Prackenbach. Langsam drückt er die Klinke nach unten, duckt sich ein wenig und durchschreitet den niedrigen Türrahmen. Zurück in seine Kindheit. Zurück in ein Leben voller Entbehrungen. Und doch voller Glück. In und mit der Natur. Das schätzt Günter Raupach auch heute noch. Lange hat er hier gelebt. Eine Flut von Erinnerungen überkommt ihn, das sieht man ihm an. Der mittlerweile 69-jährige, kräftig wirkende Mann mit grauem Haar nimmt am Tisch im jetzigen Gemeinschaftsraum Platz.
Seit vielen Jahren ist er zum ersten Mal wieder dort, wo er aufgewachsen ist: in der „Rübezahlhütte“ auf der Zeller Höhe in der Gemeinde Prackenbach. Günter Raupach fängt an, zu erzählen. 1956 sei es gewesen, als er, zwei Jahre alt, mit Vater und Mutter in den Bayerischen Wald kam. Er nennt es „Schicksal“. Eine Flucht aus der damaligen Ostzone. Die Mutter kam aus Sachsen, der Vater war Schlesier. Vielleicht deshalb seien sie einem Aufruf des Kulturvereins „Singe- und Volkstanzkreis Viechtach“ gefolgt, der zum Großteil aus „Heimatvertriebenen“, unter anderem aus Schlesien, bestand. Daher auch der Name der Hütte – als Anlehnung an die Sagengestalt aus dem Riesengebirge.
Trägerverein suchte „Herbergseltern“
Der Verein, der auch damals schon Mitglied im Bayerischen Wald-Verein war, hatte 1951 auf einer Wanderung zufällig das aufgegebene Bauernhaus im Wald entdeckt und zum Treffpunkt erklärt. Man hatte es für Feiern genutzt oder einfach an Wochenenden. Nach und nach war die Hütte um- und ausgebaut worden und auch befreundete Gruppen kamen des Öfteren zu Besuch. Über die Jahre hinweg stieg das Bedürfnis von Jugendgruppen an Ferienhäusern. In ehrenamtlicher Arbeit der Vereinsmitglieder entstand so die Berghütte Rübezahl als Unterkunft. 1975 entwickelte sich der Trägerverein zur rechtlichen Absicherung weiter zum „Berghütte Rübezahl e.V. – Jugendferienheim“; dieser Verein betreibt bis heute die Herberge und versucht, den Gästen den Schutz von Landschaft und Natur näher zu bringen.
„Herbergseltern gesucht“ – das sei der „Strohhalm“ gewesen, nach dem die Eltern in ihrer schwierigen Lage gegriffen haben. Und durch den sie in ein zwar abgeschiedenes und doch wunderschönes Heim mitten in der Natur kamen. Sie kümmerten sich rund 20 Jahre lang um das Anwesen und Übernachtungsgäste. „Oft saß ich mit meinen Eltern abends vor der Hütte und wir lauschten dem Gesang der Amseln, welche von den Spitzen der höchsten Bäume der untergehenden Sonne eine anmutende Melodie hinterher trällerten. Vom Zauber der beseelten Natur berührt, lauschten wir in den fallenden Abend“, formuliert Günter Raupach beinahe poetisch seine Gedanken an damals. „Die Bergwiese vor der Hütte trug über und über die schönsten Blumen, Trollblumen, Hirtentäschel, Margeriten.“
Doch die Natur als ein zweischneidiges Schwert – wunderbar und doch hart –, das im Leben auf der Hütte allgegenwärtig gewesen ist. „Die meist strengen und ausdauernden Wintermonate erforderten massive Vorbereitungen, die unter Umständen sogar lebensentscheidend sein konnten.“
Ein angewärmter Ziegelstein als Wärmflasche
Eingemachtes oder getrocknetes Obst und Gemüse aus Wald und Garten – Blaubeeren, Himbeeren, Brombeeren, Bohnen, Pilze und vieles mehr – sicherte die Nahrung. Auch Arznei wurde selbst hergestellt, Arnika, Kamille und Heckenrose verarbeitet. Elektrizität gab es nicht. Geheizt wurde mit Holz, „aufwendig und kraftraubend“, erinnert sich Raupach. Mit Erlaubnis des Waldbesitzers sei gesammeltes Holz auf Schultern und Rücken zur Hütte geschleppt worden – „ächzend und schweißtreibend“. Wochenlanges Sägen und Hacken folgte, natürlich alles von Hand. Im Winter sei in den unbeheizten Räumen – also fast in allen – das Eis millimeterdick an den Innenseiten der Fenster gehangen. „Meine Wärmflasche war ein in ein Handtuch gewickelter Ziegelstein, den meine Mutter im Backofen wärmte.“
Allgemein hätten die Bergwinter erhöhte Aufmerksamkeit eingefordert, da sie meist sehr schneereich waren. „Alle Zugehwege ums Haus mussten fast täglich von den Schneemassen befreit werden. Da entstanden oft zusätzliche, kleine Berglandschaften – ein beliebter Spielplatz für mich.“ Mit einem Lächeln und einem Augenzwinkern wendet sich Günter Raupach um und weist aus dem Fenster. Ein hoher Wall habe sich bis zum Waldrand geschlängelt, Voraussetzung für den Weg zur Schule oder zum Einkaufen ins Tal. „Meine Beine waren in den ersten Volksschuljahren manchmal zu kurz, um durch den hohen Schnee zu waten.“ Da er gern zur Schule gegangen war, sei dieser Umstand bitter für ihn gewesen.
Der Schulweg nach Prackenbach: fünf, sechs Kilometer einfach, erst bergab, danach bergauf. „Ab Spätherbst bis zum Beginn des Frühjahrs verließ ich immer bei Dunkelheit das Elternhaus.“ Anfangs hätten Mutter und Vater ihn die ersten Kilometer begleitet. „Letztlich lernte ich natürlich in früher Kindheit, den gesamten Weg auch bei Dunkelheit alleine zu bezwingen – Ehrensache!“ Trotzdem erinnert er sich an prägende Ereignisse: Des Öfteren habe er Umwege gesucht, um nicht direkt an einer kleinen, im Wald liegenden Kapelle – der Bärenkapelle – vorbei zu müssen. „Zu Allerheiligen war’s ganz schlimm. Da waren in der Kapelle dann Kerzen entzündet, welche flackernd gespenstische Schatten warfen.“ Eine unheimliche Begegnung an dieser Stelle mit einer reglosen, dunklen Gestalt mit breitkrempigem Hut und glimmender Zigarette, die auf seinen Gruß hin nicht einmal zuckte, habe den Ort fast traumatisch für ihn gemacht.
Zusammenhalt der Lausbuben
Alleine sei er auf dem Schulweg auch wegen seiner Religionszugehörigkeit gewesen: evangelisch. Alle katholischen Nachbarskinder der weiter umliegenden Höfe seien in die Schule im Dorf auf der anderen Seite der Zeller Höhe gegangen. Doch auch mit den „Lausbuben“ auf der Prackenbacher Seite habe er festen Zusammenhalt gepflegt. Dieser habe ihnen oftmals eine „Massenverurteilung“ des Lehrers beschert, wenn keiner den anderen verraten wollte. „Vorne mussten wir uns dann immer aufstellen und wurden der Reihe nach durchgehauen! Pädagogik aus dem Mittelalter!“
Ebenso gehörten in der Freizeit einige „Lausbuben-Stückl“ dazu. Die seien damals aber nicht mit einer Polizei-Androhung oder gar Anzeige geahndet worden, sondern vielmehr hätte eine Art Selbstjustiz auf der Tagesordnung gestanden – zum Beispiel per „Nachthaferl“-Ausgießen aus dem oberen Stock oder Loslassen des Hofhundes.
Auch der Wilderei sei er einmal bezichtigt worden, denkt Raupach zurück, zieht die Augenbrauen schelmisch nach oben und erzählt: Auf seinem Schulweg habe er oft eine Angelschnur mit Haken („…ohne Wurm, der tat mir leid…“) in einen Bach gehängt. Immer wieder einmal konnte er sich über eine Regenbogenforelle und anschließend einen Bratfisch freuen. Gedacht sei der allerdings für das Wirtshaus im Ort gewesen, weshalb ein Fischaufseher ihm aufgelauert, ihn aber nicht erwischt habe.
Und eine weitere Erinnerung hat sich bei ihm eingeprägt: „Einmal benötigten wir auch den Notarzt.“ Von Nachbars Telefon – weit und breit das einzige – gerufen, kam der Stunden später am Abend zur Hütte. „Ich lag stöhnend im Bett, der Arzt untersuchte mich, verließ lachend mein Lager.“ Der Junge sei sturzbetrunken, habe er gehört. Das werde schon wieder. „Morgens hatte ich eine halbe Flasche Klosterfrau-Melissengeist heimlich genascht“, klärt der 68-Jährige auf – und grinst.
Im Rückblick: die schönste Kindheit
Eine Sache, die Günter Raupach heute amüsiert betrachtet, war das Baden. „Das ist in jetzigen Zeiten schwer vorstellbar.“ Eine alte, graue Zinkblechbadewanne, eingelagert im Holzschuppen, sei dann hervorgeholt worden. „So etwa alle drei bis vier Wochen bedurfte man ihrer.“
Tisch und Stühle mussten dazu Platz machen, die Wohnküche wurde kurzfristig zur Badeanstalt umgerüstet. „Schon von Früh an machte Mutter in einem großen Metallbottich auf dem kleinen Holzofen Badewasser heiß. Nachmittags konnte dann die Wanne damit spärlich gefüllt werden“, erinnert er sich. Ein Waschlappen aus roher Baumwolle und ein Stück Kernseife hätten es als erstes auf ihn abgesehen. Dann kam die Mutter dran, zum Schluss der Vater. „Da war’s schon sehr gebraucht – und nur noch lauwarm.“ Die sonstige alltägliche Körperpflege habe an einer kleinen, mobilen Blechwaschschüssel in der Stube stattgefunden, meist mit kaltem Wasser. Ansonsten draußen am Trog.
Und trotz allem: „Wenn ich zurückschaue, hatte ich die schönste Kindheit, die man sich nur vorstellen kann! Als Kind spürt man die Armut nicht.“ Bildung, Liebe und Beruf hätten ihn dann aber mit rund 20 Jahren dazu bewegt, den Bayerischen Wald zu verlassen und ein schnelleres, moderneres Leben kennenzulernen. Günter Raupach lebt mittlerweile nördlich von Hannover. Er kommt aber immer wieder gerne zurück in den Woid – und genießt die Ruhe. Die Natur. Die Ursprünglichkeit.
Lisa Brem
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Eine Veröffentlichung in Zusammenarbeit mit dem Bayerischer Wald-Verein, dem Verein für Heimat- und Volkstumspflege, Kulturarbeit, Natur- und Landschaftsschutz sowie Wandern im Bayerischen Wald, der auch für das Projekt „WanderKultur“ verantwortlich zeichnet.