei der Verdachtsberichterstattung müssen die Recherchierenden strategisch vorgehen, um an ausschlaggebende und haltbare Informationen zu gelangen. Junge Journalisten können dabei von erfahrenen Kollegen profitieren. „Diese Arbeit lernt jemand, der neu ist, indem er in einem Team mitarbeitet. Ich habe schon mehrfach Leute bei Interviews dabeigehabt, die dann einfach mitbekommen, wie so etwas abläuft. Sie lernen, wie und vor allem wann solche Anfragen gestellt werden. Es sind eben bestimmte methodische Schritte.“
Strategie und Sorgfalt – die Kernessenz der Recherche
In Schulers und Neumaiers Fall begann die Recherche zu dem Zeitpunkt, als die Vorwürfe bereits seit zwei Jahren vage in der Öffentlichkeit standen. Andere Journalisten hatten vergeblich versucht, an Akten und Informationen über geheime Absprachen und Ermittlungen zu kommen. Schuler und Neumaier stiegen in die Recherche ein, indem sie öffentliche Sitzungen des Stadtrats besuchten. Die beiden beobachteten, welche Personen sich auf welche Art und Weise über den Bürgerkonzern und die öffentlichen Vorwürfe äußerten. So bekamen sie eine Ahnung davon, wer für ihre Recherche nützlich werden könnte.
„Ein Journalist, der es mit einem solchen Fall aufnimmt, muss strategisch vorgehen“, erklärt Schuler. Verdachtsberichterstattung ist mehr als ein bloßes Sammeln von Informationen. Es ist eine Kunst, die nach verschiedensten Fähigkeiten verlangt. „Es besteht die Gefahr, durch eine Herangehensweise Quellen zu verschließen. Man kann sich Recherchewege sehr schnell verbauen, wenn man nicht im Kopf hat, wie zielführend eine gewisse Reihenfolge aussehen kann“, betont er.
Journalisten müssen genau planen, zu welchem Zeitpunkt sie Interviewanfragen stellen. Es bringe nichts, direkt bei der ersten Kontaktaufnahme mit einer Quelle nach vertraulichen Informationen zu fragen. Mögliche Informanten reagieren nur verschreckt und würden dann nicht mehr aussagen. Besser ist es, in einer E-Mail um ein Hintergrundgespräch zu bitten, das im Artikel nicht zitiert wird. „Wenn man diese Hintergrundgespräche öfter geführt hat, wird man früher oder später immer an den Punkt kommen, an dem die Gegenseite mehr erzählt.“ Auch das Timing während eines Interviews ist äußerst wichtig, erklärt Schuler: „Ich muss wissen, wann ich welche Informationen nutzen kann, um einen gewissen Druck aufzubauen.“
„Wir müssen nur die Vorwürfe erhärten“
„Die Ermittlungsakten waren viele hunderte Seiten! Und da ging es nicht darum, ein Papier zu haben – wir wollten alles haben“, betont Schuler. Diese konnten einen groben Überblick geben, reichten jedoch nicht aus, um den Verdacht zu stützen. Der nächste notwendige Schritt musste weitaus tiefer gehen, erklärt der Dozent: „Der Weg, um Belege anzuhäufen, läuft so: Befragungen, öffentlich zugängliche Dokumente und dann – sehr viel komplizierter und aufwändiger – Dokumente, von denen die Betroffenen niemals wollen, dass sie ans Licht kommen.“ Der Umgang mit dieser Informationsflut erfordert neben Geduld auch einen geschulten Blick. In ihrem Fall fanden sie Notizen in Fastenmeiers Tischkalender, welche die Zusammenarbeit mit dem Ex-Oberbürgermeister Lehmann belegten.
Nicht alle Hinweise, die Journalistinnen und Journalisten während der Recherche sammeln, werden veröffentlicht. Im Laufe der Untersuchungen stoßen sie häufig auf intime Details, die für die eigentliche Geschichte nicht relevant sind. Sensible Informationen, die nicht notwendig für die Berichterstattung sind, dürfen nicht veröffentlicht werden. Das widerspricht der journalistischen Moralvorstellung, meint Schuler. „Das wäre so, als würden die intimsten Gespräche aus ihrer Beziehung an die Öffentlichkeit kommen. 80 Prozent der Recherche werden nicht publiziert. Die braucht es für die Geschichte nicht. Wir müssen nur die Vorwürfe erhärten.“
Ein Jahr lang arbeiteten Schuler und Neumaier an der Geschichte. Die Recherche war turbulent – drei Strafverfahren wurden gegen Unbekannt eingeleitet, um ihre Recherche zu verlangsamen und die Informanten zum Schweigen zu bringen. Im Juli 2019 veröffentlichten sie das Ergebnis der intensiven Recherche in Zusammenarbeit mit Correctiv unter dem Titel “Die Ingolstadt GmbH”. Schuler freut sich, dass er Vinzenz Neumaier an so einen komplexen und spannenden Fall heranführen konnte. „Es ist kein Sandkasten-Projekt. Aber Vinzenz zeigt, dass man nicht 30 Jahre im Geschäft sein muss. Diese Arbeit kann man leisten, wenn man bestimmte Techniken befolgt. Man muss wissen, wie es geht.“
„… damit Wähler eine informierte Entscheidung treffen können“
Dieser Fall illustriert, wie mangelnde Transparenz und eine Machtkonzentration in wenigen Händen zur Manipulation und zum Missbrauch öffentlicher Ressourcen führen können. Kontrollinstanzen wie der Stadtrat hatten wenige bis keine Einblicke in die tatsächlichen Abläufe, was die Aufklärung und die demokratische Kontrolle erheblich erschwerte. Am 22. Oktober 2019 sprach das Landgericht Ingolstadt den ehemaligen Oberbürgermeister Alfred Lehmann in zwei Fällen der Vorteilsannahme und Bestechlichkeit schuldig und verhängte eine zweijährige Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Mit ihren Recherchen deckten Schuler und Neumair auf, was andere Medien nicht erfassten – die Absprachen zwischen dem amtierenden und dem ehemaligen Oberbürgermeister von Ingolstadt. Ohne ihre Berichterstattung wären die entscheidenden Korruptionsvorwürfe, die wegen des Suizids des beschuldigten Geschäftsführers des Klinikums nie vor Gericht kamen, nicht bekannt geworden.
Eine Verdachtsberichterstattung kann also Einfluss auf die Öffentlichkeit nehmen. Warum dies notwendig ist, wird am Beispiel der Ingolstadt GmbH deutlich, erklärt Schuler. Recherchen wie diese seien von hoher Relevanz für die öffentliche Meinungsbildung. „Vorwürfe gegen politische Akteure müssen öffentlich gemacht werden, damit Wählerinnen und Wähler eine informierte Entscheidung treffen können“, betont der Journalist.
„… müssen wir mit Hasswellen im Internet rechnen“
Der Fall Hubert Aiwanger sorgte Ende August 2023 für erhebliches Aufsehen in der deutschen Öffentlichkeit. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) berichtete, dass der bayerische Wirtschaftsminister in seiner Schulzeit ein antisemitisches Flugblatt verfasst oder zumindest verbreitet haben soll. Die dazu veröffentlichten Artikel lösten eine breite Diskussion über seine Vergangenheit und die politischen Implikationen aus. Der Verdacht basierte auf Aussagen und Dokumenten aus seiner Schulzeit, die Fragen zu seiner Eignung für ein hohes öffentliches Amt aufwarfen. Der SZ-Artikel war kurz vor den bayerischen Landtagswahlen veröffentlicht worden, weshalb Aiwanger und seine Anhänger die Berichterstattung als „Schmutzkampagne“ bezeichneten.
Auch andere Journalisten diskutieren über die Verdachtsberichterstattung. ÜberMedien kritisierten den Beitrag der SZ scharf. Er erwecke den Eindruck, dass die Redaktion eine politische Agenda verfolgt, insbesondere kurz vor den Wahlen. Autor Stefan Niggemeier betont, dass der Artikel dazu führte, dass sich viele Gegner des etablierten Journalismus in ihrer Ablehnung stark bestätigt fühlten. Dies sei ein journalistischer Fehltritt, der vermeidbar gewesen wäre.
Für Journalisten, die über einen Verdacht berichten, gibt es viel zu beachten. Sie müssen äußerst gründlich arbeiten und immer mit dem Risiko einer gerichtlichen Auseinandersetzung rechnen. Sie tragen eine große Verantwortung gegenüber den verdächtigten Personen. Keller und Schuler scheinen sich dieser bewusst zu sein, ebenso wie der Macht der Medien. Aber es gibt auch immer wieder Kritik an Verdachtsberichterstattungen. „Insbesondere wenn über Gewalt gegen Frauen oder rechtsextreme Netzwerke berichtet wird, müssen wir mit Hasswellen im Internet rechnen“, erklärt Gabriela Keller.
Verdachtsberichterstattung versus Rufmord
Stehen prominente Männer im Fokus, würden Journalisten besonders häufig des Rufmordes und der Vorverurteilung bezichtigt. Aus Kellers Sicht würde der Begriff des Rufmordes in vielen Fällen pauschal vorgeschoben, um zu vermitteln, dass das zweifelhafte oder gar rechtswidrige Verhalten einer prominenten Person gar nicht thematisiert werden darf. Keller wertet dies als Versuch der Beeinflussung der Berichterstattung, das häufig nicht nur von begeisterten Fans, sondern auch von teuer bezahlten Krisen-PR-Profis eingesetzt wird, um Journalisten zu diskreditieren. „Wir versuchen uns davon nicht einschüchtern zu lassen. Solche Hasswellen und Angriffe dürfen Journalisten nicht davon abhalten sich einem Thema anzunehmen“, betont sie.
Auf der anderen Seite dürfen die Macht und die Reichweite der Massenmedien nicht unterschätzt werden. Fälle wie Kasia Lehnhardt, Fynn Kliemann oder Hubert Aiwanger machen dies deutlich. Für die Verdächtigten hatten die Berichterstattungen Auswirkungen auf ihre Karriere, aber auch auf ihr persönliches Leben. Fynn Kliemann sah sich nach dem Beitrag im ZDF Neo Magazin Royal einer massiven Hasswelle im Netz ausgesetzt. In einer Episode des Podcasts „Baby got Business“ im Mai 2023 spricht Kliemann mit Ann-Katrin Schmitz über die Folgen für sein Privatleben. Er sehe ein, dass er Fehler gemacht habe. Aber auch nachdem das Strafverfahren abgeschlossen war, erhielt er weiterhin viel Hass: „Ich hatte Angst, das Haus zu verlassen und in die Stadt zu gehen. Ich dachte, ich werde angespuckt, wenn ich rausgehe.“
Im Mai 2022 wurde der Verdacht auf Greenwashing des Influencers und Unternehmers Fynn Kliemann durch das „ZDF Magazin Royal“ öffentlich gemacht. Die Recherchen der Investigativ-Journalisten legten nahe, dass seine Geschäftspartner und er Masken als „fair“ und „in Europa produziert“ verkauften, obwohl sie teilweise aus Indien und Bangladesch stammten. Der Verdacht auf Täuschung und Betrug führte zu weiterer intensiver Berichterstattung und löste öffentliche Diskussionen um die Person Fynn Kliemann aus.
Nach mehreren öffentlichen Statements, in denen er die mediale Darstellung seiner Person kritisierte, überrollte Kliemann ein massiver Shitstorm. Im Juli 2022 trat er vorübergehend als Geschäftsführer des von ihm gegründeten Kreativprojekts “Kliemannsland” zurück und zog sich selbst aus der Öffentlichkeit. Die Staatsanwaltschaft ermittelte nach dem Medienecho gegen Kliemann. Das Strafverfahren wurde jedoch gegen eine Zahlung von 20.000 Euro eingestellt. Im April 2023 trat Kliemann wieder in die Öffentlichkeit.
Ein ständiges Spannungsfeld
Vermischt sich Verdachtsberichterstattung mit Sensationsjournalismus, kann dies für die Verdächtigten erhebliche Folgen haben. Raffaele Sollecito hat dies am eigenen Leib erfahren. Im Jahr 2007 wird er gemeinsam mit seiner damaligen Freundin Amanda Knox in Italien des Mordes verdächtigt. In seinem Buch „Honour Bound“ beschreibt er, wie er diese Zeit wahrgenommen hat. In einem Gespräch mit uns berichtet er davon, wie Berichterstattungen sein Leben nachhaltig verändert haben.
Wer über einen Verdacht berichtet, bewegt sich in einem ständigen Spannungsfeld. Die Verdachtsberichterstattung ist ein notwendiges Instrument, um Missstände aufzudecken und die Öffentlichkeit über relevante Themen zu informieren. Gleichzeitig birgt sie das Risiko der Vorverurteilung und Rufschädigung der betroffenen Personen. Die Balance zwischen investigativer Neugier und ethischer Verantwortung ist dabei von essenzieller Bedeutung.
Journalistinnen und Journalisten müssen sorgfältig recherchieren, beide Seiten beleuchten und den Pressekodex beachten, um die Integrität ihrer Arbeit zu wahren. Trotz aller Sorgfalt bleibt die Gratwanderung bestehen – zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte. Verdachtsberichterstattung ist somit ein unverzichtbares, jedoch hochsensibles Werkzeug im Arsenal des investigativen Journalismus.
Kristina Wegele-Dippold & Julia Gasser