Hohenau. Landwirtschaftliche Flächen sind begehrt – auch im Bayerischen Wald. Das war vor mehr als 250 Jahren nicht anders als heute. Grund und Boden stellten für die Bauern der Dörfer Schönbrunnerhäuser, Kirchl und Schönbrunn am Lusen – heute allesamt Ortsteile der Gemeinde Hohenau – schon im 18. Jahrhundert wertvolle Ressourcen dar.
Zudem waren die Böden karg und die Vegetationsperioden kurz. Ackerbau gestaltete sich schwierig, jeder halbwegs brauchbare Quadratmeter Boden wurde genutzt, um Kartoffeln, Kraut, Rüben, Lein, Hafer und im Idealfall auch robustes Getreide anzubauen. Doch wie stand es mit der Weidetierhaltung? Die den Höfen zugeteilten Grundflächen reichten nicht aus.
Um Streit zwischen Bauern, aber auch mit den Glashüttenherren zu vermeiden, wurde der „Bluombesuch“ – also das Weiderecht, von den Herren über das Land, den Passauer Bischöfen – in einem genau ausgetüftelten System reglementiert. Es entstand eine Art Almwirtschaft, bei der die Tiere der Bauern ein häufig ziemlich weit von den Höfen entferntes Areal beweiden durften – wobei die Geistlichkeit dank der zu entrichtenden Abgaben auch nicht zu kurz kam.
„Glücksfall“ Fritz Denk
Für die Heimatgeschichtsschreibung ist es ein Glücksfall, dass sich der Hobbyhistoriker Fritz Denk aus Schönbrunnerhäuser mit den Weiderechten seines Dorfes auseinandersetzte. Grundlage der dortigen Weiderechte war der Erbrechtsbrief vom 9. Dezember 1737, in dem der Passauer Fürstbischof Joseph Dominikus Lamberg (1680-1761) den Bauern „zu einer stetten Erbschaft ewig vererbt“ – also generationenübergreifend – das freie Weiderecht in einem ihnen zugeteilten Gebiet gewährte.
Der Brief gab den Bauern das Recht, ihr „bei ihren Häuseln zu haltendes Hornvieh in die anliegenden hochfürstlichen Waldungen zu treiben“ – verbunden mit der Pflicht, pro Stück Weidevieh jeweils vier Kreuzer an den Pfleger zu Wolfstein zu entrichten.
Aus weiteren Quellen werden zusätzliche Regelungen ersichtlich: Das Recht der freien Weide bezog sich auf den Zeitraum vom 15. Juni bis 10. Oktober. Jedes Dorf bekam einen ziemlich exakt definierten Bereich zugewiesen. Für Schönbrunnerhäuser war dies das Gebiet südlich des Steinberg und des Felswandergebiets, in Richtung heutiges Jugendwaldheim.
Wirtschaftliche Bedeutung der Weiderechte
Das Areal, das die Siedlung Kirchl zugeteilt bekam, erstreckte sich um und auf dem in Nachbarschaft zum Lusen gelegenen Steinfleckberg und erinnert noch heute mit der Flurbezeichnung Kirchlinger Stand an dieses Weidegebiet, wobei der Begriff „Stand“ so viel bedeutet wie „hochgelegene Weidefläche“. In den nördlicher gelegenen Teilen des Bayerischen Waldes werden sie als Schachten bezeichnet.
Ursprünglich hatten in Schönbrunnerhäuser 15 Anwesen das Weiderecht inne. Die Zahl der von den einzelnen Höfen entsandten Tiere schwankte zwischen vier und 18 – insgesamt eine Herdengröße von bis zu 116 Tieren. Dabei wurden Ochsen und Kühe getrennt aufgeschlüsselt, wie Fritz Denk bei seinen umfangreichen Nachforschungen herausfand.
Das vererbte Weiderecht bedeutete für die Bauern ein Statussymbol, brachte aber auch ganz konkrete wirtschaftliche Vorteile mit sich: Vom Ackerbau mit den gerade in höheren Lagen oft sehr kargen Böden und demzufolge spärlichen Erträgen konnten die Bauern die langen Winter ohne Zusatzeinkünfte nicht überstehen. Umso begehrter waren deshalb die im Grenzgebirge versteckten Inseln offener Graslandschaften. Zwar wuchs das Gras auch dort eher spärlich, aber dafür war es aromatisch, artenreich, nahrhaft und gesund. Die Ochsen und Kühe wussten das zu schätzen.
Durch die Weidehaltung sparten sich die Bauern die wesentlich kostenintensivere Stallhaltung. Und man musste sich den Sommer über nicht um die Tiere kümmern. Bei den Weidetieren handelte es sich nicht um Milchkühe. Vielmehr sollten die Vierbeiner sich zu kräftigen Zugtieren entwickeln. Zugleich dienten sie als wertvolle Fleischlieferanten, die beim Verkauf gutes Geld brachten. Je nach Anzahl der Tiere graste auf der Waldweide ein für den Bauern beachtliches Kapital. Und das, obwohl Gerichtsakten belegen, dass die Abgabe pro Weidekuh von vier Kreuzern auf zwölf Kreuzer im Jahr 1847 anstieg.
Riten für den überirdischen Beistand
Um die Aufgabe, die Herden zu den zugeschriebenen Weiden zu bringen und dort zu beaufsichtigen, kümmerte sich ein Hirte, der meist der Dorfgemeinschaft entstammte. So konnte er sich vorab mit den Tieren vertraut machen, die in seine Obhut gegeben wurden. Unterstützt wurde er von einem „Zuhirten“, einem Gehilfen. Obwohl die Hirten häufig noch sehr jung waren, lastete auf ihnen eine große Verantwortung. Etwa 250 Jahre lang trieben sie aus den Dörfern rund um Hohenau die Herden auf die ihnen zugeordneten Weideflächen.
Im Jahr 1953 endete diese Tradition mit Helmut Schmid, der mit seinem Zuhirten Richard Eller zum letzten Mal mit der Kirchler Herde zum Kirchlinger Stand am Steinfleckberg zog. In seinem Buch „Wald.Weide.Zeit“ schildert Rigobert Prasch anschaulich die Erlebnisse dieses letzten Waldhirten.
Meist brachen die Hirten mit ihren Herden am 24. Juni auf, dem Tag Johannes des Täufers („Johannistag“). Allerdings hatte der Dorfsprecher vorher zu erkunden, ob die hoch gelegenen Weideflächen tatsächlich schon von Eis und Schnee befreit waren. War dies der Fall, konnte es losgehen. Viele Risiken warteten. Da schien überirdischer Beistand vonnöten. Die Dörfler vertrauten auf jahrhundertealte Riten, von denen sie sich Schutz erhofften.
Zusammenhang zum Wolfsaustreiben
Da kam zum Beispiel die „Girt“, also eine Gerte zum Einsatz, mit der man den Tieren sanfte, symbolisch zu verstehende Rutenstreiche verabreichte. Die in der „Girt“ verarbeiteten Grünpflanzen, ein Ausdruck von Lebenskraft, sollten die Tiere vor Krankheiten und Dämonen schützen. Nach der erfolgreichen Weidezeit übergaben die Hirten die Girt dann wieder den Bauern und bekamen ihren Jahreslohn ausbezahlt. Wie Rigobert Prasch nachweist, bestanden auch Zusammenhänge zwischen den Weidepraktiken und althergebrachten Bräuchen wie dem Wolfaustreiben.
Beim Auftrieb machten die glockenbehängten Vierbeiner einen ordentlichen Lärm. Es war nicht leicht, die übermütigen Jungtiere und die Rivalenkämpfe der älteren Rinder einzubremsen. Das erste Zwischenziel des Auftriebs der Kirchlinger Herde war der Tummelplatz, ein Hochplateau am Fuße des Lusen. Auf diesem Sammelplatz konnten sich die Tiere noch einmal austoben, bevor sie zu Herdenverbänden zusammengetrieben wurden. Damit eine Zuordnung möglich war, hatte man die Tiere zuvor mit Brandzeichen versehen.
Freud und Leid der Hirten
Der Kirchlinger Stand befand sich weit entfernt vom Dorf Kirchl. Tier und Mensch mussten bis zu ihrer Waldweide ungefähr 15 Kilometer zurücklegen – und eine Menge an Höhenmetern, um den Steinfleckberg mit einer Höhe von über 1.300 Metern zu erklimmen. Das zugewiesene Gebiet wurde durch Strohbänder abgegrenzt. Auf dem Kirchlinger Stand befanden sich ein Lagerplatz für das Vieh und eine feste Hütte für die Hirten.
Eine „Louddeck“, eine Rindenplattendecke, schützte die Hütte bei heftigen Regengüssen. Das Essen der Hirten war einfach, aber nahrhaft. Die Eigentümer der Rinder hatten pro Stück Vieh einen halben Laib Schwarzbrot, ein halbes Pfund Fleisch, ein halbes Pfund Schmalz und drei Eier zu liefern. Warmes Essen kochten die Hirten in der Hütte morgens und abends. Die typischen Gerichte waren Grieß-, Mehl- und Brotsuppe, Sterz und ab und zu geröstete Schwammerl.
Die Hirten erlebten viel Positives: Das Einswerden mit der Natur, den innigen Bezug zu den Tieren, die Stille in dem fast mystisch wirkenden Wald und natürlich Freiheit. Aber es gab auch die dunklen Seiten: störrische Ochsen, erkrankte Tiere, frühzeitige Wintereinbrüche, gewaltige Gewitter, Einsamkeit.
Das Ende am Michaelitag
Mit erst 17 Jahren trat Helmut Schmid im Jahr 1952 sein erstes Hirtenjahr an, ein Aufbruch ins Ungewisse. Am 29. September 1953, dem Michaelitag des darauffolgenden Jahres, endete die über Jahrhunderte hinweg praktizierte Waldweide rund um Hohenau. Die geweihte glückbringende „Girt“ hatte ihren Zweck erfüllt, und Helmut Schmid brachte alle Tiere wohlbehalten wieder nach Kirchl zurück.
Gerhard Ruhland
(Erstveröffentlichung in: Schöner Bayerischer Wald, Heft 277)
Nachtrag zu den Hütten der Waldhirten
Rigobert Prasch beschreibt die alten, ursprünglichen Waldhütten der Waldhirten folgendermaßen. Eine dieser Hütten befand sich in der Nähe der Schwarzbach-Quelle. Die heutige Hütte auf dem Steinfleckberg dürfte neueren Datums sein.
„…hausten die Wanderhirten in zwei niedrigen Waldhütten. Die Urform der Bayerwaldhäuser lagerte auf einem dreimal vier Meter großen Steingeviert aus rohen zusammengebundenen Stämmen. Das tiefgezogene, steil ansteigende Satteldach war mit Fichtenrindenplatten gedeckt, daher der Name „Loudhittn“ (Lehe = Rinde). Die Hütten waren kaum höher als die Tür, fensterlos und ohne Kamin. Die Rauchfahnen aus einem alten, eisernen Ofen zogen zur schwarz verräucherten Decke und durch Giebelluken ab. Früher kochte man beim flackernden Feuerschein des Hirtenfeuer-Steinhaufens. Alles roch rauchgebeizt und nach dem Harz der Bäume.
In der Hütte waren an beiden Längsseiten Ruhebänke angebracht. Quer über den Bänken waren die dünnen Baumstämme der floßartigen Liegestatt aufgelegt und befestigt. Für den kurzen Schlummer samma e da Strah gflaggt, lagen die Hirten auf dieser Pritsche, die mit einer trockenen Laub-, Stroh-, Moos- oder Heuschütte wollig und mollig aufgepolstert war. In da Strah schräfend d´Mais, mitunter wollten sich kleine, ebenfalls einsame Nager mit den Hirten das Nachtlager teilen und bauten sich in das rohfaserige Polstermaterial ein kuscheliges Mäusenest. Mit gesichelten, dürren Berggräsern „bezogen“ dann die Hirten ihr Bett neu.
Immer vor Beginn der Waldweide ham se de Rechtla zamda und ham de Hittn hergricht, brachte die Weiderechtlergemeinschaft die Hirtenhütten in einen bewohnbaren Zustand. Die Männer verstopften die Ritzen der Wände, ersetzten löchrige Platten des Rindendachs, kehrten die Hütte aus und erneuerten die Laubschütte der Liegestatt.
Unterhalb der Hirtenhütte am Kirchlinger Stand hot a Seign dahi glugazt, sickerte gluckernd die Schwarzbachquelle dahin. (…)“