Mit dem Namen Thomas Hitzlsperger verbindet man in erster Linie den erfolgreichen Profifußballer. „The Hammer“, wie der gebürtige Münchener aufgrund seines strammen Schusses auf der Insel genannt wurde, absolvierte 131 Bundesliga-Spiele (für Stuttgart und Wolfsburg), 117 Premier-League-Partien (für West Ham, Everton und Aston Villa) sowie vier Begegnungen in der Serie A (für Lazio Rom). Zudem war der Mittelfeldspieler 52 Mal für die deutsche Nationalmannschaft im Einsatz, nahm an der WM 2006 und der EM 2008 teil. Man kann also getrost von einer großen Karriere sprechen.
Nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn trat Hitzlsperger nicht nur als Funktionär beim VfB Stuttgart in Erscheinung. Er war einer der Ersten aus dem Fußballbereich überhaupt, der sich offen als homosexuell outete. Für diesen mutigen Schritt im Jahr 2014 wurde er gefeiert – und zum Vorbild unzähliger gleichgeschlechtlicher Menschen. Generell ist der 40-Jährige – u.a. in seiner Rolle als TV-Experte – ein kritischer Zeitgeist mit klarer Meinung. Das wird auch im Interview mit dem Onlinemagazin da Hog’n deutlich. Im ersten Teil des Gespräches blickt „Hitz“ auf die vieldiskutierte WM in Katar zurück. Zudem durchleuchtet er die skandalträchtigen Apparate des DFB und der FIFA.
Begriff „Die Mannschaft“: „Kann man durchaus mal probieren“
Herr Hitzlsperger: Wenn Sie den Begriff „Die Mannschaft“ hören, dann…
… (schmunzelt) denk ich nicht mehr automatisch an die Nationalmannschaft, sondern an Fußballmannschaften generell. Die Nationalelf hat sich ja inzwischen von diesem Begriff verabschiedet, was eine breite öffentliche Zustimmung gefunden hat.
Insgesamt eine aberwitzige Idee, die – Gott sei Dank – inzwischen begraben wurde, nicht?
In der Zeit, in der „Die Mannschaft“ entstanden ist – also nach dem WM-Titel 2014 – kann man sowas durchaus mal probieren. Irgendwann muss man dann allerdings akzeptieren, dass diesen Marketing-Schachzug nur wenige gut gefunden haben. Der Ansatz ist nicht verwerflich, aber man muss dann auch konsequent sein und es wieder bleiben zu lassen, wenn es nicht funktioniert.
Nach dem Vorrunden-Aus bei der WM war eine gewisse Revolutionsstimmung beim DFB auszumachen. Am Ende trat aber nur Oliver Bierhoff zurück. Hansi Flick blieb Bundestrainer. Wurden tatsächlich alte Zöpfe abgeschnitten? Oder nur eine alte Suppe etwas neu abgeschmeckt und wieder aufgewärmt?
Die Lage war und ist nicht so desaströs, wie manche sie interpretiert haben. Ich bin der Auffassung, dass wir nach wie vor viele gute Talente haben, die zu den besten Europas oder gar weltweit gehören. Man hat erkennen müssen, dass die Nationalspieler zwar technisch gut sind, aber gewisse andere Aspekte fehlen. Insgesamt hat es deshalb gar keine Revolution gebraucht. Alle haben die Ohren gespitzt, vieles wurde hinterfragt – das ist gut so und vorerst ausreichend. In 18 Monaten steht ein Heim-Turnier an. Bis dahin muss der Kader entwickelt werden und die Defizite aufgearbeitet sein.
Deutsche Tugenden? „Wir sind keine Turniermannschaft mehr“
Welche Reformen beim Deutschen Fußballbund sind aus Ihrer Sicht noch unbedingt nötig?
Ich bin ja nicht dafür verantwortlich, solche Dinge zu entscheiden (schmunzelt). Deshalb bin ich etwas zurückhaltend. Nur soviel: Wir haben Talente gut ausgebildet, in der Ausbildung aber gewisse Schwerpunkte vernachlässigt. Zum Beispiel Mittelstürmer oder das Thema Eigenverantwortung. Weltmeister Argentinien und WM-Halbfinalist Marokko haben es vorgemacht. Der Fußball der deutschen Nationalmannschaft hat sich verändert. Er ist mittlerweile technisch anspruchsvoll, aber wir haben auch etwas verloren: Wir sind keine typische Turniermannschaft mehr. Wir haben nicht mehr die typischen deutschen Eigenschaften, für die wir lange gefürchtet waren. Diese Basics brauchen wir aber wieder.
Lebt der deutsche Fußball nur von der Breite? Wir sind ja eines der größten Länder Europas. Fehlt es in der Spitze? Kroatien hat es mit nicht einmal vier Millionen Einwohnern ins Halbfinale geschafft – wir sind mit über 80 Millionen nach der Vorrunde ausgeschieden…
„Neuendorf trifft Entscheidungen“
So einfach ist das nicht. In Deutschland ist es etwas komplexer – eben weil es so groß ist. Es gibt Vor- und Nachteile des föderalen Systems mit den Landesverbänden. Einer der Nachteile: Entwicklungen und Veränderungen dauern etwas länger. Bis man Konzepte und Neuerungen durch die vielen Gremien bringt, vergeht viel Zeit. Da haben kleinere Länder wie eben Kroatien einen Vorteil. Man muss aber auch sagen, dass Spitze und Breite einander brauchen. Ohne Spitze keine Breite – und umgekehrt. Daraus muss Stärke entwachsen.
Wie lässt sich diese Struktur ändern, also vereinfachen?
Das ist die wohl größte und schwierigste Aufgabe von DFB-Präsident Bernd Neuendorf. Er muss es schaffen, den Vorteil, dass wir so viele Menschen hier in Deutschland haben, auch zu einem Vorteil für den Fußball machen. Ich schätze Bernd Neuendorf sehr als Person. Er soll den Spagat schaffen, sich in der Nähe der Profis zu bewegen, aber die Amateure nicht außen vor zu lassen.
Bierhoff-Nachfolger: „Hitz“ wurde nicht gefragt
Trügt der Schein – oder ist beim DFB nach schwierigen Zeiten nun wieder Ruhe eingekehrt?
Definitiv hat es sich beruhigt. Bernd Neuendorf repräsentiert den DFB hervorragend. Er hört zu, trifft aber auch Entscheidungen. Aber wir haben jetzt ein bis dato nicht aufgetauchtes Problem: Die Männer haben drei Turniere in den Sand gesetzt…
Wäre Thomas Hitzlsperger der bessere Oliver Bierhoff gewesen als Rudi Völler?
(lacht) Ich weiß nicht, was das Anforderungsprofil war, aber Rudi hat seine Qualitäten. Er wird dem Team mit seiner Erfahrung guttun.
Wurden Sie denn gefragt?
Es gab dazu keine Gespräche.
Was denken sie: Stammt „Tante Käthe“ aus der Kategorie „Weiter so“?
Die Zielsetzung ist wohl vorerst kurzfristig angelegt – Blickrichtung EM 2024. Wir wollen wieder eine Mannschaft, die hungrig ist und mit der sich die Fans identifizieren können. Rudi Völler steht für Identifikation, ist ein Sympathieträger. Es geht also mehr ums Atmosphärische als Basis für den Erfolg. Ich denke nicht, dass er den Verband rundum erneuern will. Ziel ist es, gemeinsam mit Hansi Flick das Team wettbewerbsfähig zu machen. Und das wünschen sich alle deutschen Fußballfans.
Sind Hansi Flick und Rudi Völler nicht einen Ticken zu viel Sympathie?
Nein. Beide haben bewiesen, dass sie erfolgreich sein können. Und nur das zählt. Sie können nett und sympathisch sein, aber auch durchgreifen, wenn nötig.
„Die WM ist nicht mehr der Gradmesser für Entwicklungen“
Wie blicken Sie in sportlicher Hinsicht auf die WM in Katar zurück?
Aus deutscher Sicht: enttäuschend. Ein paar Parameter – wie das Herausspielen der Chancen – waren ja ganz gut. Aber das Wesentliche hat gefehlt. Eine Enttäuschung, aber kein Desaster in allen Bereichen, wie schon vorher angesprochen.
Und das generelle sportliche Resümee?
Mittlerweile ist es so, dass die WM nicht mehr der Gradmesser ist für Entwicklungen. Ich fand es interessant zu beobachten, dass es Argentinien geschafft hat. Für Fußball-Fans ist es eine tolle Geschichte, dass Messi Weltmeister geworden ist. Marokko hat begeistert. Aber es war insgesamt nichts Neues oder Innovatives dabei. Trendsetter ist inzwischen der Vereinsfußball – vor allem in der Champions League.
Wie fällt ihr Fazit aus moralisch-ethischer Sicht aus?
Ich habe ja bereits während des Turniers klar und deutlich gesagt, was mich stört. Und dazu stehe ich noch immer. Aus unserer Sicht hatte die WM wenig Verbindendes. Katar hat stets auf die positiven Veränderungen verwiesen. Fans aus demokratischen Staaten wie Deutschland, Australien, England oder etwa Dänemark hingegen haben die bestehenden Missstände weiterhin kritisiert und viele andere teilnehmende Nationen wiederum wollten nur über Fußball reden. Es wurde viel diskutiert und übereinander geredet. Ein richtiges Ziel, einen gemeinsamen Nenner, hat man aber nicht erreicht. Am Ende hieß es an die Europäer und vor allem an die Deutschen: hättet ihr euch doch auf Fußball konzentriert!
Katar: „Diskussion war mühsam und hat viel Kraft gekostet“
Es wurde während der Sportartveranstaltung soviel wie noch nie über Dinge abseits des Feldes geschrieben und diskutiert. Viele gelobten Besserung. Was ist aus Ihrer Sicht davon übriggeblieben?
Die allgemeine Prognose ist eingetroffen, und das ist – so ehrlich muss man sein – auch wenig überraschend: Das Turnier ist vorbei, der öffentliche Fokus verlagert sich. Reiche Staaten werden weiter in solche Großereignisse investieren und dann liegt es an den Verbänden, bei der Vergabe genau darauf zu achten, wofür man sich entscheidet. Die WM hat viel verändert, Fußballgroßereignisse werden immer kritischer begleitet.
Klingt deprimierend.
Die Diskussion war mühsam und hat viel Kraft gekostet. Sie kam aber aus tiefster Überzeugung. Ich werde mich weiter für Minderheiten einsetzen. Und noch eine Erkenntnis: Es ist schon erstaunlich, wie viele Ex-Profis ohne Haltung durchs Leben gehen.
„FIFA tut auch Gutes“
Ist diese Erkenntnis so neu?
An sich nicht. Vielmehr in ihrer geballten Art und Weise.
Lernt FIFA-Boss Gianni Infantino noch dazu – oder ist das Kind bereits komplett in den Brunnen gefallen?
Er ist gar nicht zugänglich für die Diskussion, die bei uns hier geführt wird. Irgendwie lebt er in seiner eigenen Welt und muss diese ja auch nicht verlassen, weil sie für ihn funktioniert. Er macht die FIFA immer größer und kann dadurch immer mehr Geld vergeben. Genau deshalb erfährt er einen so großen Zuspruch und tut so vielen Menschen einen Gefallen. Dass dabei u. a. die Gesundheit der Spieler riskiert wird, weil sie immer mehr spielen müssen, scheint ihn nicht zu stören.
„Entsetzt, dass solche Gebaren noch möglich sind“
Würde denn ein neuer Weltverbands-Chef tatsächlich vieles anders machen – oder kann nur einer nachkommen, der ähnlich tickt wie Infantino?
Eher Letzteres. Keine Frage, die FIFA tut auch Gutes. Sie fördert mit Geld viele gute Projekte. Aber die Struktur des Verbandes fördert ja auch den Typus Mensch, der auf Macht ausgelegt ist. Ich bin echt entsetzt, dass solche Gebaren in der heutigen Zeit überhaupt noch möglich sind. Es gibt scheinbar mehr Menschen, die versuchen, das Ganze zu kopieren als Menschen, die es ändern wollen. Die Korruption in der FIFA in all den Jahren ist vielfach dokumentiert, aber zu wenige stören sich.
Interview: Helmut Weigerstorfer
Im zweiten Teil des Interviews beschäftigt sich Thomas Hitzlsperger mit der Frage, wie tolerant der Fußball tatsächlich ist. Außerdem blickt er auf sein Coming Out und die Folgen zurück…
Ein sehr lesenswertes Interview. Thomas Hitzlsperger ist absolut sympathisch und ich sehe ihn auch gerne als Kommentator bei Fussballspielen. Er antwortet intelligent und bleibt trotzdem fair (gelingt auch nicht jedem). Ich freue mich schon auf den zweiten Teil des Interviews.