Straßburg/Eggenfelden. „Die europäische Idee ist gescheitert“, „die Europäische Union ist bekannt für meist unsinnige Vorschriften“, „die EU kostet uns Deutschen nur Geld“ – was „unser“ kontinentales Abgeordnetenhaus betrifft, haben sich viele negativ behaftete Aussagen manifestiert. Aufgabe derjenigen „Woid“-Politiker, die am 9. Juni gewählt werden und somit in das EU-Parlament in Straßburg einziehen möchten, ist es, jene Plattitüden aus der Welt zu schaffen. Auch Severin Eder aus dem Rottal, bei der Euro-SPD auch für den Bayerischen Wald „zuständig“, hat im Hog’n-Interview die Gelegenheit dazu.
Bitte stellen Sie sich zunächst einmal unseren Lesern vor.
Mein Name ist Severin Eder, ich bin 31 Jahre alt, in Eggenfelden geboren, unter der Woche berufsbedingt in München und am Wochenende in Niederbayern unterwegs. Ich bin verheiratet. Meinen beruflichen Weg habe ich mit einer Ausbildung zum Elektroniker für Geräte und Systeme begonnen. Im Anschluss daran habe ich mein Fachabitur an der BOS nachgeholt. Dann ging ich für ein Jahr als Au-Pair nach Rom, gefolgt von einem Studium im Tourismusmanagement in Pfarrkirchen. Seit 2019 arbeite ich in der Tourismusbranche – anfangs im Krisenmanagement und mittlerweile im Bereich der nachhaltigen Unternehmensverantwortung.
Als Touristiker bin ich selbstverständlich auch sehr reisefreudig und nutze jede Gelegenheit, neue Orte zu entdecken. Meine Freizeit gestalte ich gerne mit Fußball (passiv) und Tennis (aktiv): Zudem lese ich gerne sowie viel und beschäftige mich schließlich intensiv mit Politik und Geschichte. Ich bin ein großer Fan des Fußballklubs AS Rom, eine Leidenschaft, die ich seit meiner Kindheit hege. Ich bin Mitglied in verschiedenen Sportvereinen sowie in der Gewerkschaft Ver.di, der AWO und dem VdK. Neben meinen Ehrenämtern in der SPD und der Pendelei am Wochenende bleibt leider wenig Zeit für weitere Hobbys. Dennoch versuche ich, wann immer möglich, mit meiner alten Vespa durch das wunderschöne Rottal zu touren.
„Die, die Dexit fordern, haben Bezug zur Realität verloren“
Warum wollen Sie in das Europa-Parlament einziehen?
Europa beeinflusst unser tägliches Leben, viele Gesetze auf Bundesebene setzen europäische Richtlinien um. Um den Wohlstand, den wir geschaffen haben, erhalten zu können, brauchen wir in Zukunft mehr Europa und nicht weniger. Die EU ist für die meisten Menschen der Welt ein Sehnsuchtsort. Das dürfen wir nicht vergessen. Natürlich wissen wir, dass die EU (noch) nicht perfekt ist, aber daran müssen wir arbeiten. Genau das will ich anpacken.
Diejenigen, die ernsthaft einen Dexit fordern, haben den Bezug zur Realität verloren. Wir sehen doch gerade, dass sich die Welt neu ordnet, wenn wir nach Russland, China aber auch in die USA mit Blick auf die Wahlen im November schauen. Da kann unsere Antwort doch nicht ernsthaft lauten: Zurück in die Kleinstaaterei? Nur im europäischen Verbund haben wir eine gute Zukunft.
Wie hoch schätzen Sie Ihre Chancen für einen Einzug ein?
Wenn wir davon ausgehen, dass ungefähr ein Prozent für eine Partei ungefähr einen Sitz im EU-Parlament bedeutet und ich auf Listenplatz 32 bin, kann ich verraten, dass ich aktuell noch nicht auf der Suche nach einer Wohnung in Brüssel oder Straßburg bin (schmunzelt).
Warum kandidieren Sie dann überhaupt?
Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass in der Politik nur Menschen aktiv sind, die sich engagieren, wenn sie selbst davon einen unmittelbaren Nutzen haben. Ich kandidiere, um für Europa zu werben: Ich selbst nenne mich gerne ein Kind Europas, da ich in einem deutsch-italienischen Haushalt groß geworden bin. Ich möchte, dass sich die europäische Erfolgsgeschichte fortsetzt. Mir ist es also ein Herzensanliegen aufzuzeigen, wie wichtig die EU ist und, dass es nicht nur ein anonymes Bürokratiemonster ist.
„Man wird nicht überall mit offenen Armen empfangen“
Außerdem komme ich gern unter d’Leid. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass ich mit meiner Kandidatur in ganz Niederbayern unterwegs sein darf. Dabei darf ich unterschiedlichste Persönlichkeiten kennenlernen. Natürlich bewegt man sich mit so einer Kandidatur aus seiner eigenen Komfortzone. Und ja, als Sozialdemokrat wird man in Niederbayern nicht überall mit offenen Armen empfangen. Aber diese Herausforderung taugt mir und reizt mich. Ich möchte auch für einen neuen Politikstil einstehen: nahbar, offen, ehrlich und transparent.
Welche politischen Ideen und Ziele wollen Sie während einer möglichen Amtszeit umsetzen?
In meiner möglichen Amtszeit im EU-Parlament werde ich mich auf folgende Kernbereiche konzentrieren: Die Demokratisierung der Entscheidungsprozesse durch Überwindung des Einstimmigkeitsprinzips und die Stärkung des Initiativrechts des Europäischen Parlaments; die rechtliche Weiterentwicklung durch die Einführung einer Europäischen Verfassung und die Stärkung des Rechtsstaates und der Menschenrechte.
Weiterhin liegt der Fokus auf der sozialen Gleichheit durch die Einführung eines europaweiten Mindestlohns und gleicher Bildungschancen, der ökologischen Nachhaltigkeit in Wirtschaft und Landwirtschaft sowie der Verbesserung der Mobilität durch den Ausbau des Schienennetzes und die Einführung kostenloser Interrail-Tickets für Jugendliche.
„Ein offeneres, gerechteres und nachhaltigeres Europa“
Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Förderung eines Europas der Regionen, um sicherzustellen, dass unabhängig vom Wohnort jede und jeder die gleichen Chancen zur Lebensverwirklichung bekommt. Besonders ländliche Räume und Klein- sowie Mittelstädte, die über 80 Prozent der EU-Fläche ausmachen und ein Drittel der Bevölkerung beherbergen, sollen beim nachhaltigen Wandel unterstützt werden. Es soll niemand zurückgelassen werden. Schließlich ist die Reform der Asyl- und Einwanderungspolitik ein zentrales Ziel, um humane Bedingungen für Schutzsuchende zu gewährleisten und die europäische Integration zu fördern. Diese Schwerpunkte sind darauf ausgerichtet, ein offeneres, gerechteres und nachhaltigeres Europa zu schaffen.
Noch konkreter: Welche Ideen wollen Sie im fernen Brüssel explizit für Niederbayern, den Bayerischer Wald, den ländlicher Raum umsetzen?
Der Bayerische Wald ist in der Tat etwas Besonderes. Noch vor nicht allzu langer Zeit bildete er die natürliche Außengrenze Europas. Mittlerweile liegt er nicht mehr am Rand, sondern im Herzen Europas. Ich stehe für ein Europa der Regionen, die LEADER-Projekte sind ein gutes Mittel, um mit europäischen Mitteln Projekte von vor Ort umzusetzen. Ich war und bin häufig im Bayerischen Wald unterwegs und habe mir einige dieser tollen Projekte angesehen – beispielsweise die mobile Sanitätsstation in Regen.
„Das Euro-Parlament braucht mehr Rechte“
Als SPD setzen wir uns dafür ein, dass alle Menschen, unabhängig von ihrem Wohnort, gleiche Chancen zur Lebensverwirklichung haben. Insbesondere wollen wir den ländlichen Raum in seiner Rolle als Lebens-, Wirtschafts-, Erholungs-, Kultur- und Umweltraum stärken. Unser Ziel ist es, durch eine gezielte und nachhaltige Investitionspolitik zu gewährleisten, dass Regionen wie der Bayerische Wald in der gesellschaftlichen und ökonomischen Transformation nicht zurückbleiben. Wir streben an, die Mittel der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds ab 2028 so zu nutzen, dass sie den sozial gerechten Wandel unterstützen und Innovationen fördern. Gleichzeitig soll ein Missbrauch dieser Mittel verhindert werden.
Was entgegnen Sie denjenigen, die behaupten, das EU-Parlament sei ein Gremium ohne größeren Nutzen und ohne größere Bedeutung?
Das EU-Parlament ist die einzig demokratisch gewählte EU-Institution und somit ein wichtiger Pfeiler, um die Interessen der Bevölkerung zu vertreten. In der EU funktioniert die Gesetzgebung anders als in den Mitgliedsstaaten wie in Deutschland. Wie oben bereits erwähnt, braucht das Parlament aber mehr Rechte, um mehr Eigeninitiative ergreifen zu können.
Seit über 70 Jahren gibt uns die Europäische Union Frieden und Stabilität. Das ist nicht selbstverständlich. Vorher war Europa Jahrhunderte lang ein kriegerischer Kontinent. Auch das ist ein Erfolg des Parlaments und den europäischen Institutionen.
„Das war ein großer Mist – und darf sich nicht wiederholen“
Was denken Sie: Wie wird die EU in Niederbayern generell wahrgenommen?
Durch meine Besuche in allen Landkreisen Niederbayerns kann ich nur sagen, dass die Niederbayern so unterschiedlich in ihrer Art sind, dass es hier keine pauschale Antwort geben kann. Dennoch habe ich auf meine unterschiedlichen Stationen verschiedenste Stimmen wahrgenommen, aber die Mehrheit sieht die EU per se als positiv – aber verbunden mit dem Wunsch, dass die EU nahbarer, verständlicher und nachvollziehbarer werden soll. Aber ja, mir ist durchaus bewusst, dass das Geschachere zwischen Macron und Merkel um die Kommissionspräsidentschaft einen ordentlichen Beitrag zum EU-Verdruss geleistet hat. Die Leute fühlten sich veräppelt. Das war ein großer Mist – und darf sich nicht wiederholen.
„Die europäische Idee ist gescheitert“ – wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Das ist absoluter Quatsch! Wir haben die längste Friedensperiode zwischen den EU-Mitgliedsstaaten seit jeher. Dies allein ist Beweis genug, dass die europäische Idee die Beste ist, die wir je hatten. Natürlich müssen wir diese EU weiterentwickeln. Wir müssen es selbstverständlich hinbekommen, dass wir uns nicht von den Orbans dieser Welt auf der Nase herumtanzen lassen.
„Brüsseler Regulierungswahn“?
Die Europäische Union lasse ich mir von niemanden kaputt reden, aber uns muss allen bewusst sein, dass die EU nicht nur auf den gemeinsamen Binnenmarkt reduziert werden darf, sondern, dass wir auch in anderen Bereichen zusammenwachsen müssen.
„Die Europäische Union ist bekannt für meist unsinnige Vorschriften“ – können Sie dem zustimmen?
Nein, dem kann ich nur vehement widersprechen. Hier ein kleiner Auszug von sinnvollen Vorschriften: Reisefreiheit; Roaminggebühren wurden abgeschafft; den Green New Deal, um unsere Wirtschaft nachhaltiger und zukunftsgerecht zu gestalten; Recht auf Reparatur wurde beschlossen, damit Produkte repariert werden, anstatt neue zu kaufen; das „Strommarktdesign“ wurde endlich reformiert, um uns vollständig unabhängig vom russischen Gas zu machen. Diese Liste könnte ich noch ewig weiterführen.
Das Klischee des „Brüsseler Regulierungswahns“ ist weit verbreitet, jedoch meistens übertrieben. Ein Beispiel dafür ist die oft zitierte Gurkenkrümmung: Vor über 20 Jahren gab es tatsächlich den Vorschlag, EU-weit gerade Gurken zu bevorzugen, da diese einfacher zu stapeln und zu transportieren sind. Die Initiative kam vor allem aus dem Handel. 1988 wurde eine entsprechende Verordnung nach UN-Vorgaben in der EU eingeführt, die jedoch wegen Spotts später abgeschafft wurde. Trotzdem nutzen viele Großhändler diese Standards bis heute.
Negativ-Beispiel: Ulrike Müller von den Freien Wählern
„Das Europa-Parlament ist ein riesiger Wasserkopf mit Abgeordneten, die sich dort eine goldene Nase verdienen“ – was halten Sie von dieser Aussage?
Ich halte das für eine unangemessene Unterstellung, die Politikerinnen und Politikern auf allen Ebenen – Land, Bund und EU – gemacht wird. Doch alle Abgeordneten, die ich kenne, engagieren sich mit enormem Einsatz, was in der Regel mindestens eine 80-Stunden-Wochen bedeutet. Natürlich haben Abgeordnete ein gutes Einkommen. Dieses soll unter anderem die Unbestechlichkeit der Abgeordneten gewährleisten. Vergleicht man das Einkommen mit dem in vergleichbaren Positionen in der freien Wirtschaft, kann man nicht behaupten, dass Politiker überbezahlt sind.
Aber ein Negativ-Beispiel möchte ich nennen, welches mir übel aufgestoßen ist: Ulrike Müller von den Freien Wählern sitzt aktuell gleichzeitig im Bayerischen Landtag (seit Herbst 2023) und im EU-Parlament (sie verzichtet aktuell auf die Landtagsdiäten). Sie ist im Landtag Vorsitzende des Europaausschusses, gleich zur ersten Sitzung glänzte sie mit Abwesenheit mit der Begründung, dass der Landtag erst im neuen Jahr richtig zu arbeiten anfange. Das ist absolut unseriös!
„Kein Land profitiert von der EU so sehr wie Deutschland“
„Die EU kostet uns Deutschen nur Geld“ ist oft zu hören. Stimmen Sie dem zu?
Eine Brutto-Netto-Rechnung, was Deutschland im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft in der EU zahlt und hierfür wieder herausbekommt, wäre viel zu einfach gedacht. Lassen Sie uns mal nach Großbritannien schauen: Dort hat eine vierköpfige Familie seit dem BREXIT im Schnitt 10.000 Euro weniger in der Tasche. Die falschen Versprechungen der Brexiteers, die das Blaue vom Himmel versprochen haben, sind nicht in Erfüllung gegangen. Ähnliches würde uns in Deutschland blühen, wenn die sog. Alternative für Deutschland ihre Pläne wahr machen könnte.
Wir müssen festhalten – und ich werde nicht müde das zu betonen: Kein Land profitiert von der EU so sehr wie Deutschland. Jeder vierte deutsche Arbeitsplatz hängt vom Export ab, mehr als die Hälfe unserer Exporte gehen in die EU. Dass wir einen starken Binnenmarkt haben, ist ein deutsches Eigeninteresse. Deutschland ist also nur stark, wenn wir ein starkes Europa haben!
„Aus bestehenden Verträgen soll eine echte Verfassung werden“
Abschließend ein kleines Wunschkonzert: Wie sieht das Europa der Zukunft aus?
Auf die Frage, wie das Europa der Zukunft aussieht, stelle ich mir eine tiefgreifend reformierte Europäische Union vor, die das immense Potenzial von Hunderten Millionen Menschen effektiver nutzt. Wesentliche Änderungen umfassen die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in Rat und Parlament zugunsten einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung und die Gewährung eines Initiativrechts für das Parlament. Aus den bestehenden Verträgen soll eine echte Verfassung entstehen, die nicht nur strukturell, sondern auch symbolisch eine neue Ära einläutet.
Die Europäische Union darf nicht länger ein Instrument sein, das ausschließlich wirtschaftlichen und nationalen Bedürfnissen dient. Vielmehr muss eines ihrer großen Ziele die Schaffung gleicher Arbeits- und Bildungschancen für alle sein. Wir streben danach, die EU transparenter und verständlicher zu machen und eine europäische Identität zu fördern, mit der sich die Menschen wirklich identifizieren können.
„Wollen ein Europa des Respekts schaffen“
Ein weiteres Ziel ist die Schaffung einer Wirtschaft, die qualitativ hochwertige Arbeitsplätze bietet. Ein starkes Europa auf der Weltbühne ist unsere Antwort auf globale Herausforderungen, sicherheitspolitische Veränderungen und den Druck, den Demokratien weltweit durch Populisten und Autokraten erfahren.
Schließlich wollen wir ein Europa des Respekts schaffen. Wir sind stolz darauf, dass Europa uns die Möglichkeit bietet, unser Leben nach unseren Vorstellungen zu gestalten. Respekt bedeutet auch die Anwendung fairer Regeln für alle. Europa muss effektiv gegen Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung vorgehen, denn das Programm der Populisten und Europafeinde führt letztlich zu einer sozialen und kulturellen Verarmung der Bürgerinnen und Bürger.
Vielen Dank für die Antworten – und alles Gute bei der Wahl!
Die Fragen stellte: Helmut Weigerstorfer