Sie kleben sich an Fahrbahnen und an Kunstwerken fest, klettern aufs Brandenburger Tor, besetzen Universitäten oder treten in Hungerstreik: Die Klimaprotestbewegung radikalisiert sich. Was sich noch viel mehr radikalisiert, ist die politische Reaktion darauf. Dass Aktivistinnen als „Klimaterroristen“ (AfD), als Mitglieder einer „Klima-RAF“ (CSU) und „Klima-Chaoten“ (Bayerisches Innenministerium) denunziert werden und in Präventivhaft genommen werden, ist eine mehr als bedenkliche Entwicklung.
Ob die Blockade einer Hauptverkehrsachse oder das Beschmieren eines Kunstwerks mit Kartoffelbrei taktisch das richtige Mittel sind, um auf die sich radikalisierende Umwelt- und Klimakrise aufmerksam zu machen – darüber lässt sich trefflich streiten. Auch der Autor dieses Textes ist skeptisch. Dennoch greifen zahlreiche Menschen in ganz Europa in den vergangenen Monaten zu diesen Aktionsformen, weil sie mit konventionellen demokratischen Mitteln keine Aussicht auf Erfolg sehen.
Man könnte sagen: Nun gut, so ist das nun mal in der Demokratie. Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Kann nicht immer jede alles bekommen. Die Argumentation der Klimaaktivistinnen und -aktivisten geht anders: Im Falle der Umwelt- und Klimakrise verlieren wir alle. Die Fakten liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch, aber die herrschenden demokratischen Institutionen sind nicht willens diese zur Kenntnis zu nehmen. Aus dieser Notlage heraus bedienen wir uns anderer, radikalerer Protestformen.
Dürfen die das?
Das läuft auf die Frage hinaus: Dürfen die das? Ist es legitim, zu Mitteln des zivilen Ungehorsams zu greifen, um einen höheren Zweck zu verteidigen? Kurz: Heiligt der Zweck (Klimaschutz) die Mittel (ziviler Ungehorsam)?
Die Antwort der staatlichen Exekutive und (nicht nur) konservativer und rechter Politiker ist eindeutig: In München wurden unlängst Mitglieder der Gruppe „Letzte Generation“ wegen der Androhung einer Straßenblockade ohne Gerichtsverfahren für 30 Tage in Präventivhaft genommen (auf Basis eines Gesetzes, das für islamistische Terroristen verabschiedet wurde – und schon damals heftig umstritten war). Mitte November bezeichnete das Bayerische Innenministerium Aktivistinnen auf eine Hog’n-Anfrage offiziell als „Klima-Chaoten“. Längst denkt auch die Bundesregierung laut über Verschärfungen des Strafrechts für Klimaaktivistinnen und -aktivisten nach. In Österreich werden diese seit Monaten vom Verfassungsschutz beobachtet.
Auch hier lässt sich die Frage stellen: Dürfen die das? Ist es legitim, sämtliche staatliche (Zwangs-)Mittel auszureizen, um Recht und Ordnung zu verteidigen? Kurz: Heiligt der Zweck (Ordnung) die Mittel (Präventivhaft, Strafrechtsverschärfung, …)?
Diese Fragen lassen sich nicht wissenschaftlich, objektiv und auch nicht mit Verweis auf den „Rechtsstaat“ beantworten. Es sind politische Fragen. Fragen darüber, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen. Auch der „Rechtsstaats“ ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis politischer Aushandlung; Recht ist geronnene Politik. Auch die Begrenzung der Erderhitzung auf 1,5 Grad ist seit dem Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 2021 gesetzlich verankert.
Eine bayerische Wüste ist noch unser geringstes Problem
Die Frage lässt sich auch anders stellen: Wer ist hier radikal?
Den „Anderen“ als radikal, extremistisch oder terroristisch zu bezeichnen, ist beliebtes Mittel, um die eigene Meinung als „vernünftig“ oder „alternativlos“ darzustellen – vor allem, wenn diese auf argumentativ wackligen Beinen steht. Dass Bayern deutschlandweit in Sachen Klimaschutz mit am schlechtesten abschneidet und gleichzeitig am lautesten nach härteren Gesetzen gegen Klimaaktivistinnen ruft, dürfte kein Zufall sein.
Wir wissen seit mindestens einem halben Jahrhundert ziemlich genau, welche Auswirkungen ungebremstes Wirtschaftswachstum für Natur und Mensch haben. 1972 verabschiedete eine Gruppe von Wissenschaftlern um Donella und Dennis Meadows den Bericht des „Club of Rome“ namens „Die Grenzen des Wachstums“. Sie diagnostizierten darin verheerende Umweltfolgen, sollte die Menschheit an Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch festhalten. Anfang dieses Jahres, anlässlich des 50. Jubiläums des Berichts, zeigte eine Gruppe an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Wien: Die Prognosen von 1972 waren erstaunlich präzise. Mittlerweile wissen wir noch weitaus genauer, was mit einer fortschreitenden Umweltzerstörung auf uns zukommt: Dass Bayern bis zum Jahrhundertende Wüste wird, ist noch unser geringstes Problem… (siehe dazu auch den SZ-Artikel „So verändert sich das Klima in Bayern bis 2050„)
Was demgegenüber als „normal“ oder „vernünftig“ hochgehalten wird – lässt sich mit Argumenten nicht rechtfertigen. Jene, die Umweltschützerinnen und Klimaaktivisten als „Terroristen“ oder Mitglieder der „Klima-RAF“ denunzieren, sie mit sämtlichen Mitteln der Exekutive bekämpfen wollen, verteidigen einen Status Quo, der uns der Unbewohnbarkeit der Erde jeden Tag ein Stück näherbringt (viele Teile sind bereits unbewohnbar).
Radikalisierung war absehbar
Wollen wir eine solche Entwicklung verhindern, erfordert das eine Abkehr von Wirtschaftswachstum, fossilen Energieträgern und Massenkonsum, vom exzessiven Fliegen und überbordendem Fleischkonsum, eine Ökologisierung des Verkehrssektors und vieles mehr. Manche Maßnahmen ließen sich ganz einfach umsetzen und würden unmittelbaren Nutzen bringen: Tempo 100 auf Autobahnen, gratis öffentlicher Nahverkehr für alle, flächendeckende Umschulungsprogramme für Lohnabhängige in der Automobilindustrie. Wohlgemerkt bedeutet Umweltschutz, dass wir anders leben, nicht ärmer oder mit weniger Wohlstand.
Umweltbewegungen, Aktivistinnen, NGOs, Wissenschaftler, zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffene weisen seit Jahrzehnten auf Probleme und mögliche Lösungen hin – passiert ist: nichts. Auch Fridays For Future ging (mitverschuldet durch Corona und den Krieg in der Ukraine) irgendwann die Luft aus. Staatlicher Klimaschutz hierzulande besteht nach wie vor darin, eifrig in den Keller zu spucken, während der Dachstuhl brennt. Auch die soeben zu Ende gegangene Klimakonferenz COP27 in Sharm El Sheikh brachte kaum Fortschritte. Gleichzeitig rennt uns die Zeit davon, die 1,5-Grad-Marke dürfte nach derzeitigem Stand wohl noch im Laufe dieses Jahrzehnts fallen. Dass sich aus der Klimabewegung irgendwann ein radikalerer Teil herauslöst und zu Mitteln des zivilen Ungehorsams greift, war absehbar.
Ob wir gegen diese Bewegung Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und sämtliche diskursive Geschütze mobilisieren wollen oder für den Erhalt unserer Lebensgrundlage kämpfen, hängt von der Antwort auf die Frage ab: Wer ist hier radikal? Es ist eine politische Frage: Wie wollen wir leben?
Kommentar: Johannes Greß