Bayerischer Wald. Die Maß Bier spielt gerade zur Volksfestzeit nicht nur eine Nebenrolle, sondern zumeist die Hauptrolle in den Festzelten. Ein abendliches Glas Wein nach getaner Arbeit gehört in vielen Haushalten zum Standard. Laut Gesundheitsreport konsumieren in Bayern 1,1 Mio. Menschen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren Alkohol in einer Menge, die medizinisch nicht mehr als risikoarm gilt, ca. 270.000 sind als abhängig einzustufen. Viele bewegen sich zwischen Alltag und Abhängigkeit.
Josef (Name von der Redaktion geändert) sitzt in einer Mostschänke. Von Zeit zu Zeit wandern seine Hände zum vor ihm stehenden Glaskrug, um einen kräftigen Schluck Apfelmost zu trinken. Josef ist 21 Jahre alt, studiert in Passau Grundschullehramt und kommt – wie er selbst sagt – „aus dem tiefsten Bayerischen Wald“. Dort, im ländlichen Bayern, hat er seit seiner Jugend viele Erfahrungen und Erinnerungen mit Alkohol gesammelt. Dementsprechend weiß er, wie Menschen dort trinken und welches Verhältnis sie zu Alkohol haben.
„Für mich ist Bier Teil der bayerischen Kultur“
Er erzählt aus seinem Leben: „So richtig losgegangen ist es mit 13 oder 14 Jahren, da haben wir angefangen, uns öfter mal zu betrinken.“ Das war aber nicht nur bei Josefs damaliger Freundesgruppe der Fall, sondern auch bei vielen anderen Jugendlichen in seinem Heimatort. Auch im Zusammenhang mit Arbeit spielt Alkohol zuhause bei ihm eine große Rolle: „Wenn es etwas zu tun gibt, gibt es ein Bier dazu.“
Während der Oberstufe hat Josef bei wöchentlichen Besuchen in der örtlichen Dorfdisko angefangen, mehr Alkohol zu konsumieren. Er schätzt, dass er damals etwa drei Flaschen Wein pro Woche getrunken hat. Zu Beginn seiner Studienzeit ist sein Alkoholkonsum zunächst auf einem hohen Niveau geblieben, berichtet er. Mittlerweile trinke er aber wieder weniger: „Am Anfang hatte ich eigentlich immer einen Kasten Bier in der WG stehen, jetzt habe ich wahrscheinlich schon seit drei Wochen keinen mehr.“
Trotzdem merkt Josef an: „Das ein oder andere kleine Missgeschick hatte ich im Zusammenhang mit Alkohol schon“. Beispielsweise als er sich nachts einmal auf dem Nachhauseweg aus einem Nachtclub in Passau an einem Baum am Ufer des Inns erleichtern wollte. Im Rausch ist er aber am Baum vorbei gelaufen und fiel in den Fluss. Zum Glück war der Inn an dieser Stelle recht flach, so dass er lediglich bis zu den Knien im Wasser stand und seine untere Körperhälfte voller Schlamm war. Er kam noch einmal glimpflich davon, der Abend hätte aber auch weitaus schlimmer enden können…
Im Laufe seines Lebens ist Alkohol zu einem Alltagsbegleiter für ihn geworden. „Für mich ist Bier Teil der bayerischen Kultur“, sagt Josef. „Mir schmeckt es auch einfach gut.“ Manchmal trinke er aber auch, um stressige Momente zu überstehen: „Ich habe Prüfungsangst und trinke deshalb ab und zu vor einer Klausur mal ein Bier – und das funktioniert relativ gut.“
„Zwischen schwarz und weiß gibt es alle möglichen Graustufen“
Genau so ein Verhalten kann laut Psychologe Thomas Pölsterl von der Suchtberatungsstelle Prop e.V. in Erding der Anfang eines Alkoholproblems sein, da in solchen Momenten aus einem „Spaßtrinken“ ein „Entlastungstrinken“ wird. Auch andere Trinkgewohnheiten können erste Hinweise auf Suchtverhalten liefern. Dabei sind laut Pölsterl zwei Verhaltensweisen besonders auffällig: Betroffene trinken zunehmend zu unpassenden Gelegenheiten, teilweise auch heimlich. Außerdem ordnen sie andere Aspekte ihres Lebens dem Alkoholkonsum unter, beispielsweise indem sie ihre Freizeit nach Trinkgelegenheiten ausrichten.
Alkoholabhängige selbst können sich ihr Problem lange nicht eingestehen, weiß Pölsterl: „Es sind nicht selten die Angehörigen, die zuerst zu uns in die Beratung kommen. Wenn Angehörige den Instinkt haben, dass da irgendetwas nicht stimmt, dann liegen sie damit eigentlich so gut wie immer richtig“. Und der Psychologe ergänzt: „Zwischen ‚Alkoholiker‘ = schwarz und ‚Kein Problem mit Alkohol‘ = weiß gibt es alle möglichen Graustufen. Viele der Menschen, die mich fragen, ob sie selbst alkoholabhängig sind, befinden sich eher im dunkelgrauen Bereich der Skala.“
Diagnosekriterien der Alkoholabhängigkeit:
Die Weltgesundheitsorganisation WHO versteht unter einer Alkoholabhängigkeit in der zehnten Ausgabe ihrer „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (kurz: ICD-10) folgendes: Drei der nachfolgenden sechs Kriterien müssen für eine Diagnose erfüllt sein:
- Es besteht ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren.
- Es besteht eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums.
- Es tritt ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums auf.
- Es kann eine Toleranz nachgewiesen werden, das heißt, es sind zunehmend höhere Dosen erforderlich, um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen.
- Andere Vergnügungen oder Interessen werden zugunsten des Substanzkonsums zunehmend vernachlässigt.
- Der Alkoholkonsum wird trotz nachweisbarer eindeutiger schädlicher Folgen körperlicher oder psychischer Art fortgesetzt.
Um ein „Entlastungstrinken“ – also ein Trinken, um Stress abzubauen – geht es für Josef nur in Ausnahmefällen. Meist stehen für ihn andere Aspekte im Mittelpunkt, wenn er trinkt, wie zum Beispiel die gesellige Atmosphäre, die Alkohol schaffen kann. Mit seinen Mitbewohnern geht er gerne in eine Spielebar. Dort trinkt er meistens zwei oder drei Halbe Bier an einem Abend. Seit ein paar Wochen arbeitet Josef nun auch in dieser Kneipe und hat großen Spaß an seiner neuen Aufgabe: „Das Coole an meinem Chef ist, dass ich auch während der Schicht etwas trinken darf, solange ich noch funktioniere.“
Bereits in der Kindheit allgegenwärtig
Ähnlich hat es auch bei Gabi Salzberger angefangen. Heute ist sie trockene Alkoholikerin. Die mittlerweile 59-Jährige kellnerte in ihren Zwanzigern ebenfalls in ihrer Lieblingskneipe. Zu Beginn war sie dort wegen der guten Stimmung. Doch mit der Zeit rückte der Alkohol immer mehr ins Zentrum ihres Lebens. Die Arbeit in der Kneipe war jedoch nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, denn: Gabis Weg in die Sucht begann weitaus früher. Sie stammt aus einer suchtbelasteten Familie. Auch ihr Vater und Großvater hatten ein Alkoholproblem – und so war insbesondere Bier schon in ihrer Kindheit allgegenwärtig.
Den Beginn ihres Lebens beschreibt sie im Nachhinein dennoch als schön. Aufgewachsen ist sie mit ihren Geschwistern auf einem Bauernhof in der Nähe von Eichendorf in Niederbayern. Im Laufe ihrer Kindheit und Jugend sind viele Menschen in ihrem Bekannten- und Familienkreis gestorben. Über diese Trauer wurde zuhause nie gesprochen. „Die Bedürfnisse von mir und meinen Geschwistern sind diesbezüglich immer hinten angestellt worden“, erzählt sie. Und so lernte sie nie mit diesem Gefühl umzugehen. In späteren Jahren findet sie einen anderen Weg, um diese Gefühle zu verdrängen: den Alkohol. Schon als sie ihren ersten Rausch hat, verspürt die damals 17-Jährige diese, wie sie sagt, „grandiose Wirkung: Auf einmal ist der schreckliche Schmerz in meinem Inneren betäubt“.
Kurz bevor sie in der besagten Kneipe zu arbeiten beginnt, kommt ihr guter Freund Ernst ums Leben. Er verstirbt nach einem Abend mit Gabi bei einem Autounfall, als er allein nach Hause fährt. Ihr selbst kommt keine Schuld zu – und doch wird sie sich noch Jahre später die Schuld dafür geben. Wenn sie von diesem Abend berichtet, hat sie noch heute Tränen in den Augen: „Und bei mir war nur das Gefühl da: Schon wieder stirbt jemand.“
Der Weg in die Sucht ist meistens ein langsamer, doch nach Ernsts Tod ging es bei Gabi sehr schnell. In der Kneipe, in der sie arbeitete, wurde immer viel getrunken und für die Angestellten waren die Getränke kostenlos. Deshalb hat sie dort angefangen, Bacardi-Orange zu trinken – und wieder spürte sie diese Wirkung: „Wie schnell geht das, dass ich an all das nicht mehr denke.“ Den Orangensaft hat sie nach kurzer Zeit weggelassen und ist umgestiegen – auf Jim Beam pur. Nach nur einem Jahr hat sie bei einer Schicht eine ganze Flasche Jim Beam getrunken und konnte danach noch Auto fahren. Acht Jahre lang sollte es bei Gabi so weitergehen…
Laut Statistik: Bierkonsum in Deutschland rückläufig
Manchmal ist Gabi betrunken aggressiv geworden. Das passierte zum Beispiel dann, wenn ihr jemand den Autoschlüssel abnehmen wollte – dann flog im Streit ab und zu das ein oder andere Glas. Allgemein geht Alkoholkonsum oft mit Aggressivität einher, was sich auch in der polizeilichen Kriminalstatistik widerspiegelt. Laut dem Bundesministerium für Gesundheit stehen in Deutschland etwa 26 Prozent aller Gewaltverbrechen in Zusammenhang mit Alkohol. So werden zum Beispiel 18 Prozent aller Morde und 33 Prozent aller Fälle von Totschlag unter Alkoholeinfluss begangen, wodurch in Deutschland jährlich etwa 750 Menschen sterben.
Da Gabi zusätzlich zu ihrem Job als Kellnerin eine weitere Arbeit wahrnahm, ist es schon mal vorgekommen, dass sie direkt von der Kneipe zur Firma fuhr und danach wieder ins Lokal zum Bedienen. Trotzdem bemerkte ihren zu hohen Konsum in den ersten Jahren niemand. Auch wenn sie während der Arbeit manchmal eingeschlafen ist und geschwitzt und gezittert hat – die typischen körperlichen Symptome eines Alkoholentzugs. Weil sie sich aber nie Urlaub genommen hat, nie krank gewesen ist und nie unentschuldigt gefehlt hat, sprach sie ihr damaliger Chef nie auf ihr Problem an. Sie hat noch zu gut funktioniert. „Es waren aber auch andere Zeiten,“ erinnert sich Gabi, „viele hatten damals einen ähnlichen Konsum.“
Tatsächlich ist der Bierkonsum in Deutschland seit Jahrzehnten statistisch betrachtet stark rückläufig. Lag der Jahresverbrauch pro Kopf im Jahr 1980 noch bei 146 Litern, betrug er im Jahr 2023 nur noch 88 Liter. Laut Bayerischem Brauerbund ist dieser Rückgang in Bayern bei weitem weniger stark ausgeprägt als im Rest Deutschlands: Hier liegt der Jahresverbrauch pro Kopf noch immer bei etwa 120 Litern.
Mehr als 40 Prozent aller Brauereien in Bayern
Auch im regionalen Marketing werden Bier und die Brauerei-Tradition aufgegriffen und zu Imagezwecken genutzt. So bezeichnet sich beispielsweise der Untere Bayerische Wald im Dreiländereck Bayern-Österreich-Böhmen selbst als „Bierkulturregion“. Die räumliche Verteilung der Brauereien in Deutschland scheint diese Selbstvermarktung zu bestätigen: Daten des Deutschen Brauer-Bundes und des Vereins Privater Brauereien Bayern zufolge gab es im Jahr 2023 in Deutschland 1.492 Brauereien. Davon befanden sich 622 im Bundesland Bayern, was einem Anteil von über 40 Prozent entspricht – und das, obwohl der Freistaat nur etwa 15 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmacht.
Florian Fink & Franziska Schröppl
Im zweiten Teil unserer Reportage über „Alkohol in Bayern“ erzählt der Passauer Lehramtsstudent Max von seinem Umgang mit Alkohol, wird die Frage „Wie, wann und warum entsteht eine Abhängigkeit?“ beleuchtet und werden Wege aus der Sucht aufgezeigt.