Passau/Rotthalmünster. Die Musikbranche erscheint auf den ersten Blick wie eine Traumwelt. Geld, tausende Fans und ausverkaufte Konzerte sind das, wovon viele Nachwuchssänger träumen. Doch der Weg dahin ist hart. Denn was vordergründig so perfekt erscheint, ist in Wirklichkeit eine Welt voller Enttäuschungen und Einsamkeit, für die man viel Mut braucht…
Um sie herum ist es laut. Alle um sie herum reden und lachen und werden immer lauter bei dem Versuch, die Nachbargespräche zu übertönen. Die Luft ist stickig in dem kleinen Raum mit der niedrigen Decke. Lächelnd greift sie nach dem Mikrofon. Seit Tagen freut sie sich auf diesen Auftritt. Kurz schließt sie die Augen, dann holt sie Luft – und fängt an zu singen.
„Dachte immer, ich bin nicht gut genug“
Michelle Stumpf steht an diesem Abend mit ihrer Band auf der Bühne im „Rio„, einer kleinen Bar in Passau. Wobei – eigentlich ist es gar keine Bühne. Die Bedienung hat kurz zuvor noch einige Tische zur Seite geschoben. Dort stehen jetzt einige Instrumente. Per Zufall hat die kleine Vierer-Band zusammengefunden, es ist erst ihr dritter gemeinsamer Auftritt. Michelle hat sich extra vorher noch umgezogen, steht in ihrem langen, geblümten Kleid zwischen den Kabeln der Mikros und Verstärker. Sie ist klein und zierlich – und aufgrund ihrer dunklen Augen hat sie dieses leicht fernöstliche Aussehen, das unweigerlich die Blicke auf sich zieht.
Zaghaft, fast schüchtern, singt Michelle die ersten Töne des Songs. FourFiveSeconds von Rihanna, Kane West und Paul McCartney. Einige Gespräche verstummen. So richtig viele Zuhörer sind noch gar nicht da, vielleicht 30 Personen, die meisten beachten die Band kaum. Aber die junge Frau aus Rotthalmünster singt einfach weiter, wird sicherer. Mit ihrer klaren, kräftigen Stimme trifft sie jeden Ton. Eigentlich würde sie das Mikro gar nicht brauchen. Die Aufregung, die bis kurz vor dem Auftritt noch da war, ist verflogen. Sie scheint nun vollkommen in der Musik versunken.
Seit ihrer Kindheit will Michelle Sängerin werden. Das beweist etwa das Foto, auf dem sie vor ihrem Kinderpiano mit Mikrofon steht und singt. Nach dem Abi hat sie sich dann bei „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS) beworben. Sie wollte einfach mal alles auf eine Karte setzen und schauen, wie weit sie kommt. Prompt wurde sie zum Casting eingeladen und kam sogar noch eine Runde weiter, bevor die Jury sie dann nach Hause schickte. Ein Wendepunkt für sie. „Vor DSDS habe ich mich nie getraut mein eigenes Ding zu machen. Ich dachte immer, ich bin nicht gut genug“, erzählt Michelle über die Zeit vor dem Casting im vergangenen Jahr.
„70 Prozent Marketing und 30 Prozent Kunst“
Dass es hart ist, als Sängerin erfolgreich zu werden, kann man sich denken. Da ist der ständige Druck bekannt(er) zu werden, herauszustechen, besser zu werden. Dafür muss man gemacht sein. Oder es unbedingt wollen. So wie Michelle. „Ich habe schon immer gewusst, dass ich beruflich was Kreatives machen will. Wenn du dann aber ständig Sätze hörst wie ‚Lern was Anständiges‘, ‚Mach was Handfestes‘ oder ‚Von der Musik kannst du auf Dauer nicht leben‘, dann wird deine Euphorie unweigerlich gedämpft. Doch manchmal muss man sich einfach trauen, sein Ding durchziehen“, erzählt sie. Trotzdem studiert sie jetzt noch nebenbei Journalistik und PR. Nur zur Sicherheit. Falls das mit der Gesangskarriere nicht klappt.
Einige Tage vor ihrem Auftritt im „Rio“ trifft sich die Band namens „Rionero“ auf der Innwiese in Passau zum Proben. Ein warmer Spätsommerabend, die Leute sitzen überall auf der Wiese verteilt auf ihren Picknickdecken. In ihrem orangenen Kleid sticht Michelle schon von Weitem heraus. Omar, der Gitarrist, stimmt die ersten Akkorde an. „Back to Black“ von Amy Winehouse. Sie fängt an zu singen. Wenn man die Augen schließt, könnte man meinen, die „Queen of Jazz“ persönlich würde dort vorne stehen. Zumindest fast. Unweigerlich drehen sich alle zu der kleinen Gruppe um. Zwei Jugendliche bleiben stehen und tanzen mit. Sie lächelt. Etwas Anerkennung tut immer gut.
Die Konkurrenz schläft nicht, wie man so schön sagt. Allein wenn man sich nur die Anzahl der Sänger und Bands anschaut, scheint das auf die Musikindustrie noch mehr zuzutreffen als auf andere Branchen. Dabei ist das Musikbusiness letzten Endes auch nur ein Business. Und wer das verstanden hat, hat schonmal gute Chancen. Lukas Schätzl vom Verband für Popkultur Bayern weiß, worauf es ankommt, wenn man als Sänger Erfolg haben will: „Natürlich braucht man musikalisches Talent. Und Glück. Und dann braucht man noch die richtigen Kontakte.“ Er fügt hinzu: „Allerdings besteht Musik machen heutzutage aus 70 Prozent Marketing und 30 Prozent Kunst.“ Wer also erfolgreich werden will, braucht vor allem eins: das Talent zur Selbstvermarktung.
Die alle mindestens genauso talentiert sind…
Dass Michelle dieses Talent hat, beweist sie auf der Social-Media-Plattform Instagram. Seit ihrer DSDS-Teilnahme bei Deutschland sucht den Superstar hat sich die Anzahl ihrer Follower verdoppelt. „An dem Tag als die DSDS-Folge im Fernsehen ausgestrahlt wurde, konnte ich mein Instagram nicht mehr öffnen, weil so viele Leute gleichzeitig auf meinem Profil waren“, erzählt sie. Aber die Follower wollen auch unterhalten werden. Regelmäßig postet sie Bilder und Videos von sich. Alltagsmomente, Fotos mit ihrer Familie. Auch professionelle Modelbilder. Oder sie veröffentlicht Cover-Versionen von bekannten Songs via TikTok. Der große Durchbruch lässt allerdings noch auf sich warten. Denn was Michelle kann, können auch Tausende anderer Sängerinnen und Sänger, die alle mindestens genauso talentiert sind.
Zwei Tage vor dem Auftritt trifft sich sie noch ein weiteres Mal mit der Band auf der Innwiese. Einige Songs sitzen noch nicht perfekt. Außerdem hat sie mit den Nachwirkungen einer Erkältung zu kämpfen. Und manchmal „hängt“ auch noch der Text. Sie will, dass am Tag des Auftritts alles reibungslos funktioniert. Fast eine Viertelstunde basteln Helena, die Freundin des Gitarristen, die an dem Abend die Background-Stimme liefern wird, und Michelle an dem Song „Halo“ von Beyoncé – bis endlich alles so klingt, wie sie sich das wünscht. Immer wieder brechen sie ab, fangen von vorne an, brechen wieder ab. Einige Zeit hört man nur: „I can feel your halo, halo, halooo, I can see your halo, halo, halooo…”. Kaum jemand hört mehr zu.
Plötzlich kommt eine junge Frau auf die Gruppe zu. Sara. Sie kennt die Bandmitglieder und singt selber auch. Obwohl sie nichts mit dem Auftritt zu tun hat, steigt sie wie selbstverständlich in die Probe mit ein. Niemand protestiert. Kurzerhand wird die Probe zu Saras Bühne. Ihre Stimme hat diesen besonderen Klang, diesen leicht heiseren Touch. Sie singt nicht perfekt nach Plan, sondern improvisiert, experimentiert spielerisch. Alle um sie herum hören ihr zu. Michelle singt nur noch leise mit. Die Konkurrenz schläft nie…
„Gefühle ausdrücken und Geschichten erzählen“
Dann stimmt der Gitarrist „Celia“ von Camila Cabello an. Ein Lied auf Spanisch, das von einer Frau handelt, die es schafft, andere in ihren Bann zu ziehen. Ein typischer Latino-Song. Flott und heiter. Die 20-Jährige fängt an zu singen. Sie mag das Stück, es macht Spaß, man kann sich gut dazu bewegen. Innerhalb von Sekunden bekommt sie die gesamte Aufmerksamkeit zurück. Die Leute um sie herum beginnen zur Musik zu wippen. Einige fangen an zu tanzen. Michelles gute Laune und der Spaß, den sie am Singen hat, sind ansteckend. Selbst der Junge, der bis eben noch mit eher grimmigem Blick auf der Bank am Rande der Wiese saß, kann nicht widerstehen – und steigt mit ein.
„Sie versteht die Musik. Wenn sie anfängt zu singen, dann ist sie sofort drin“, kann auch ihre Mutter bestätigen. Sie begleitet ihre Tochter schon seit Beginn ihrer Gesangskarriere zu den Auftritten. „Sie hatte von Anfang an dieses Talent. Sie schafft es, der Musik eine Seele zu verleihen – und das berührt die Leute“, spricht ihre Mutter aus Erfahrung. Sie hat bei ihrem Gesang schon selbst die ein oder andere Träne vergossen. Auch Michelles langjährige Gesangslehrerin Sabrina Reischl weiß, was einen guten Sänger und eine gute Sängerin ausmacht: „Du musst vor allem Spaß am Singen haben. Und du musst verstanden haben, worum es dabei geht. Nämlich darum, Gefühle auszudrücken und Geschichten zu erzählen.“
Doch: Ein bisschen Talent für Musik und Business, die richtigen Kontakte, Spaß am Singen – und dann kommt der Erfolg von ganz alleine? Im Prinzip ist es so, kann Musikproduzent Julian Scheufler bestätigen, der in München in seinem Tonstudio „Südpark Studio“ schon viele Talente kommen und gehen sah. „Wenn man es wirklich will und sich dahinterklemmt, dann ist es gar nicht so schwer mit seiner Musik erfolgreich zu werden“, erklärt er. Allerdings: „Natürlich kommt es drauf an, wie man Erfolg für sich definiert. Von seiner Musik leben zu können, ist aber tatsächlich einfacher als man denkt.“ Den ganz großen Durchbruch schaffen trotzdem nur wenige.
Eine Welt aus Luxus und Party – scheinbar
Wer sich einmal die Welt der wirklich bekannten Sängerinnen anschaut (wie zum Beispiel Rihanna oder Beyoncé, zwei von Michelles Vorbildern) oder auch die der deutschen Stars (wie Lena oder Lotte), der könnte schnell den Eindruck bekommen, dass die Musikbranche eine Welt voller Partys und Luxus ist. Seit man als Fan über Social Media scheinbar private Einblicke in die Welt der Stars bekommt, verfestigt sich diese Vorstellung weiter.
Doch Michelle kennt auch die andere Seite der Branche. Etwa, als sich ein kanadisches Musiklabel bei ihr gemeldet hat und ihr anbot, Songs zu produzieren – ohne persönliche Betreuung und gegen 5.000 Dollar Gebühr. Oder als sie per Instagram von einem Produzenten aus den Niederlanden angeschrieben wurde, dem sie dann ohne vertragliche Absicherung Stimmaufnahmen geschickt hat. „Es gibt wirklich viele Leute in der Musikbranche, die versuchen, dich über den Tisch zu ziehen“, erzählt sie. Da als Neuling die richtigen Ansprechpartner zu finden ist schwer. Denn einerseits will man ja die Kontakte – und auf der anderen Seite ist es nicht immer leicht zu erkennen, wem man vertrauen kann.
Zwei Tage nach dem Auftritt im Rio ist Michelle auf dem Weg zu ihrer Gesangslehrerin. Sabrina Reischl hat ein kleines Studio in einem Hinterhof in Passau. Der große, helle Raum mit der hohen Decke wirkt fast ein bisschen leer. Die große Fensterwand an der Rückseite wird von einem altmodischen, weißen Häkelvorhang verdeckt. Sabrina strahlt, als sie Michelle sieht. Mit ihren langen, schwarzen Haaren und dem sorgfältig abgestimmten Outfit erinnert sie ein bisschen an eine Ballett-Lehrerin. Sabrina setzt sich ans Keyboard, das in der Ecke vor dem Fenster steht – und die beiden singen sich ein. Michelle will heute noch ein paar ihrer Cover-Versionen filmen. Sie wirkt entspannt und locker. Als sie sich bei einer der Aufwärmübungen „versingt“, brechen beide in Gelächter aus.
„Dafür sind sie zu weit weg“
In Sabrina hat die 20-Jährige eine große Stütze in dem ganzen Chaos der Musikwelt gefunden. Sie ist selbst Musical-Darstellerin, weiß, was es bedeutet auf der Bühne zu stehen – und wie hart der Weg zum Erfolg manchmal sein kann. Als Michelle über die vergangenen Jahre spricht, kommen ihr die Tränen: „Sabrina war für mich der Schlüsselpunkt. Sie hat mir geholfen an mich zu glauben und nicht auf andere zu hören.“ Zum Beispiel als sie sich für ein Band-Casting beworben hat und abgelehnt wurde. Denn eins hat die junge Frau aus Rotthalmünster bereits jetzt gelernt: „Du musst es immer wieder versuchen und versuchen und nach einer Absage immer wieder aufstehen. Das prägt dich. Und du musst lernen damit umzugehen, sonst kannst du in dem Business nicht überleben.“
Michelle steht jetzt vor dem altmodischen Vorhang und schaut in die Kamera, die Sabrina direkt vor ihr aufgebaut hat. Um sie herum ist es vollkommen leise. Heute singt sie ohne Mikro. Der große, leere Raum mit der hohen Decke sorgt für eine besondere Akustik. Kurz schließt sie die Augen, dann holt sie Luft und fängt an zu singen. „Clown“ von Emeli Sandé. Darin heißt es: „Ich denke, es ist lustiger von dort, wo ihr steht. Bahn frei für meine Bruchlandung. Ich werde euer Clown sein, dort hinter dem Glas.“
Worte, die Michelle tief in ihrem Inneren spürt. Der Druck immer perfekt zu sein. Kaum jemand, der versteht, wie hart es wirklich ist, seine Leidenschaft zu leben. Alle sehen immer nur die glamouröse Welt der Musik. Doch es ist auch eine Welt voller Inszenierung. Sie singt immer weiter. Ihre Augen lassen ihren Schmerz erkennen. Sie ist jetzt vollkommen in der Musik versunken. Am Ende des Songs heißt es: „Aus der Ferne ist meine Wahl einfach. Aus der Ferne kann ich sie unterhalten. Aber sie können es auf keinen Fall fühlen. Dafür sind sie zu weit weg.“
Leontien Heidemann