Sie stellt eine durchaus umstrittene Form des Journalismus dar, da sie nicht wenige Gefahren birgt: die Verdachtsberichterstattung. Schon mancher hat sich gefragt: Weshalb berichten Zeitungen, Magazine und Online-Medien über etwas, obwohl darüber noch kein Gerichtsurteil gefällt wurde? Der Vorwurf der Vorverurteilung und des Kampagnen-Journalismus macht hier nicht selten die Runde. Warum die gratwanderische Verdachtsberichterstattung dennoch relevant und in vielen Fällen auch notwendig ist…
Hat Hubert Aiwanger als Schüler ein rechtsextremistisches Flugblatt verfasst? Hat Jérôme Boateng seine Exfreundin geschlagen? Und hat der Rammstein-Frontmann Till Lindemann weibliche Fans sexuell missbraucht? In den vergangenen Monaten waren Fragen wie diese immer wieder Thema in der Öffentlichkeit. Die Berichte beruhen nicht auf den Ergebnissen von abgeschlossenen Gerichtsverfahren. Sie sind das Resultat investigativer Recherchen von Journalistinnen und Journalisten.
Die Akte Kasia Lenhardt
Am 9. Februar 2021 wird eine junge Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Kasia Lenhardt, bekannt aus der TV-Show „Germany‘s next Topmodel“, stirbt mit 25 Jahren. Die Polizei spricht von Suizid. Ihr Tod löst ein Medienecho aus, denn Lenhardt trennte sich kurz zuvor von Fußballprofi Jérôme Boateng. 15 Monate waren die beiden ein Paar. Bereits während der Partnerschaft kursierten Berichte über toxische Beziehungsstrukturen, weil Boateng gewalttätig gegenüber Lenhardt geworden sein soll.
Der Podcast des SPIEGELs “NDA: Die Akte Kasia Lenhardt”, veröffentlicht im März 2024, beleuchtet die Vorwürfe der möglichen Partnerschaftsgewalt. Zum Zeitpunkt der Recherche und Aufnahme des Podcasts laufen mehrere Strafverfahren wegen Körperverletzung gegen Boateng. Ein rechtskräftiges Urteil gibt es noch nicht.
Die journalistische Methode solcher Geschichten ist die sogenannte Verdachtsberichterstattung.
Wir wollen mehr darüber erfahren, warum Medien das Recht haben, über Vorwürfe zu berichten, die sich im Nachhinein auch als falsch herausstellen könnten. Die Frage, die sich dabei stellt:
Was rechtfertigt eine Verdachtsberichterstattung?
Journalistinnen und Journalisten spielen in unserer Gesellschaft eine sehr wichtige Rolle. Mit ihrer Berichterstattung tragen sie zur Informationsvermittlung für die Bürgerinnen und Bürger bei – und klären über relevante und aktuelle Themen auf. Zudem hat der Journalismus die Aufgaben der Kontrolle und Kritik des Staates. Journalisten decken Missstände auf, um eine öffentliche Debatte über gesellschaftlich relevante Themen zu ermöglichen. Auf dieser Grundlage soll sich die Bevölkerung eine eigene Meinung bilden und am demokratischen Diskurs teilnehmen können. Besonders der investigative Journalismus beleuchtet vor allem komplexe und heikle Fälle. Themen wie Korruption, Machtmissbrauch oder Verbrechen stehen im Fokus.
In Berlin, mitten im belebten Neukölln, treffen wir Gabriela Keller. Sie ist Journalistin und arbeitet für Correctiv. Die Redaktion verpflichtet sich dazu, gemeinwohlorientiert zu arbeiten und sich für die Stärkung der Demokratie einzusetzen. Das gelingt ihnen durch hochwertigen investigativen Journalismus.
“Publix” lautet der Name der neuen Büroräume, in welche die Redaktion erst kurz zuvor umgezogen ist. Eine Berichterstattung, an der Gabriela Keller mitgearbeitet hat, schlug Anfang des Jahres besonders hohe Wellen ─ die Recherche zu einem Treffen in Potsdam, bei dem hochrangige AfD-Politikerinnen und -Politiker mit Rechtsextremen die massenhafte Ausweisung von Personen geplant haben sollen. In den Wochen darauf versammelten sich in ganz Deutschland mehr als 1,5 Millionen Menschen auf den Straßen, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren.
„Die klassische Recherche ist heikel und aufwändig“
Gabriela Keller wirkt gehetzt, denn sie muss eigentlich zurück an den Schreibtisch. Dennoch nimmt sie sich eine Stunde Zeit, um die Grundlagen der Verdachtsberichterstattung zu erklären. Dabei betont sie die Relevanz ihrer Arbeit. Der Journalismus, als „vierte Gewalt“, muss für die Öffentlichkeit relevantes Fehlverhalten enthüllen – unabhängig von gerichtlichen Urteilen. „Wir können nicht nur Missstände aufdecken, zu denen uns ein Urteil vorliegt“, bekräftigt Keller. „Die Judikative und der Journalismus sind zwei eigenständige Säulen der Demokratie mit unterschiedlichen Aufgaben. Journalisten arbeiten im Auftrag der Öffentlichkeit und leisten Aufklärungsarbeit. Sie überprüfen und hinterfragen den Staat und seine Institutionen und kontrollieren damit auch die Justiz. Unsere Arbeit kann Verfahren begleiten und ergänzen, aber auch zuvorkommen oder initiieren.“
Für die Investigativjournalistin machen Verdachts-Berichterstattungen 90 Prozent ihrer Arbeit aus. „Es ist kein eigenes Genre, sondern vielmehr eine Technik, um über einen Vorwurf zu berichten, zu dem es noch keine gerichtliche Verurteilung gibt.“ Voraussetzung für solche Berichterstattungen sind ausreichende Anhaltspunkte und ein erhebliches öffentliches Interesse. In der Vorrecherche wird in Absprache mit der Chefredaktion abgewogen, ob das öffentliche Interesse groß genug ist. Ist dies der Fall, beginnt die eigentliche Recherche, andernfalls brechen die Journalisten das Projekt ab. Bei besonders heiklen Fällen zieht die Redaktion rechtlichen Beistand hinzu, erläutert sie.
Jede Verdachtsberichterstattung ist juristisch riskant. Dieses Risiko ist jedoch nicht immer gleich hoch: „Bei Lobby-Berichterstattungen oder Vorwürfen gegen Politiker gibt es meist viele offizielle Dokumente, anhand derer wir unseren Verdacht darlegen können“, berichtet sie. Die klassische Recherche ist heikel und aufwändig. Gabriela Keller kennt das vor allem aus dem Bereich von dubiosen Immobiliengeschäften und Geldwäsche, womit sie sich früher viel beschäftigt hat. „Das ist ein relativ harter Bereich, weil diese Leute extrem klagefreudig sind. Das muss man wollen und sich leisten können.“
Die Bedeutung einer ausgewogenen Darstellung
Ein Fall prägte Keller besonders – der, zu einer Berliner Immobilie, die über Jahre hinweg immer wieder verkauft worden war. Letztlich deckte die Recherche auf, wer mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter dem Deal gesteckt haben könnte – der Fall hatte mit mutmaßlicher Geldwäsche und Sanktionsumgehung zu tun. Nennen darf man die Ergebnisse der Recherche aber nicht mehr. „Über sechs Monate haben wir zahlreiche Dokumente analysiert, um die Mosaikteile zu einem Bild zusammenfügen zu können.“ Der Käufer klagte und es kam zu einem Gerichtsverfahren. Für Keller war dieser Prozess besonders lehrreich. „Schlussendlich hatten wir tatsächlich so viele Hinweise, dass es zu unserem Nachteil gereicht hat. Den Richtern zufolge sei es unter diesen Umständen für den Leser unmöglich, zu dem Schluss zu kommen, dass dieser Verdacht vielleicht gar nicht stimmt.“
Das Ziel einer gelungenen Verdachtsberichterstattung ist eine ergebnisoffene Darstellung der Gegebenheiten. Leserinnen und Leser müssen die Möglichkeit haben, sich selbst eine Meinung zu bilden und die Vorwürfe eigenständig einzuschätzen, betont Gabriela Keller. Eine einseitige Berichterstattung entspricht nicht dem journalistischen Selbstverständnis. Zusätzlich ist sie rechtlich unzulässig. Im Fall des Verdachts der mutmaßlichen Hintermänner des Immobiliendeals mussten die veröffentlichten Beiträge am Ende gesperrt werden. „Das war für mich ein sehr lehrreiches, aber auch typisches und besonders bitteres Beispiel, weil eine so tolle Recherche beerdigt wurde“, erklärt Keller.
Diese Erfahrung habe ihr die Bedeutung einer ausgewogenen Darstellung bewusst gemacht. „Bei der Verdachtsberichterstattung müssen wir durchgängig beide Seiten aufzeigen“, beschreibt die Journalistin. „Vielen Journalisten erscheint das nicht intuitiv. Sie möchten natürlich ihre Punkte hervorbringen und diese besonders deutlich beschreiben. Das ist sehr riskant.“
Insbesondere in der Verdachtsberichterstattung sei es essenziell, die verdächtigte Partei zu Wort kommen zu lassen. “Es gilt der Grundsatz, dass die besten Argumente der anderen Seite berücksichtigt werden müssen”, betont Keller. Häufig würde dieser Grundsatz jedoch von der Gegenseite als Taktik missbraucht, um die Journalistinnen und Journalisten von weiteren Recherchen abzuhalten. “Gerade große Immobilienfirmen überhäufen einen mit sehr langen Dokumenten in der Hoffnung, dass durch den hohen Arbeitsaufwand die Recherchen eingestellt werden.“
Recherchieren, um zu belegen
Gabriela Keller hat in ihren Jahren als Journalistin viel Erfahrung gesammelt und erklärt, worauf sie bei ihrer Arbeit achten muss. Der Job des Recherchierenden ist es, so viele Belege für den Vorwurf zu finden, wie möglich. Es gibt jedoch keine vorgefertigten Richtlinien, welche oder wie viele Beweise es braucht, um einen Verdacht so weit zu bestätigen, dass sie ihn veröffentlichen darf. Diese Einschätzung beruhe auf den Erfahrungswerten der Redakteurinnen und Redakteure. Die Untersuchung einer Vermutung kann sehr mühsam sein. Da nicht klar ist, wann die Menge der Belege ausreicht, kann es schwierig sein, die Nachforschungen abzuschließen. Aber Journalistinnen und Journalisten sind der Sorgfalt verpflichtet.
Richtlinien der journalistischen Arbeit
“Es ist wichtig, dass wir zwischen der journalistischen und der juristischen Verantwortung unterscheiden“, erklärt Keller. „Stellen Sie sich vor: 15 Frauen kommen zu mir und beschuldigen einen prominenten Mann der sexuellen Belästigung. In den Gesprächen mit diesen Frauen stufe ich jede Einzelne als glaubwürdig ein und kann ausschließen, dass sie sich untereinander abgesprochen haben. Für mich als Journalistin wäre dies eine starke Grundlage für eine Berichterstattung.“
Juristisch sieht diese Situation jedoch anders aus. Vor allem, wenn keine der 15 Frauen vor Gericht aussagen will. Häufig haben Opfer von sexuellen Übergriffen Angst vor den Konsequenzen eines Prozesses. „Auch wenn ich als Journalistin sorgfältig gearbeitet habe und den Quellen vertraue, wäre ich im ungünstigsten Fall vor Gericht die einzige Person, die versichern kann, dass die Gespräche stattgefunden haben“, sagt Keller. Ihre eigene eidesstattliche Erklärung wäre juristisch eine sehr schwache Grundlage und könnte das Ende der Berichterstattung bedeuten. Aus diesem Grund ist es wichtig, vielseitig zu recherchieren. Dokumente wie ärztliche Atteste, Transkripte aus Therapien oder Nachrichten der beschuldigten Person können die Glaubwürdigkeit der Vorwürfe erheblich stärken. „Je mehr ich habe, desto besser.“
Schlussendlich müssen die Richterinnen und Richter bei jedem Einzelfall entscheiden, was stärker wiegt: Der Schutz der Persönlichkeitsrechte der beschuldigten Person oder eine Veröffentlichung zur Information der Öffentlichkeit über Missstände.
„… desto mehr betonharte Belege brauche ich“
Das Abwägen der Relevanz der Berichterstattung ist nicht immer einfach und benötigt viel Erfahrung, meint Keller. Insbesondere schwerwiegende und vernichtende Vorwürfe wie sexualisierte Gewalt oder Kindesmissbrauch sind mit großer Vorsicht anzugehen. „Je härter der Vorwurf, desto mehr betonharte Belege brauche ich“, sagt Keller. Denn wenn sich Personen von den Recherchen in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlen, haben sie die Möglichkeit, gerichtlich gegen Journalisten und ihre Arbeit vorzugehen.
Rechtsanwältin Jessica Flint über die rechtlichen Rahmenbedingungen für Journalistinnen und Journalisten, die einem Verdacht nachgehen:
Der richtige Umgang mit Informantinnen und Informanten
Um an Informationen zu gelangen, müssen Journalisten mit Beteiligten sprechen. Sie wollen Details von ihren Informanten erfahren, die aussagekräftig genug sind, um den Verdacht zu erhärten. Dafür ist ein gewisses Maß an Vertrauen unerlässlich. Trotzdem wahrt die journalistische Seite immer eine gewisse Distanz. „Ein Journalist ist kein Pressesprecher“, betont Gabriela Keller. Auch bei sensiblen Themen wie Vorwürfen zu sexueller oder häuslicher Gewalt müssen sie unvoreingenommen berichten. Gerade bei solchen Fällen verbringen Journalisten und Informanten viel Zeit miteinander.
Vermeintliche Opfer müssen bereit sein, detailliert über ihre Erfahrungen zu berichten. Besonders die unangenehmen und belastenden Erfahrungsberichte sind nötig, um die Vorwürfe für eine Verdachtsberichterstattung zu rechtfertigen. “Die Zusammenarbeit ist meist sehr spannungsgeladen. Daher muss ein gewisses Vertrauen von beiden Seiten bestehen”, betont die Journalistin. Darüber hinaus braucht es viel Einfühlungsvermögen und Zeit, bis die Betroffenen bereit sind, über die eigenen Erfahrungen zu sprechen. Keller hebt hervor, dass Journalisten und Informanten von Beginn an klare Absprachen treffen müssen. „Ich muss der Informantin deutlich machen, dass ich ihr glaube. Sonst wäre ich nicht hier. Aber ich muss auch sagen, dass ich als Journalistin dazu verpflichtet bin, ihre Aussagen zu prüfen und auch die Gegenseite anzuhören.“
Gabriela Keller erklärt, wie wichtig es ist, dass die Informanten ihre Herangehensweise verstehen. Ein Fall hat ihr das besonders bewusst gemacht: „Damals hat sich die Person eine andere Darstellung ihrer Geschichte gewünscht, als es die vorliegenden Informationen zugelassen haben. Aus Angst einen Konflikt zu provozieren und meine Quelle zu verlieren, habe ich meinen Standpunkt zu diplomatisch vermittelt und keine klaren Grenzen kommuniziert“, erinnert sie sich. Nach der Veröffentlichung sei die Informantin erschüttert gewesen. „Die Berichterstattung war ausgewogen und weder die Informantin noch das Opfer wurden schlecht dargestellt. Trotzdem hatte die Person andere Erwartungen gehabt und fühlte sich in ihrem Vertrauen missbraucht.“ Heute weiß Gabriela Keller, wie essenziell klare Absprachen sind…
Kristina Wegele-Dippold & Julia Gasser
Im zweiten Teil berichtet Investigativ-Journalist und Dozent Thomas Schuler vom Ingolstädter „Bürgerkonzern“-Fall sowie über Strategie und Sorgfalt bei den Recherchen. Zudem geht’s um den Fall Hubert Aiwanger, Fynn Kliemann und die Sache mit dem Rufmord…