Jerewan. Armenien zählt sicher nicht zu den Top-Destinationen europäischer Urlaubsreisender. Dabei hat das Land am Kaukasus, umgeben von weiteren Exoten wie Georgien und Aserbaidschan, gerade in landschaftlich-kultureller Hinsicht vieles zu bieten. Auch Merlin Löwecke, Weltenbummler aus Pfarrkirchen im Rottal, hat den vorderasiatischen Binnenstaat für sich entdeckt. Mit einer Gruppe verwegener Wandersmänner und -frauen wagte er sich auf den höchsten Berg des Landes – und erlebte im Angesicht eines Vulkankraters unvergessliche Momente…
Angefangen hat diese Geschichte wohl damit, dass meine Freundin und ich via Couchsurfing für ein paar Tage eine Studentin aus Russland, genauer: aus dem nördlichen Kaukasusgebirge, bei uns aufgenommen hatten. Ihr Name: Ksenia. Während ihres Studiums haben wir den Kontakt gehalten und sie erzählte mir immer wieder von ihrem Projekt, dem „Hiking-Dream-Team„. Sie organisiert dabei regelmäßig Wanderungen im Kaukasus. Zuletzt bestieg sie sogar den über 5.600 Meter hohen Elbrus, den höchsten Berg Europas.
Raus aus dem „Teufelskreis“
Als Bergliebhaber war ich natürlich sofort Feuer und Flamme für ihre Events. Aber man kennt das ja aus eigener Erfahrung, wie das mit dem Faktor Zeit so ist – vor allem, wenn man älter wird: Die Zeit entschwindet ungesehen ins Nirgendwo – für Herzensangelegenheiten bleibt meist kaum noch was übrig. So sagte ich nie wirklich zu, beschwichtigte stattdessen: „Irgendwann komme ich mal mit, ja vielleicht diesmal, aber sicher kann ich das noch nicht sagen!“
Jedenfalls: Meine Tage wurden immer stressiger, der Schlaf immer weniger – und irgendwann brannte bei mir die Sicherung durch. Um aus dem ‚Teufelskreis“ auszubrechen, gab es für mich nur eine Lösung: Ich musste für eine Weile hier raus. Handy aus, raus in die Natur. Alles, womit ich mich beschäftigen wollte, waren Fragen wie: Was esse ich heute? Wo schlafe ich heute? Ansonsten wollte ich nur den Moment genießen. Das war mein Wunsch.
Und so kam es, dass ich letztendlich doch meiner russischen Freundin zugesagt habe. Eine Woche Wandern in Armenien. Ich überflog kurz das Programm, buchte den Flug – und schon war ich dabei. Ich wollte meinen Kopf ausschalten, den anderen Teilnehmern einfach hinterher latschen – egal, wohin sie mich führen würden…
Bunt gemischte Reisegruppe
Von München aus startete meine Flieger über Minsk in die armenische Hauptstadt Jerewan. Im Hostel angekommen, teilte man mir mit, dass ich erst nachmittags einchecken könnte. Also irrte ich durch die Stadt, schlief mal hier ein bisschen, trank Kaffee aus nahezu jedem Automaten, an dem ich vorbei kam, las mal dort ein bisschen in meinem Buch. Dann endlich traf ich wieder auf Ksenia, die mit ihrer Mutter Ala und ihrer Freundin Alina mit einem Minibus durch das Kaukasusgebirge angereist waren. Es ist immer wieder ein seltsames Gefühl, jemanden so weit weg wieder zu treffen…
Am nächsten Morgen trudelte der Rest der Truppe ein. Die Belgier Inne und Daan sowie die selbsternannte „deutsche Kartoffel“ Henick kamen ebenfalls aus Georgien angereist. Greg und Asha kamen aus Polen, Irene aus Litauen. Die ersten zwei Tage verbrachten wir damit, so nahezu jeden Winkel Jerewans und so ziemlich jedes Restaurant unter der Führung unseres Local Guides Taron zu erkunden. Er zeigte uns verschiedene Statuen, Gebäude, Kunstwerke, Sehenswürdigkeiten und führte uns schließlich auch in das Genozid-Museum „Zizernakaberd„, wo uns der Völkermord an den Armeniern vor Augen geführt wurde – und ich (wieder einmal) geschockt war, wie grausam Menschen zueinander sein können.
Obwohl ich Großstädte tendenziell eher zu meiden versuche, verliebte ich mich flugs in die Vielfalt der armenischen Metropole. Es gab unglaublich viel zu entdecken und ich ließ mich einfach im Strom des Großstadt-Dschungels dahintreiben. Trotzdem freute ich mich sehr, als wir endlich in die Natur aufbrachen. Wir packten unsere Rucksäcke mit allerlei Ausrüstung und Proviant für fünf Tage und nahmen schließlich einen Bus, der uns an den größten See Armeniens, den Sewansee, brachte.
Die Sache mit der Höhe…
Zuerst stand eine kleine Tagestour auf dem Plan. Mit Tagesrucksäcken ging es den ersten „Hügel“ hinauf, von wo aus wir die Aussicht auf das türkis-farbenen Gewässer, das etwa dreimal so groß wie der Bodensee ist, genossen. Abends suchten wir uns am Ufer ein schönes Plätzchen, bauten unser Lager auf und suchten Feuerholz (was tatsächlich schwer zu finden war, weshalb ich lieber die zahlreichen Kuhfladen verbrannt hätte) – und bewunderten den Sonnenuntergang sowie den aufgehenden, immer voller werdenden Mond bei idyllischen Ukulele-Klängen, Lagerfeuer und guten Getränken.
Der zweite Tag wurde zum anstrengendsten der Tour. Weder die Höhe – wir starteten auf rund 3.000 Meter über dem Meer – noch das Gewicht unseres Gepäcks waren wir gewöhnt. Wir gingen die Südwand des Aragaz hoch, einem erloschenen Vulkan und mit 4090 Metern die höchste Erhebung des Landes. Den Heiligen Berg Ararat mit seiner bezaubernden Form und seinen stolzen 5.137 Metern hatten wir dabei stets im Rücken.
Bei der Hälfte unserer Strecke bekam das erste Teammitglied trotz regelmäßiger Pausen Probleme mit der Höhe. Unser Bergführer Daniel packte kurzerhand dessen Rucksack und schleppte ihn zusätzlich zu seinem den Berg hinauf. Das Gesamtgewicht seiner Ladung muss wohl so um die 30 bis 35 Kilogramm gewogen haben. Man sah ihm die Anstrengung nicht an – und sein einziger Kommentar war: „Kein Problem, so langsam wie ihr geht, normalerweise bin ich viel schneller!“
Mit Sprungtechnik hinein in den Krater
So schafften wir es also auf die erste Anhöhe und durften einen ersten Blick in den Krater werfen. Der Anblick übertraf unsere Erwartungen. Verschiedene Grün-, Rot-, Grau- und Brauntöne bildeten – umrandet von vereinzelten Schneefeldern – verwobene Muster an den Berghängen. Wir staunten nicht schlecht, legten unser Gepäck ab, erklommen die letzten Meter zum Gipfel und genossen das überwältigende Panorama. Daran sattsehen konnten wir uns nicht wirklich – nach einiger Zeit hieß es, sich an den Abstieg zu machen.
Diese Nacht würden wir direkt im Krater verbringen. Unser Weg führte durch ein relativ steiles Geröllfeld. „Je schneller ihr runter geht, desto einfacher ist es“, riet Daniel – und so nahm ich mir an ihm ein Beispiel, sprang von Serpentine zu Serpentine, von Stein zu Stein und kam innerhalb von 15 Minuten am Pass an. Meinen Teamkollegen war diese Methode nicht ganz so geheuer, weswegen sie das Ganze etwas langsamer angingen. Daher gönnte ich mir in der Zwischenzeit ein Nickerchen. Zeit genug hatte ich, denn es dauerte mehr als eine Stunde bis die Truppe wieder vollständig versammelt war.
Wieder vereint ging es nun etwas zügiger voran in Richtung Mitte des farbenprächtigen und doch kargen Kraters. Die Sonne ging bereits unter, als wir unsere Zelte aufschlugen. Die Landschaft war wie gemalt: rundherum karge Berge und Felsen und ein voller Mond, der in den vielfältigen Farbspektren des Sonnenuntergangs emporstieg. In diesem wundervollem Szenario bereiteten wir zusammen unser Essen zu, schmetterten noch den ein oder anderen Song – und sanken glücklich und ausgepowert in unsere Schlafsäcke.
Wasserfall-Dusche mit Regenbogen-Optik
Der nächste Tag sollte sich wieder etwas einfacher gestalten. Wir ließen unser Gepäck im Lager zurück und machten uns daran, die letzten paar hundert Höhenmeter bis zum Gipfel zu erklimmen. Tatsächlich registrierte ich die dünnere Luft in 4.000 Metern Höhe mehr als gedacht. Es fühlt sich tatsächlich ein bisschen so an, als würde man unter Wasser durch einen Schnorchel Atmen. Wie (buchstäblich) atemberaubend die Aussicht am Gipfel war, kann ich wohl weder in Worte fassen, noch können es die Bilder darstellen. Es war einfach wundervoll! Leider blieben wir nicht allzu lange – nach ein paar Minuten machten wir uns wieder auf den Rückweg ins Camp. Ich erneut im Sauseschritt, der Rest etwas gemütlicher.
Dort angekommen, packten wir unsere Sachen und es ging wieder talwärts. Wir folgten einem Bachlauf und Schritt für Schritt präsentierte sich das Gelände wieder grüner. Diese Nacht verbrachten wir auf einer saftigen Wiese am Fuße eines Wasserfalls, wo ich mein persönliches Highlight der Reise erlebte: Ich duschte im eiskalten Wasserstrahl, während ich durch den Regenbogen, den die Gischt bildete, den Anblick auf unser Lager und das darunter im Tal liegende Dorf genoss.
Am nächsten Tag erreichten wir jene Ortschaft, in der der Bus bereits auf uns wartete. Er brachte uns zum nächsten Supermarkt, wo wir uns erst einmal mit Getränken eindeckten. Ich persönlich fand’s ziemlich lustig, dass wir alle – ohne Ausnahme – Bier kauften. Aber das hatten wir uns nach den Strapazen der letzten Tage auch redlich verdient.
Ein bisschen beschwipst ging es dann zu unserem nächsten Ziel. Ksenia hielt erneut eine Überraschung für uns parat. Wir fuhren mit dem Bus in einem Tunnel durch einen Berg – und schlagartig änderte sich die trockene und karge Landschaft zu einem regelrechten Urwald. Sattes Grün und Bäume soweit das Auge reichte. Wir begutachteten dort eine weitere wunderschöne Kirche, bevor wir an einem Rastplatz in diesem Paradies unser letztes Camp aufschlugen. Perfekter hätte die Location nicht sein können. Der Platz war mit einer Kochstelle samt Grill ausgestattet, im Tal darunter floss ein klarer Bach, der eine Art natürliche Badewanne geformt hatte. Zusätzlich gab es eine lange überdachte Tafel, an der wir nochmals schmausten wie die Könige und uns bis spät in die Nacht unterhielten und Spiele spielten. Schöner hätte der Abend nicht enden können.
Aus Reisenden werden Freunde
Dann ging es zurück in die Hauptstadt, die wir noch zwei Tage unsicher machten. Besonders beeindruckt hat mich der Hauptplatz, an dem fast jeden Abend klassische Musik gespielt wird und sich dazu erleuchtete Wasserfontänen rhythmisch bewegten. Und auch das armenische Bier hat mich vom Hocker gehauen – und das nicht, weil ich zu viel davon getrunken hatte…
Das „letzte Abendmahl“ fand in einem wunderschönen Restaurant statt, wo wir einen Raum für uns ganz alleine hatten, unsere Reise nochmals reflektierten, lachten, aßen und uns pausenlos zuprosteten und Ansprachen hielten. Wir waren alle zu Freunden geworden. Schließlich kam der Abschied, der uns allen schwer fiel. Wir umarmten uns wehmütig und unwissend, ob wir uns jemals wiedersehen werden – und freuten uns zugleich, dass wir die Chance hatten, in dieser wundervollen Gruppe dieses Abenteuer zu erleben…
Merlin Löwecke