Straßburg/Wegscheid. Agnes Becker wird – so realistisch ist sie selbst – wohl nicht für die ÖDP am 9. Juni in das europäische Parlament einziehen. Schlichtweg zu klein ist die Partei der Wegscheiderin. Und dennoch will die Landesvorsitzende Vollgas im EU-Wahlkampf geben. Die 43-Jährige möchte diese Zeit nutzen, um sich und ihre Anliegen vorzustellen, dem Nationalismus Einhalt zu gebieten – und Straßburg sprichwörtlich näher an den Woid heranzurücken. Ob es ihr im Rahmen des folgenden Hog’n-Interviews gelingt?
Bitte stellen Sie sich zunächst einmal unseren Lesern vor.
Agnes Becker, 43 Jahre; Geburtsort: Augsburg; Wohnort: Wegscheid, Landkreis Passau; Familienstand: ledig; beruflicher Werdegang: Schreinergesellin, Tierärztin; Vereinszugehörigkeiten: Bund Naturschutz, Malteser, Landesbund für Vogel- und Naturschutz, Zoologische Gesellschaft Frankfurt, Deutscher Tierschutzbund, Stiftung Denkmalschutz, Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, Förderverein Lokalbahn Hauzenberg-Passau, BI Natur ja – Nordtangente nein!, Plattform gegen Temelin; Interessen und Hobbys: meine Tiere und die Politik, die muss einem nämlich Spaß machen, sonst packt man das nicht…
„Europa als Gemeinschaft“ contra „nationalistische Gefahr“
Warum wollen Sie in das Europa-Parlament einziehen?
Weil ich Nationalismus für eine große Gefahr halte, die in der Vergangenheit schreckliche Kriege verursacht hat. Europa als Gemeinschaft demokratischer Staaten, die sich an den Menschenrechten orientiert, ist das wichtigste Gegenmittel gegen die wieder aufflammende nationalistische Gefahr.
Wie hoch schätzen Sie Ihre Chancen für einen Einzug ein?
Ich bin Realistin – meine Chancen sind nicht hoch, weil ich einer kleinen Partei angehöre.
Warum kandidieren Sie dann überhaupt?
Jeder Wahlkampf ist eine Zeit, in der man Wählerinnen und Wählern sein Programm und seine wichtigsten Anliegen vorstellen kann. Dieses Interview ist dafür der beste Beweis! Ich will die Themen Natur- und Artenschutz als immer noch verdrängte Überlebensfragen der Menschheit nach vorne bringen. Die Naturwissenschaft sagt es uns eindeutig: Wir stecken im größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier – und die Ursache sind wir selbst! Unsere Lebens- und Wirtschaftsweise ist zerstörerisch. Das muss sich jetzt ändern. Wir alle müssen das ändern!
„Agrarpolitik muss endlich ihre Ziele ändern“
Welche politischen Ideen und Ziele wollen Sie während einer möglichen Amtszeit umsetzen?
Die bisher praktizierte Agrarpolitik hat das Sterben der Höfe und das Sterben der Artenvielfalt nicht aufhalten können. Wir brauchen deshalb eine massive Förderung jener Bauernfamilien, die konsequent im Einklang mit der Natur arbeiten und so die Lebensgrundlagen – Böden, Trinkwasser, Tierwohl, Klima, Artenvielfalt – schützen. Solche Gemeinwohlleistungen müssen ordentlich bezahlt werden. Subventionen für Massenproduktion muss beendet werden.
Noch konkreter: Welche Ideen wollen Sie im fernen Brüssel explizit für Niederbayern, den Bayerischer Wald, den ländlicher Raum umsetzen?
Gerade im Bayerischen Wald, weit weg von landwirtschaftlichen Gunstlagen, haben kleine Höfe mit Bio-Orientierung eine Chance – wenn die Agrarpolitik endlich ihre Ziele ändert und aufhört, den Leuten zu erzählen, Bayern müsse für den Weltmarkt produzieren. Dass aktuell – ausgerechnet mit Hilfe der CSU! – auf Europaebene der Weg für gentechnisch veränderte Pflanzen auf den Äckern frei gemacht wird, ist eine Katastrophe und bedroht den Ökolandbau existenziell. Der Bayerische Wald als Tourismus-Gegend braucht eine Landwirtschaft mit liebenswertem Charakter!
„Endlich dem Parlament auch das Initiativrecht geben!“
Dazu gehört übrigens auch, dass wir endlich das Atomrisiko länderübergreifend beenden. Was die tschechischen Nachbarn derzeit planen – Temelin-Erweiterung, Atommülllager – dürfen wir nicht achselzuckend akzeptieren: Europa muss den Atomausstieg aller Länder angehen. Auch wer keine Sorge wegen der Radioaktivität hat, sollte aus ökonomischen Gründen Atomkraftgegner werden: Die erneuerbaren Energien sind Freiheits-, Friedens- und Wohlstandsgaranten und sie sind leistungsfähig und unschlagbar billig.
Dass sich in Niederbayern so wenige Leute um die tschechischen Atompläne kümmern, erschreckt mich. Wir sind doch eine „Europaregion Donau-Moldau“ mit Oberösterreich, Niederbayern, der Oberpfalz und den drei tschechischen Nachbarbezirken, in der man die Zukunft gemeinsam planen will. Warum äußert sich die dort vertretene Kommunalpolitik nicht öffentlich zu diesem Top-Thema?
Was entgegnen Sie denjenigen, die behaupten, das EU-Parlament sei ein Gremium ohne größeren Nutzen und ohne größere Bedeutung?
Das Parlament hat sich in den letzten Jahrzehnten Stück für Stück mehr Kompetenzen erobern können. Das wichtige Mittel der Gesetzesinitiative fehlt jedoch noch: Nur die Kommission kann europäische Gesetze vorschlagen. Aber ohne das Parlament geht dann nichts mehr – vor allem kein gültiger Haushalt! Deshalb ist der Vorwurf der Unwirksamkeit nicht haltbar. Wenn es gelingt, das Initiativrecht endlich auch dem Parlament zu geben, dann sind alle traditionellen Rechte beim Parlament vorhanden.
„…gegen eine Gewaltherrschaft der Russischen Föderation“
Was denken Sie: Wie wird die EU in Niederbayern generell wahrgenommen?
Leider gibt es viele Vorurteile gegen die EU, die natürlich auch fleißig geschürt werden. Jahrelang rechtfertigten nationale Politiker ihr eigenes Versagen mit dem billigen Verweis auf angebliche europäische Vorschriften. Auch heute noch wird gerne im Bierzelt gegen Europa gewettert, um von eigenen Fehlern abzulenken. Die Europäische Union ist ein gewaltiges und geglücktes Friedensprojekt und wir dürfen es uns nicht von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen zerstören lassen.
„Die europäische Idee ist gescheitert“ – wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Diese Aussage ist Unfug und schlicht falsch. Die europäische Geschichte bis 1945 ist eine Geschichte der Kriege, die von verhetzten Nationen und Herrscher-Dynastien angezettelt wurden. Jetzt hatten wir hier in Europa fast 80 Jahre Frieden. Ist das Scheitern? Nein, das ist ein gigantischer Erfolg, den wir sichern müssen – gegen Terroristen, gegen das Erstarken des alten Nationalismus und auch gegen einen Gewaltherrscher in der Russischen Föderation.
„Die Europäische Union ist bekannt für meist unsinnige Vorschriften“ – können Sie dem zustimmen?
Es gibt viele fragwürdige Vorschriften auf allen Ebenen – von der Gemeinde, über den Kreis, das Land, den Bund bis hinauf zur EU. Die EU hat aber auch eine Reihe von sehr wichtigen Vorschriften durchgesetzt: Die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, die Wasserrahmenrichtlinie und die Vogelschutzrichtlinie sind sehr moderne und wirksame Gesetzeswerke zum Schutz der Lebensgrundlagen. Das von meiner Partei mit Volksbegehren durchgesetzte neue Bayerische Naturschutzgesetz („Rettet die Bienen!„) ergänzt diese europäischen Gesetze optimal. Leider will eine niemals ruhende Lobby jetzt diese guten Regelungen abschwächen – wie z.B. das geltende Gentechnikanbauverbot im Bayerischen Naturschutzgesetz. Dass bayerische Abgeordnete von der CSU dieses verderbliche Spiel mitmachen, ist eigentlich ein Skandal.
„Europäische Union geopolitisch ein wichtiger Faktor“
„Das Europa-Parlament ist ein riesiger Wasserkopf mit Abgeordneten, die sich dort eine goldene Nase verdienen“ – was halten Sie von dieser Aussage?
Die Europäische Union ist ein geopolitisch wichtiger Faktor mit mittlerweile 27 Mitgliedsstaaten und rund 450 Millionen Menschen, die von 705 Parlamentsmitgliedern vertreten werden. Der Deutsche Bundestag hat aktuell 734 Abgeordnete… wer hat hier jetzt möglicherweise einen Wasserkopf?
Bei der ÖDP-Europaparlamentarierin Manuela Ripa habe ich noch keine goldene Nase gesehen – wohl aber ein ungeheures Arbeitspensum. Es mag faule Abgeordnete geben, die nur das Geld einschieben und nebenbei mit China und Russland kungeln. Aber die muss man ja nicht wählen. Die allermeisten machen harte Arbeit mit sehr viel Stress.
„Würden sich Rechtsaußen durchsetzen, freut sich Putin“
„Die EU kostet uns Deutschen nur Geld“ ist oft zu hören. Stimmen Sie dem zu?
Wir sind als starke Wirtschaftsnation sehr heftig mit dabei, wenn es um die Finanzierung der EU geht. Gleichzeitig profitieren wir vom gemeinsamen Binnenmarkt mehr als alle anderen Mitgliedsländer. Es ist wie immer im Leben ein ständiges Geben und Nehmen. Würden sich die deutschen Europa-Gegner von Rechtsaußen wirklich durchsetzen und die EU zerstören, dann hätte nur Herr Putin Grund, sich zu freuen. Wir alle würden draufzahlen. Fragen Sie mal die Briten…
Abschließend ein kleines Wunschkonzert: Wie sieht das Europa der Zukunft aus?
Die EU muss eine Staatengemeinschaft werden, die sich ohne Wenn und Aber dem Schutz der Natur, des Trinkwassers, der fruchtbaren Böden, dem Tierwohl und den Menschenrechten verpflichtet. Das wird nur gehen, wenn wir alle uns darauf besinnen, dass man Geld nicht essen kann. Mein Europa der Zukunft ist ein Europa der Gemeinwohl- und Gleichgewichtswirtschaft, in dem der zerstörerische Wachstumswahn nicht mehr verfolgt wird.
Vielen Dank für die Antworten – und alles Gute bei der Wahl!
Die Fragen stellte: Helmut Weigerstorfer