Melitopol/Vorderfreundorf. Wie viel Pech kann man eigentlich haben – und ertragen? Und wie stark muss man sein, um in einer derartigen Situation nicht mit dem Schicksal zu hadern, sondern es anzunehmen – und das Beste daraus zu machen? Hals über Kopf hatte Familie Karpov nach dem russischen Überfall ihre ukrainische Heimatstadt Melitopol verlassen müssen. Über Umwege – nach einer abenteuerlichen Flucht – landete sie schließlich in Vorderfreundorf. In der Gemeinde Grainet fanden sich die Geflüchteten schnell zurecht. Bis das Schicksal mit niederschmetternder Wucht erneut zuschlug: Familienvater Igor starb unerwartet an einem Herzinfarkt.
Diese Geschichte ist in Zeiten eines Konfliktes innerhalb Europas wohl keine Seltenheit. Leider. Millionen Ukrainer flüchten seit mehr als einem Jahr vor den Bomben und dem Terror russischer Soldaten. Sie verlassen ihre Heimat, weil dort Leid und Tod allgegenwärtig sind. Die Medien sind voll von Schicksalen dieser Art. Und es ist inzwischen vermehrt der Fall, dass die unmittelbaren Folgen des osteuropäischen Brennpunktes vor den Haustüren des Bayerwalds zu spüren und zu sehen sind. So wie in Vorderfreundorf.
„Russische Soldaten viel schlecht“
Die vierköpfige Familie Karpov führte am Ufer des Asowschen Meeres ein solides, relativ unaufgeregtes Leben. Ohne größere Sorgen. In Frieden. Im Februar 2022 geschah jedoch das, was im Europa des 21. Jahrhunderts unvorstellbar schien: Putin-Russland marschierte mit Waffengewalt in die Ukraine ein. Vor allem im Osten des Landes, also in der Region um Melitopol, wurden große Gebiete durch die Angreifer im Handstreich erobert. „Die russischen Soldaten viel schlecht. Alles nehmen, was möchten. Problem mit Arbeit. Problem mit Geld“, erzählt Alyona Khalieieva in gebrochenem Deutsch, das sie sich selbst beigebracht hat. Sie ist beim Hog’n-Gespräch mit Familie Karpov als Übersetzerin dabei.
„Geld schnell weg. Sehr schwierig“
Aus Angst vor der russischen Armee, deren Besatzung weit über das normale Maß hinaus gehen soll, hat sich Igor Karpov dazu entschlossen, im Mai 2022 mit seiner Frau Iryna und den Kindern zu fliehen. Freilich, er hätte bleiben und für sein Land kämpfen können. Wie der Bruder von Iryna Karpova, Igors Schwager, der aus familiären Gründen nicht floh. „Er wollte nicht weg, obwohl sehr gefährlich.“ Immer wieder schickt er seiner Verwandtschaft im sicheren Deutschland Bilder des Schreckens aus der Verwaltungseinheit („Oblast“) Saporischschja. In diesem Gebiet erlangten allen voran das gleichnamige Atomkraftwerk sowie die Schickssalsstadt Mariupol traurige Berühmtheit. Igor Karpov wollte aber seine Liebsten nicht alleine ihrem Schicksal überlassen – weshalb er mit ihnen ging.
Das erste Ziel auf der Flucht: Polen. Über den Weg bis dorthin möchte Iryna Karpova nicht reden. Obwohl durch die Übersetzung die Wucht der Frage nach den ersten Tagen als Flüchtlinge etwas abgeschwächt wird, versteinert sich das Gesicht der 41-Jährigen regelrecht. Man erwartet, dass sie in Tränen ausbricht – auch, wenn sie über ihren jüngst verstorbenen Mann spricht. Doch alle Emotionen scheinen längst aufgebraucht. Stellvertretend ergreift die Dolmetscherin das Wort: „Geld schnell weg. Sehr schwierig.“ Dann bricht auch Alyona Khalieieva ab, hat sie doch mit ihrer Familie einen ähnlichen Leidensweg hinter sich, der bis heute nachwirkt.
Karpovs „sehr freundlich und zuvorkommend“
Glücklicherweise ist Solidarität nicht ausnahmslos ein Relikt früherer Tage. Und so sorgten helfende Mitmenschen zumindest für etwas Licht in dunklen Zeiten. Stefan Aigner und seine Mutter Margerethe aus Kronwinkel (Gmd. Grainet) engagierten sich vom ersten Tag des Ukraine-Krieges an für Geflüchtete. Sie betätigten sich etwa ehrenamtlich im Aufnahmelager in Röhrnbach. „Dort haben wir Alex, den Mann von Alyona kennengelernt. Über ihn erfuhren wir, dass Familie Karpov in Polen festsitzt.“ Die Aigners überlegten nicht lange. Eine Wohnung wurde gefunden, die Reise hierher organisiert. Mitte März kamen Igor und Iryna mit ihren Kindern Dimitriy (kurz: „Dima“, 19) und Diana (12) nach Deutschland, in den Bayerischen Wald. Nach Vorderfreundorf, im Volksmund „Freidorf“ genannt.
Ihre neue Heimat ist das ehemalige Gasthaus Weiß. „Ich kenne Ludwig, den Wirt, schon ewig. Und er war gleich bereit, sie aufzunehmen“, berichtet Stefan Aigner. Eben jener „Weiß Wiggerl“ führt das Ganze etwas aus. Vor „vier, fünf Jahren“ hat er den Dauerbetrieb eingestellt. Seitdem finden in den Räumlichkeiten nur noch vereinzelt Veranstaltungen statt. Der erste Stock war ohnehin leerstehend, da er selber nur die zweite Etage bewohnt. Als es darum ging, den Flüchtlingen eine Bleibe zu geben, war er sofort dazu bereit. „Die Karpovs sind sehr freundlich und zuvorkommend. Eine sehr starke Familie. Igor hat sofort nach Arbeit gesucht. Man hat gemerkt: Sie wollen es sich erarbeiten, hierbleiben zu dürfen – und sahnen nicht nur Unterstützungen ab. Das haben auch die Dorfbewohner schnell verstanden. Es wird geholfen, wo nötig.“
„Immer müde. Kaputt. Aber keine Pause möglich“
Der 2. Mai hat deshalb nicht nur die Karpovs erschüttert, sondern auch das ganze Dorf. Alyona Khalieieva übersetzt die Worte der Witwe: „Am Feiertag war noch alles gut. Wir waren spazieren. Am Dienstag in der Früh ist Igor zur Arbeit gegangen. Er hat sich schon am Morgen schlecht gefühlt. Unten, beim Eingang, ist er zusammengebrochen.“ Der Notarzt eilte herbei – kam aber zu spät. Todesursache beim 44-Jährigen, der als Helfer in einem Steinmetzbetrieb in Hauzenberg arbeitete: Herzinfarkt. Und das, obwohl der Mann schwere Arbeiten gewohnt und generell kerngesund war. „Extrem harte zwölf Monate. Immer müde. Kaputt. Aber keine Pause möglich“, dolmetscht Alyona Khalieieva.
Iryna, Dima und Diana wirken wie versteinert. In ihrem Inneren scheint eine Welt zusammengebrochen zu sein. Die zweite innerhalb kürzester Zeit. Es fehlt das Oberhaupt, der Rettungsanker. Aber auch der einzige Ernährer der Familie. „Die Bürokratie ist sehr schlimm. Langwierig, kompliziert, pedantisch. Die Gesetzgebung in Sachen Asylrecht ist zuletzt mehrfach komplizierter geworden. Wir haben von 2015 nichts gelernt“, berichtet Stefan Aigner. Der 37-Jährige kümmert sich weiter um die Karpovs. Nach dem Tod von Igor noch intensiver als zuvor. Er hilft bei Behördengängen. Generell bei der Bewältigung des Alltages in einem fremden Land. Sein Urteil fällt vernichtend aus: „Vielen ist es scheißegal, was mit den Flüchtlingen passiert.“
„Ich lerne alles, was zeigen“
So haben die Karpovs seit dem Tod des Ehemanns und Vaters „0,0 Einnahmen“. Bei Einkäufen oder Anschaffungen von Dingen, die im Alltag nötig sind, unterstützen die Aigners oder anderweitige Gönner. Mama Iryna hat sich als Näherin beworben. Eine Zu- oder Absage steht noch aus. Tochter Diana geht zur Schule. Dima hatte in seiner Heimat mit einer Ausbildung zum Sportlehrer begonnen. Eine Fortsetzung in Deutschland ist offen, schier unmöglich. Denn: „Es gibt praktisch keine Sprachkurse mehr. Alle Plätze sind belegt. Und das auf nicht absehbare Zeit“, schildert Stefan Aigner. „Bei uns müsste er zudem studieren, um Sportlehrer zu werden. Doch dafür fehlt das Geld.“
Der 37-Jährige aus Kronwinkel hat deshalb eine Spendenaktion ins Leben gerufen. Mit deren Erlös sollen zumindest kurzfristige auftauchende, finanziellen Löcher gestopft werden. Langfristig versucht er – praktisch als Ersatz für Igor – das Leben der Karpovs auf nachhaltigere Füße zu stellen. Gesucht wird ein Job für Iryna. Und auch für Dima, der sich seiner neuen Rolle nach dem Ableben seines Vaters bewusst ist: „Ich lerne alles, was zeigen.“ Er ist innerhalb eines Jahres älter geworden als nur zwölf Monate. Das ist sein Schicksal – mit dem er nicht hadert. Nicht hadern kann…
Helmut Weigerstorfer
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Hier geht’s direkt zur von Stefan Aigner initiierten Spendenaktion für die Familie Karpov (einfach klicken)