Die WM 2022, der DFB, die FIFA – im ersten Teil des großen Hog’n-Interviews thematisierte Thomas Hitzlsperger als Experte der Szene allen voran die elementaren Themen des Fußballs. Nun, im zweiten Teil, geht es etwas subjektiver aus Sicht des 40-Jährigen zu: Der Ex-Profi, Ex-Funktionär und derzeitige TV-Experte beantwortet die Frage, ob der Fußball tatsächlich so tolerant ist, wie er sich selber verkauft. Er redet zudem ganz offen über sein Coming-Out als Homosexueller. Seiner Meinung nach ist es nicht immer ein Problem der Gesellschaft, dass sich so wenige Menschen zu ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe bekennen – sondern oft ein individuelles…
„Immer wieder Grenzüberschreitungen“
Wie tolerant in vielerlei Hinsicht ist der Fußball aus Ihrer Sicht tatsächlich?
Ich fühle mich wohl im Fußball-Betrieb. Viele Akteure haben mehr im Sinn, als nur den Wettkampf. Aber es gibt auch immer wieder Grenzüberschreitungen. Allgemein gesagt, ist die Fußball-Gesellschaft genauso viel bzw wenig tolerant wie der Rest der Gesellschaft.
Sie haben sich erst nach Ihrer Karriere geoutet, wohl aus Angst vor Anfeindungen. Ist die beliebteste Sportart der Welt nun schon soweit, dass sich selbst in den europäischen Topligen ein noch aktiver Spieler zu seiner Homosexualität bekennen kann?
Kleine Korrektur: Mein Coming Out nach und nicht während meiner Karriere fand nicht aufgrund von Angst vor Anfeindungen statt. Ich stelle grundsätzlich fest, dass es für viele homosexuelle Menschen ein Problem ist, offen dazu zu stehen. Würde sich ein aktiver Fußballer aus Angst vor Anfeindungen nicht outen, könnte er das doch locker nach der Karriere machen – denn dann ist er ja keinen Fans mehr ausgesetzt. Doch auch das ist nicht der Fall. Oder kennen Sie einen bekannten Fußballer, der sich nach seiner Karriere geoutet hat?
„Ich lebe ohne Zwänge und Einschränkungen“
Thomas Hitzlsperger…
Ja, genau (schmunzelt). Im Ernst: Wir reden hier von einem gesellschaftlichen Problem. Homosexuelle haben nach wie vor Angst davor, sich zu outen – im privaten Umfeld, am Arbeitsplatz. Das mit Fußball oder Bekanntheit zu tun. Was bei einem Sportler hinzukommt, ist die Sorge, dass man vielleicht nicht mehr gut performt, weil der Druck von außen zunimmt. Die zentrale Frage lautet: Ist die Gesellschaft bereit für ein Coming-Out?
Ist sie es?
Aus meiner Sicht: Ja. Ich lebe ohne Zwänge und Einschränkungen, habe mittlerweile viele Funktionen im Fußballbetrieb ausgeübt und freu mich ganz besonders, dass ich für andere ein Vorbild sein kann.
Sport ist Kraftvergleich. Schwächen sind verboten. Ist es eine Schwäche, wenn man sich outet?
Lässt man dieses Narrativ zu, dann ja. Einige sind nach wie vor folgender Meinung: ‚Sport, Fußball ist was für Harte. Da wird gegrätscht, gekämpft. Und Schwule können das nicht.‘ Diese Leute muss man aber reden lassen und den Gegenbeweis antreten. Auch mir wurde prophezeit: ‚Wenn er sich outet, ist er raus aus dem Fußballgeschäft‘. Das war aber nicht so. Ich will nix schönreden. Es gibt natürlich auch negative Beispiele. Aber: Meine Erfahrung lehrt mich, dass man es sich schlimmer ausmalt, als es tatsächlich ist.
Wie viel Politik im Sport ist angemessen?
Sehen Sie sich als Vorbild?
Für manche bin ich das. Und es ist keine Bürde, sondern eine besondere Ehre.
Gefühlt war die Schnittmenge zwischen Sport und Politik nie so groß wie zuletzt. Ist das überhaupt Sinn der Sache? Gehören beide Bereiche nicht klarer voneinander getrennt?
Politik und Sport waren schon immer eng miteinander verbunden – und werden es auch immer bleiben. Wir müssen nur schauen, welche sportpolitischen Aspekte der Gesellschaft dienen und welche kontraproduktiv sind. Es ist völlig legitim, dass Botschaften gegen Rassismus und für Inklusion öffentlich gemacht werden. Kommt die LGBTQ-Bewegung daher und will Regenbogen-Farben, geht das manchen zu weit. Und genau hier muss man abwägen: Wie viel Politik im Sport ist angemessen und zulässig? Darüber werden wir wohl noch länger diskutieren.
Für seine Offenheit, was seine Sexualität betrifft, wurde der 40-Jährige gefeiert
Und zwar?
Hier braucht es sachliche Diskussionen. Die FIFA würde ich darüber nicht alleine entscheiden lassen.
Und da sind wir schon beim Schlagzeilen-trächtigen „Binden“-Thema.
Viel schlechter hätte es nicht laufen können. Im Vorfeld hätte das Thema geklärt werden müssen. Für mich steht, wenn der Ball rollt, das Spiel im Vordergrund. Zwischen den Spielen muss man dann allerdings schauen, was geht – und was nicht geht. Und was sinnvoll ist. Dann sind wir wieder beim Abwägen. Von einem gemeinsamen Verständnis sind wir noch weit enfernt. Insgesamt muss man die verbindende Kraft des Fußballs einfach nutzen – ohne das Spiel zu benutzen.
„Die Summen werden noch irrwitziger, dennoch…“
Die Fußballer sind ein Querschnitt der Gesellschaft – es sind intelligente dabei und weniger intelligente. Sie alle eint nur ihr Talent, mit dem Ball umgehen zu können. Kann ich dann von jedem Aktiven erwarten, dass er über den Tellerrand hinausblickt?
Unterschreibt ein Spieler bei einem Verein, verpflichtet er sich praktisch dessen Leitbilder zu übernehmen. Klar: Nicht jeder Fußballer ist in der Lage, eine klare Sicht auf die Welt zu entwickeln. Erstaunlich ist dabei: Zu ihrem eigenen Vorteil wissen einige Fußball-Profis sogleich, wie sie sich zu verhalten hat und welche politischen Statements taugen.
Abschließend: Wie blicken Sie in die Zukunft des Fußball-Zirkus‘?
Mein Gefühl sagt mir, dass die Summen noch irrwitziger werden. Denn: Wer soll diese Entwicklung stoppen? Fußball bleibt ein großartiges Spiel und es ist vermarktbar. Es ist schwierig, die unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen. Es ist wohl ähnlich wie in der Gesellschaft. Die Schere wird noch weiter auseinander. Aber…
Aber?
Ich bin nach wie vor fasziniert vom Profifußball. Wenn Bayern gegen Paris spielt, bin ich elektrisiert. Rollt der Ball, werde ich zum Fan. Klar, der Fußball ist ein Milliarden-Business. Mich verzaubert das Spiel aber nach wie vor.
Ein versöhnlicher Abschluss. Vielen Dank für das Gespräch – und alles Gute für die Zukunft!
Interview: Helmut Weigerstorfer
_________
Hier geht’s direkt zum ersten Teil des Interviews (einfach klicken)