Der Tod gehört zum Leben dazu. Genauso das Abschied nehmen, die Trauer, der Schmerz. Vor allem sehr nahe stehenden Menschen, etwa Eltern und ihre Kinder, leiden besonders unter Schicksalsschlägen wie einer schweren Krankheit, die unvermeidlich zum Ableben führt. Was zurückbleibt, sind meist nur Fotos und ein paar Erinnerungen. Doch es gibt heute auch ganz andere Möglichkeiten, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Über persönliche Geschichten und Worte für die Ewigkeit.
Was bleibt von mir, wenn ich sterbe? Diese Frage stellen sich viele Menschen im Laufe ihres Lebens. Besonders schwierig sind sie für junge Eltern, die an einer tödlichen Krankheit leiden und von ihren Kindern nicht vergessen werden wollen. Einen Film drehen, einen Avatar mit Hilfe von künstlicher Intelligenz erstellen lassen oder ein Hörbuch aufnehmen – all diese Wege bieten Menschen die Möglichkeit, Teile ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebensgeschichte für die Zukunft zu bewahren.
„Das muss irgendwas Lebendigeres sein“
In einer Seitenstraße der Ulmer Innenstadt, hinter einer mit beigefarbenen Vorhängen abgedunkelten Glasfront, sitzen Sarah Krämer und Klaus Hönig in dem Büro der Krebsberatungsstelle. Krämer ist Ärztin am Universitätsklinikum Ulm und nach verschiedenen medizinischen Stationen schlussendlich im Bereich der Psycho-Onkologie gelandet, also der Unterstützung von Krebspatientinnen und -patienten. Ihr Kollege und mittlerweile guter Freund Klaus Hönig ist Psychotherapeut.
Die beiden verbindet ein besonderes Projekt, das von schweren Schicksalsschlägen und tiefer Trauer begleitet wird. Zustande gekommen ist es durch die prägende Begegnung mit einer an Krebs erkrankten Mutter, die auch nach ihrem Tod nicht vergessen werden wollte.
Krämer telefonierte mit einem Hospiz, erkundigte sich bei den bestehenden Palliativstationen und suchte nach verschiedenen Möglichkeiten, um der Patientin ihren Wunsch zu erfüllen. Schließlich ist die junge Mutter mit ihrem Schicksal nicht allein. Laut dem Universitätsklinikum Ulm erkranken in Deutschland jeden Tag etwa 100 junge Eltern an Krebs. Dennoch wurde schnell klar, dass es in der Umgebung noch keine passenden Angebote gab – und so beschloss Sarah Krämer mit der Hilfe ihres damaligen Chefs Klaus Hönig selbst eine Lösung zu schaffen.
Zunächst dachten die beiden an einen Text, den sich die Kinder nach dem Tod ihres Elternteils durchlesen könnten. Doch von dieser Möglichkeit kamen Krämer und Hönig schnell wieder ab: „Da dachten wir, nein, das muss irgendwas Lebendigeres sein“, erklärt die Ärztin. Und Klaus Hönig ergänzt: „Ich glaube, dir war es ganz wichtig, dass wir irgendeine bleibende Erinnerung für die Kinder schaffen. Vor allem Kinder unterhalb von drei Jahren erinnern meist nicht bewusst die Dinge, die sie wahrgenommen haben.“ Einige Zeit verging, bis Ihnen schließlich die zündende Idee kam: Sie drehen mit den Betroffenen einen Film – den Film ihres Lebens.
Die Ulmer Schatzkiste
Die Krankheit in Zahlen
Im Jahr 2022 verstarben laut der Agency for Research on Cancer weltweit rund 9,74 Millionen Menschen an Krebs. Das ist mehr als die Gesamtbevölkerung Österreichs im Jahr 2023. Risikofaktoren sind neben Alkohol und Tabak auch Belastungen durch die Umwelt, Hormone und bestimmte Inhaltsstoffe in Nahrungsmitteln.
Um den betroffenen Menschen während der Krankheit nicht nur körperlich, sondern auch psychisch zu helfen, greift die sogenannte Psychoonkologie. Laut dem Deutschen Krebsforschungs-zentrum handelt es sich dabei um eine „eigene wissenschaftliche Fachrichtung […], [die] die seelischen Auswirkungen von Krebs auf Betroffene und ihr Umfeld [erforscht] und Möglichkeiten der Unterstützung [entwickelt].“
Motiviert von dem Gedanken, damit nicht nur den an Krebs erkrankten Eltern, sondern auch ihren Familien zu helfen, gewannen Hönig und Krämer eine Vielzahl an Menschen. Mit der Unterstützung von Freunden und Bekannten, Videografen, Psychotherapeuten und vielen Freiwilligen gründeten sie schließlich die Ulmer Schatzkiste. Sie konnten sogar Stylistinnen an ihre Seite holen, die die erkrankten Eltern vor den Drehs noch einmal ganz nach ihren Wünschen frisieren und schminken. „Ich hatte damals überhaupt nicht verstanden, warum wir zuerst bei einem Friseur sitzen. Ich dachte, wir wollen doch eigentlich einen Film machen“, erinnert sich Klaus Hönig und lacht.
Und sie drehten einen Film. Einen Film, in dem die Eltern von ihrer eigenen Kindheit, den Dummheiten ihrer Jugend und dem kribbelnden Gefühl im Bauch erzählen, das sich ausbreitete, als sie die Liebe ihres Lebens zum ersten Mal trafen. Während des Drehs steht eine kleine Schatzkiste neben ihnen. In dieser befindet sich später der fertige Film auf einem USB-Stick in Form einer Flaschenpost. „Hierbei war die Idee, dass wir das Wertvollste, was wir haben, sorgfältig aufbewahren in einer Schatzkiste“, begründet Sarah Krämer die Namensgebung des Projektes.
Bis das finale Konzept stand, alles organisiert war und auch die Corona-Pandemie kein Hindernis mehr darstellte, vergingen jedoch anderthalb Jahre. Im Februar 2022 fand dann der erste Dreh statt. Allerdings ohne die impulsgebende Patientin, welche sich damals mit ihrer Sorge, vergessen zu werden, an Sarah Krämer gewandt hatte.
„Begleiten mich für den Rest meines Lebens“
„Manche Patienten begleiten mich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens…“
Seitdem wurden, unterstützt von Spenden, insgesamt 18 Schatzkisten mit den Geschichten und Erinnerungen verschiedener Menschen gefüllt. Die Schicksale einzelner Personen beschäftigen Sarah Krämer zum Teil heute noch sehr. Da sie ebenfalls Mutter mehrerer Kinder ist, kann sie sich gut in die Situation ihrer Patienten hineinversetzen. „Ja, also die ersten Schatzkästchen, die waren schon sehr besonders. Manche Patienten begleiten mich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens – und das ist aber auch okay. Die haben mich eben auf eine besondere Art und Weise berührt und vielleicht möchte ich sie auch nicht loslassen“, gibt sie zu.
Trotz der immer wiederkehrenden Konfrontation mit dem Tod und dem ständigen Umgang mit trauernden Menschen, bleiben die Ärztin und der Psychotherapeut professionell. Klaus Hönig ist es besonders wichtig, die Verbindung zu den Patientinnen nicht durch die eigenen Emotionen zu gefährden.
Krämer nickt und betont, dass die Mütter und Väter im Mittelpunkt der Ulmer Schatzkiste stehen. Die Betroffenen sollen sich wohlfühlen und den Film ihres Lebens so individuell wie möglich gestalten können. Mit ruhiger Stimme erklärt sie, dass viele Patienten auch persönliche Gegenstände wie Fotoalben oder Kuscheltiere mitbringen, die später Teil ihres Films werden. Auch Rückschläge oder Hindernisse können thematisiert werden. Was hast du bei Liebeskummer gemacht, Mama? Wie bist du mit schwierigen Situationen umgegangen – und wer hat dir dabei geholfen? Die Ulmer Schatzkiste möchte, dass sich die Kinder in einer Lebenskrise an ihre Eltern wenden können, auch wenn diese nicht mehr aktiv am Leben teilhaben.
Eine Schatzkiste gefüllt mit Dankbarkeit
Es gibt allerdings auch klare Regeln, welche Aspekte kein Teil des Films werden sollen. Anweisungen an die Hinterbliebenen oder Vorschriften für das weitere Leben und die berufliche Entwicklung der Kinder werden zum Beispiel nicht filmisch weitergegeben. Im Vordergrund sollen viel mehr die Dinge stehen, die den Charakter des Elternteils und die Liebe zu den Kindern greifbar machen.
Die Arbeit bei der Ulmer Schatzkiste hat auch den Blick auf das eigene Leben von Klaus Hönig und Sarah Krämer beeinflusst. Krämer erzählt, dass sie nun viel gelassener reagiere, wenn eines ihrer Kinder das weiße Sofa mit rotem Saft beschütte oder die Wohnung mal nicht perfekt aufgeräumt sei. „Dankbarkeit. Für den Alltag. Für den gewöhnlichen Alltag“, fasst sie zusammen. Hönig nickt bestätigend und schaut seine Kollegin mit einem Lächeln von der Seite an. Auch er weiß den Alltag mit seiner Familie nun mehr zu schätzen. Schmunzelnd erzählt er von seiner Tochter und wie sie beim gemeinsamen Abendessen nicht mehr aufhören konnte zu lachen.
Für die Zukunft wünscht sich das eingespielte Team, dass die Bekanntheit der Ulmer Schatzkiste weiter wächst. Sie wollen das Projekt auf mehrere Standorte ausdehnen, damit auch Eltern, denen es nicht mehr möglich ist, nach Ulm zu kommen, eine Schatzkiste für ihre Kinder füllen und ihnen eine letzte Nachricht mit auf den Weg geben können.
Das Familienhörbuch
Auch in Köln ist ein Projekt entstanden, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, sterbenskranken Eltern einen letzten Wunsch zu erfüllen und gemeinsam mit ihnen etwas für die Ewigkeit zu schaffen. Das Familienhörbuch nimmt mit Hilfe von professionellen Audiobiografen in ganz Deutschland Hörbücher mit krebskranken Eltern auf. In diesen Hörbüchern erzählen sie ihren Kindern und Lebenspartnern von der gemeinsamen Zeit, von besonders wertvollen Erinnerungen, aber auch von enttäuschenden Rückschlägen.
Im dritten Stock eines Wohnhauskomplexes in der Dortmunder Innenstadt wohnt die 45-jährige Aneta K. Während sie aufgeregt in der Küche verschwindet, um einen Kaffee zuzubereiten, öffnet Jana Magdanz ihre schwarze Tragetasche. Sichtbar werden verschiedene Mikrofone, unzählige Kabel und Kopfhörer. „So, dann muss ich nur noch aufbauen. Frau K. setzt sich da auf die Couch und dann kann es auch schon losgehen“, erklärt die ausgebildete Audiobiografin. Die beiden Frauen haben sich bereits am Vortag getroffen, um sich kennenzulernen und die ersten Kapitel von Anetas Hörbuch aufzunehmen. Insgesamt werden sie sich drei Tage in der Wohnung zusammenfinden – Aneta auf dem graugepolsterten Sofa und Jana auf einem Stuhl ihr gegenüber, vor sich einen Laptop und das Stativ mit dem Mikrofon.
Aneta und Jana bei der Hörbuchaufnahme in Dortmund. Wie sie mit ihrer Diagnose umgeht und welche Auswirkungen diese auf die Beziehung zu ihrem 13-jährigen Sohn hat, seht ihr in diesem Video:
Lisa Brune steht auf der anderen Seite des Projektes. Ihr Mann Sascha verstarb im November 2022 an Darmkrebs. Wenige Tage vor seinem Tod nahm er für sie und ihre drei gemeinsamen Töchter ein Hörbuch auf. Darin beschreibt er unter anderem die Liebe zu seiner Frau, welche Bedeutung die Geburten ihrer Töchter für ihn hatten und wie er selbst die schwere Krankheit wahrgenommen hat.
Wie Saschas Hörbuch klingt, welche Gefühle es bei Lisa auslöst und was der Psychologe Andreas Bürger zu einer solchen Form des Erinnerns sagt, erfahrt ihr in folgendem Podcast:
You, Only Virtual
Eine weitere Möglichkeit des „In-Erinnerung-Bleibens“ bieten verschiedene Unternehmen mit Hilfe von künstlicher Intelligenz. Eines von ihnen ist die amerikanische Firma You, Only Virtual (YOV). Sie war eine der ersten, die eine solche „Trauer-Technologie“ entwickelte und auf dem Markt zur Verfügung stellte. Seit 2020 generiert das Start-up nun mit Hilfe von persönlichen Daten sogenannte „Versonas“, also Avatare von verstorbenen Menschen. Die Angehörigen können dann in einem Chat mit der Person schreiben und sogar Audioaufnahmen erhalten.
Die Erstellung eines Avatars ist „wirklich einfach“, betont Justin Harrison, Gründer und Geschäftsführer von YOV. Es müssen lediglich bereits bestehende Textnachrichten, Anrufe oder Sprachnachrichten der verstorbenen Person hochgeladen werden. Den Rest übernehme anschließend die Technik. Harrison war es außerdem wichtig, dass sich die „Versonas“ weiterentwickeln können. Verschiedene Algorithmen sorgen daher dafür, dass der Avatar auf aktuelle Weltgeschehnisse reagieren kann und immer unterschiedliche Nachrichten verfasst.
Auf der offiziellen Website von YOV heißt es, dass man durch diese Art der Kommunikation auch nach dem physischen Tod weiterhin wertvolle Momente mit einem geliebten Menschen teilen könne. Um diesen Austausch wahrnehmen zu können, müssen die Angehörigen monatlich umgerechnet knapp 19 Euro für das Fortbestehen des Avatars zahlen.
Laut dem Soziologen Matthias Meitzler beschreibt der Begriff „Erinnerungskultur“, wie eine Kultur mit dem Bewahren und Rekonstruieren von Vergangenem umgeht. Dabei kann es sich um bestimmte Ereignisse oder Personen handeln. Eine Erinnerungskultur stiftet Identität. Dabei lassen sich große Unterschiede und ein starker Wandel beobachten.
Und wenn sie schon gestorben sind, dann…
Der Soziologe Matthias Meitzler ist Experte in Bezug auf Sterblichkeit und Gesellschaft. Seit 2011 forscht er zu verschiedenen Erinnerungskulturen, unter anderem auch zu dem Thema Digital Afterlife, dem digitalen Weiterleben nach dem Tod. In Angeboten wie den Chats von You, Only Virtual sieht er mögliche Gefahren, betont aber auch, dass diese Form des Erinnerns durchaus Vorteile für die Angehörigen mit sich bringen kann.
Wir haben mit Justin Harrison und Matthias Meitzler gesprochen. Welche Ansichten die beiden vertreten und wie sie die Zukunft des digitalen Weiterlebens einschätzen, gibt’s in dem folgenden Video zu sehen:
Anders als in den USA ist die Rekonstruktion einer verstorbenen Person mit Hilfe von künstlicher Intelligenz in Deutschland noch nicht verbreitet. Justin Harrison erkennt aber Potenzial, um diese Form der Erinnerungskultur auch auf anderen Kontinenten durchzusetzen. So spielt sein Unternehmen beispielsweise in dem kürzlich erschienenen Dokumentarfilm Enternal You eine bedeutende Rolle und bringt die technische Darstellung verstorbener Menschen somit auch in Deutschland auf die Kinoleinwände.
Zurück bleibt der Stolz
Egal, ob ein Film, ein Hörbuch oder ein durch künstliche Intelligenz generierter Avatar – jeder Mensch erinnert sich individuell an geliebte Angehörige und jede Person möchte anders in Erinnerung bewahrt werden. Zurück bleibt der Stolz, mit dem man auf das eigene Leben, die Abenteuer und auch Rückschläge blickt…
Franziska Schwarz & Carolyn Heilmann