Kdynĕ/Eschlkam. Unglaubliche Dramen haben sich in der Zeit von 1948 bis 1951 am Eisernen Vorhang abgespielt. Agenten der tschechoslowakischen Geheimpolizei lockten Menschen, die nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 aus der damaligen ČSSR in den Westen flüchten wollten, in eine perfide Falle.

Polizeichef Stanislav Liška half Menschen über die grüne Grenze, war aber auch an den fingierten Schleusungen beteiligt. Foto: Archiv Václava Jandečkova
Sie errichteten wenige hundert Meter vor der echten Staatsgrenze eine falsche Grenzstation. Dort taten Männer in amerikanischen oder deutschen Uniformen Dienst. Porträts der amerikanischen Präsidenten Truman und Roosevelt hingen an den Wänden. Den Erwachsenen wurde amerikanischer Whiskey und den Kindern Schweizer Schokolade angeboten. Diese Umgebung gaukelte den Flüchtlingen vor, es nach Deutschland geschafft zu haben. Bereitwillig berichteten sie, wie sie ihre Flucht organisiert hatten. Und sie gaben die Namen ihrer Helfer preis.
Nie geplant, Forscherin zu werden
Statt der ersehnten Freiheit kamen sie nach dem Scheinverhör ins Gefängnis. Existenzen wurden zerstört. Familien auseinandergerissen. Viele Opfer erfuhren ihr ganzes Leben lang nichts von dem teuflischen Spiel, das der kommunistische Staat mit ihnen getrieben hatte. Sie glaubten, von den Amerikanern oder Deutschen zurückgeschoben worden zu sein. Diese streng geheime Aktion Kámen (Operation Grenzstein) kam mit allen Details ans Licht, als die Schriftstellerin Václava Jandečková aus dem kleinen Dorf Prapořiště 2012 einen Artikel in der Tageszeitung „Domažlický deník“ und ein Jahr später ihr erstes Buch veröffentlichte.

Václava Jandečková am Ort des Geschehens. Mit ihrem Comic über die Aktion Kámen will sie vor allem junge Leute für das Thema interessieren. Foto: Heidi Wolf
Dabei hatte sie nie geplant, Forscherin und Bestsellerautorin zu werden. Der Schlüssel zu dieser Spurensuche war ihr Großvater Ota Tulačka. Aus der Familiengeschichte wusste sie, dass er fast 15 Jahre seines Lebens in verschiedenen Gefängnissen verbracht hatte. Die meiste Zeit davon in Leopoldov in der Slowakei, einem Hochsicherheitsgefängnis für politische Häftlinge. „Es war das Zentrum der tschechoslowakischen Intelligenz“, sagt Václava Jandečková.
Tod durch den Strang
Ihr Großvater wurde im September 1949 in Prag verhaftet und sollte in einem Monsterprozess am 16. und 17. Mai 1950 in Taus/Domažlice zum Tod durch den Strang verurteilt werden. Nachdem ihm aber die Beteiligung an einem gewaltsamen antikommunistischen Staatsstreich nicht nachgewiesen werden konnte, bekam er eine lebenslange Freiheitsstrafe. Seine Enkelin kam 1974 zur Welt. Zehn Jahre, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war. Das Mädchen hatte ein enges Verhältnis zu ihm, spielte mit ihm Klavier und Schach. „Nie hat er sich über sein Schicksal beklagt“, erinnert sich Jandečková.
Warum sollte ihr Großvater erhängt werden? Diese Frage trieb die Enkelin um, die nach dem Gymnasium in Domažlice an der Wirtschaftsuniversität Prag Internationale Beziehungen studierte, dann bei einer Beratungsfirma in Prag arbeitete und sich schließlich in der kleinen westböhmischen Stadt Kdynĕ (Neugedin) als Unternehmerin selbständig machte. Ihren Großvater konnte sie nicht mehr fragen – Ota Tulačka war 1991 gestorben. 2011 stand plötzlich ein Mann aus dem Nachbardorf vor ihrer Haustür, brachte eine Tasche mit Fotos, Briefen und verschiedenen Dokumenten vorbei, die ihm Tulačka zur Aufbewahrung anvertraut hatte.
„Die Leute haben mich für verrückt gehalten“
Das war ein Wendepunkt im Leben von Václava Jandeková, geborene Tuláčková, inzwischen Mutter zweier kleiner Söhne. Ehemann Jiří Jandečka baute gerade mit einem Bruder ein Steuerberatungsbüro auf und hatte plötzlich eine Forscherin als Ehefrau. Überall im Haus lagen Dokumente aus verschiedenen Archiven, die seit der Wende 1989 offenstanden.
„Die Leute haben mich für verrückt gehalten. An allen möglichen Orten bin ich mit meinen zwei kleinen Kindern aufgetaucht, habe Fragen gestellt und Dokumente kopiert“, beschreibt sie rückblickend die Situation. Immer tiefer drang sie in die dunkelsten Kapitel der tschechoslowakischen Nachkriegsgeschichte ein. Sie fand heraus, dass ihr Großvater bis zum kommunistischen Umsturz 1948 eine leitende Stellung in der Neugediner Streich- und Kammgarnspinnerei hatte.
Es war die älteste Textilmanufaktur in Böhmen, die einem französischen Unternehmer gehörte. Als die Kommunisten die Macht übernahmen, mussten diejenigen Eigentümer und Angestellten gehen, die nicht der kommunistischen Partei angehörten. Ota Tulačka, der aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit gute Kontakte zum Zoll, zur Polizei, zu Unternehmern in der Grenzregion und zu verschiedenen Stellen in Prag hatte, wurde in die Hauptstadt abkommandiert.
Ein Polizeichef als zentrale Figur
In Prag begann Tulačka mit dem Aufbau der Untergrundorganisation „Cyril“, die Kontakte zu Angestellten der amerikanischen Botschaft und des Außenministeriums in Prag hatte. Ein Ziel war es, gefährdeten Menschen zur Flucht in den Westen zu verhelfen. Unterstützt wurde er dabei von Josef Emil Hýbler, einem Piloten der Royal Air Force. Die beiden Männer kannten sich nur unter ihren Decknamen „Cyril“ und „Vašek“. Sie schafften es gemeinsam mit ihren Mitarbeitern tatsächlich, Tschechen und Slowaken sicher über die grüne Grenze zu bringen.
Eine zentrale Rolle in dem Geschehen am Eisernen Vorhang spielte Stanislav Liška. Er war der Polizeichef der Grenzstation Neumark/Všeruby (bei Eschlkam/Landkreis Cham) und verhalf zwar einerseits Menschen zur Flucht, musste sich aber auf Befehl des tschechoslowakischen Geheimdienstes und der Staatssicherheitsbehörden auch an den niederträchtigen Schleusungen an die falsche Grenze beteiligen, die in der Falle endeten. Außerdem war er gezwungen, die deutschen Grenzorgane auszuspionieren, arbeitete umgekehrt auch als Agent für die Amerikaner.
Václava Jandečková schildert ihn als einen überaus klugen Mann, der geschickt täuschen konnte, aber oft nahe dran war, an seiner zwiespältigen Rolle zu zerbrechen. Als die Grenzwachen vollständig mit linientreuen Kommunisten besetzt waren, wurde der Spielraum für Stanislav Liška immer enger, sodass ihm die Flucht in den Westen als einziger Ausweg erschien.
Pläne für einen bewaffneten Staatsstreich
In der Nacht zum 12. August 1949 machte er sich mit seiner Familie und einem Kollegen, der wegen einer missglückten Schleuseraktion ebenfalls in Gefahr war, zu Fuß auf den riskanten Weg über die grüne Grenze Richtung Eschlkam. Seine Frau Růšena trug den 18 Monate alten Sohn auf dem Arm. Die beiden anderen Kinder – neun und sechs Jahre alt – gingen tapfer mit. Genau um Mitternacht erreichte die erschöpfte Gruppe das Gebäude der bayerischen Grenzpolizei, wo der Dienststellenleiter und seine Frau den Geflüchteten einen kleinen Imbiss und einen Schlafplatz anboten.
Stanislav Liška hatte es gerade noch in den Westen geschafft, ehe eine Verhaftungswelle anrollte, die im September 1949 auch Ota Tulačka erfasste. Dieser war – so hat es seine Enkelin herausgefunden – an den Plänen für einen bewaffneten Staatsstreich in der Tschechoslowakei beteiligt, den Major Miroslav Jebavý für den März 1949 plante, ein Jahr nach dem kommunistischen Umsturz.
„Pläne wurden verraten“
Ota Tulačka hatte den Auftrag, in jedem Ort an der Grenze eine vertrauenswürdige Person zu finden, die sich für eine Führungsfunktion eignete. Damit wollten die Initiatoren des Staatsstreichs von Anfang an für stabile Verhältnisse sorgen. „Die Aktion war gut vorbereitet, aber die Pläne wurden verraten“, berichtet Václava Jandečková. Sie hatte die Antwort auf die Frage, warum ihr Großvater gehängt werden sollte, gefunden.
Mit ihren Nachforschungen war sie damit aber noch lange nicht am Ende. Immer neue Informationen schälten sich heraus, ein Mosaiksteinchen reihte sich ans andere. Sie fand heraus, dass Stanislav Liška und seine Familie Ende 1950 das Flüchtlingslager der International Refugee Organization (IRO) in Ludwigsburg verlassen hatten und nach Kanada ausgewandert waren. Sie recherchierte die Telefonnummer des Sohnes, der bei der Flucht in den Westen sechs Jahre alt gewesen war, und rief ihn an.
Sein erster Impuls: Das Schriftstück verbrennen
„Ich habe ihm gesagt, dass sein Vater ein Held war, weil er so vielen Menschen geholfen hat“, erzählt Václava Jandečková. Statt der erwarteten Freude löste ihre Mitteilung bei Ludĕk Liška einen regelrechten Schock aus, erfuhr die Forscherin später von Liškas Enkelin Lydia M. Akradi, als diese zum ersten Mal in die frühere Heimat ihrer Familie reiste.

Verlauf der Grenze in dem Abschnitt, in dem die fingierte Grenzstation lag. Foto: Archiv Václava Jandečkova
Ludĕk sei nach dem Telefongespräch in das Schlafzimmer des bereits 1980 verstorbenen Vaters gegangen und habe dort ein 60 Seiten starkes maschinengeschriebenes Manuskript gefunden, das er nicht lesen konnte, weil es in tschechischer Sprache verfasst war. Sein erster Impuls sei gewesen, das Schriftstück zu verbrennen. Doch dann habe er mit seinem jüngeren Bruder Libor gesprochen. Der hatte eine vage Ahnung vom Inhalt des Manuskripts, das wohl 1959 im kanadischen Exil entstanden war.
Ein Manuskript legt alles offen
Es war der authentische Bericht über die brutalen Ereignisse am Eisernen Vorhang, die sich nach dem kommunistischen Umsturz und die damit verbundene totale Anbindung an die Sowjetunion ereignet hatten. „Ich war die Erste, die dieses Vermächtnis in der Hand hielt“, freut sich Václava Jandečková noch heute.

Diese Infotafel steht am Grenzübergang Všeruby/Eschlkam. Vermutlich gab es an der bayerischen-tschechischen Grenze viel mehr dieser fingierten Grenzen, als bisher bekannt ist. Foto: Heidi Wolf
Damit lag alles vor ihr: Der Ablauf der Aktion Kámen, die Namen der Auftraggeber, ihrer Helfer und ihrer Opfer. Ausführlich schilderte Liška darin auch seine Laufbahn als Polizist und die Empfindungen, die er bei seiner Arbeit durchlebte. Das Manuskript endet mit den Sätzen: „Zum Schluss füge ich hinzu, dass hier noch viele verschiedene Details fehlen, die in diesem Augenblick nicht mehr so interessant sind, aber für die Zukunft schon. Diese behalte ich mir, bis die gerichtet werden, die das verschuldet haben, denn nur ich werde die Möglichkeit haben, sie zu belasten.“
Contra dem Vergessen
Die Hoffnung, dass die Verbrecher von damals zur Verantwortung gezogen werden, hat sich jedoch nicht erfüllt – und das ist auch der Wermutstropfen für Václava Jandečková, die 2018 die „Společnost pro výzkum zločinů komunismu„, die Gesellschaft zur Erforschung der Verbrechen des Kommunismus gegründet hat: Die unmenschlichen Ereignisse von damals dürfen nicht vergessen werden, so ihr Anliegen.
Neben ihren Büchern in englischer, deutscher und tschechischer Sprache gibt es eine ständige Ausstellung im Kulturhaus in Kdynĕ sowie Wanderausstellungen, Vorträge und Führungen auf den Schleuserwegen. Sie hat den Text für einen Comic geschrieben, um auch junge Leute für die brutalen Ereignisse in der Nachkriegszeit zu interessieren. Der Titel: Aktion Kámen – falsche Grenze.
Heidi Wolf
(Erstveröffentlichung in: Schöner Bayerischer Wald, Heft 277)