Grainet. Dieser Mann weiß, was er sagt. Es ist nicht nur seine Stärke, Menschen mit Worten in seinen Bann zu ziehen. Holger Lipp beherrscht es auch, selbst scheinbar komplizierte, langatmige Inhalte – wie sein eigenes 54 Jahre andauerndes Leben – auf den Punkt zu bringen. Deshalb verwundert es nicht, dass die Selbsteinschätzung des Graineters ziemlich eindeutig, also kurz und ehrlich, daherkommt: „Mein Leben ist ein Widerspruch in sich.“ Und recht hat er.
Denn zum einen ist Holger Lipp ein Mensch, der ganz bewusst in und mit der Natur lebt. Aus diesem Grund ist er vor knapp 20 Jahren auch auf einem Einsiedler-Hof in Obergrainet gelandet. „Meine damalige Frau und ich haben einen Selbstversorger-Bauernhof gesucht. Das war gar nicht so einfach. Die einzige Option haben wir dann genommen.“ War es am Anfang also Zufall, vielleicht sogar Schicksal, dass Lipp im Bayerwald gelandet ist, erscheint es im Rückblick als Glücksfall.
Fließend Wasser gibt’s nur vor der Haustüre
Denn am Rande des Graineter Kessels fand der einstige Oberbayer all das, was er für ein glückliches Leben braucht. „Ich will wissen, wo mein Fleisch genau herkommt. Apfelsaft soll selbst-gepresst sein. Brot wird selber gebacken und Joghurt selber angesetzt“, beschreibt er im Hog’n-Gespräch seinen selbstgewählten Alltag. Dass sein Zuhause keine Zentralheizung, sondern nur einen Holzofen hat und dass es fließend Wasser nur in einem Wiesengrand vor der Haustüre gibt, sind Dinge, die ihn nicht stören bzw. die er genauso haben will. Das einfache Leben ist sein Ding.
Der 54-Jährige ist somit geradezu prädestiniert für die oft unwirtliche Natur und Landschaft des Bayerischen Waldes. Zumal er von sich behauptet, sehr anpassungs- und lernfähig zu sein. „Ich bin ohne Ahnung von Landwirtschaft hierher gekommen, hatte anfangs nur einen alten Bulldog und einen Anhänger. Die Nachbarn haben mir vieles gezeigt. Und der Rest war Learning by doing. Inzwischen bin ich es, der den Nachbarn viele Dinge zeigt.“ Klingt irgendwie nach Aussteiger-Dasein. Aber komplett losgesagt hat sich Holger Lipp nicht von dem Alltag, den wir als „normal“ bezeichnen.
Das Leben des 54-Jährigen ist einfach, aber genauso, wie er es will
Seine beruflichen Tätigkeiten haben nämlich sehr wohl mit dem gesellschaftlichen Hamsterrad zu tun, das sich immer schneller dreht. Holger Lipp war zunächst Grafikdesigner, genauer gesagt Layouter von Zeitschriften, Magazinen und Büchern zum Thema Computer/IT. „Die Auftraggeber aus München haben mir Texte und Bilder geschickt. Ich habe sie dann grafisch aufbereitet und zurückgesendet.“ Im Einöd-Hof ohne fließend Wasser und ohne Zentralheizung stand also schon in den Anfangszeiten von Laptop, PC & Co. ein Rechner. „Ich war einer der ersten in Grainet überhaupt, der ISDN und später DSL hatte. Mir ist schon klar, dass sich der Selbstversorger-Hof und mein Beruf etwas schneiden. Aber: Die Mischung macht’s.“
14. internationaler Speaker Slam – Holger Lipp ist ab 3:40:30 zu sehen
Seine paradox wirkende Biographie hat dafür gesorgt, dass Holger Lipp unglaublich viele und vielschichtige Erfahrungen sammeln konnte. „Ea woas, wias Lem laffd“, würde man im Volksmund über ihn sagen. Der oberbayerische Waidler hat diesen Vorteil erkannt – und sich nach dem Ende seiner Layouter-Zeit („Die Auftragslage wurde wegen des Internets schlechter„) als Coach probiert. Und das gleich so erfolgreich, dass er inzwischen davon lebt. „Heimlich, still und leise geht es uns allen psychisch schlechter. Die allgemeine Grundenergie ist weniger geworden. Und genau hier setze ich als Speaker und Coach an.“
Er ist eine Art Kummerkasten
Lipp ist eine Art Kummerkasten. Hatte jemand einen schweren Schicksalsschlag (wie einen Unfall) erlitten, bietet er Gespräche an, um gewisse Traumata aufzuarbeiten. „Die Rückkehr in ein normales Leben dauert dann vielleicht nur sechs Wochen – und nicht Jahre, die man auf dem Sofa liegt und nicht weiter weiß. Und dafür sind die Leute bereit, auch etwas zu zahlen.“ Der Graineter qualifiziert sich für diesen Job aber nicht nur aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Vorprägung. Sondern auch, weil er ein Rede-Talent hat, das er nach und nach verfeinerte.
Und der „andere“ Holger Lipp (Fotos: Justin Bockey)
Das Multitalent ist nämlich auch professioneller Redner und Rhetorik-Trainer. „Lampenfieber, Redeangst – ich kann hier helfen.“ Dass er selber ein Experte auf diesem Feld ist, machte Holger Lipp jüngst beim 14. internationalen Speaker-Slam deutlich, wo er den „Excellence Award“ überreicht bekam. Bei diesem Rednerwettstreit schaffte er es innerhalb von vier Minuten, die Zuschauer vor Ort (und weltweit via Livestream zugeschaltet) für sich zu gewinnen. „Eine gute Rede holt das Publikum ab und bringt es mit einem Mehrwert nach Hause.“ Dieser Preis sei natürlich „kein Nobelpreis oder Doktortitel“, aber eine Bestätigung dafür, dass Holger Lipp weiß, was er wie sagt…
Helmut Weigerstorfer