Ostbayern/Hohenau/Freyung. Die heile Welt auf dem Land ist längst ein Märchen vergangenen Tage. Das stellt Christoph Liebl desillusioniert fest – allen voran natürlich was seinen Spezialbereich betrifft. Der 39-Jährige leitet mit SoNet eine ambulante Jugendhilfe, die mit über 100 Mitarbeitern im gesamten ostbayerischen Raum tätig ist. Er weiß also, wovon er spricht, wenn er klar macht: „Gerade auf dem Land gibt es in den Familien nichts, was es nicht gibt. Das liegt daran, dass hier dieses Thema noch nicht allzu lange bearbeitet wird. Viele wissen noch nicht, was Jugendhilfe überhaupt bedeutet.“
Diese Aufklärungsarbeit will der 39-jährige Hohenauer gerne leisten. Einerseits, weil er als sozial eingestellter Mensch und Familientherapeut Betroffenen helfen möchte. Andererseits, weil er als Geschäftsführer einer Firma auf diesem Gebiet natürlich betriebswirtschaftliche Absichten hegt. Liebl allerdings aufgrund des letztgenannten Aspekts als knallharten Geschäftsmann zu bezeichnen, würde der Sache alles andere als gerecht werden. Der Waidler, der zudem eine Ausbildung zum Heilerzieher absolvierte, hat sich dazu entschlossen, selbstständig zu werden, weil er der Meinung ist, dass starre BWL-Strukturen und steile Hierarchien in seinem Berufsbild fehl am Platz sind.
„Nur, wer gerne in die Arbeit geht, macht sie auch gut“
2015 hat er deshalb gemeinsam mit Heiko Schumann das Soziale Netzwerk Ostbayern GbR (kurz: SoNet) gegründet. Genauer gesagt in Straubing, wo er damals lebte. „Neben einer guten Arbeit mit den Klienten war und ist uns wichtig, mehr die Werte als Finanzen im Blick zu haben“, erklärt Christoph Liebl die Firmenphilosophie. „Nur, wer gerne in die Arbeit geht, macht sie auch gut.“ Freilich, derartige PR-Aussagen kommen von vielen Firmenchefs. Dem 39-Jährigen mit seinem sozialen Hintergrund nimmt man diese Sätze aber eher ab als einen Steuer- oder Unternehmensberater.
Ausgehend von der Gäubodenstadt hat sich inzwischen ein Netzwerk, das sich über den gesamten ostbayerischen Raum erstreckt, entwickelt. Es gibt Büros in Deggendorf, Regensburg, Passau, Regen, Landshut, Amberg – und seit Kurzem auch in Freyung. SoNet wächst und gedeiht. Das freut den Firmenchef, aber auch den Menschen, dem die Familien – konkret: die Sorgenkinder darunter – im ländlichen Raum am Herzen liegen.
Wichtig: „In das jeweilige Familien-System eindringen“
Doch was macht SoNet nun genau? Dies ist anhand greifbarer Beispiele wohl am besten zu erklären. Liebl, Schumann & Co. kümmern sich um Familien, die aus unterschiedlichsten Gründen in Schwierigkeiten stecken. Weil ein Schicksalsschlag den Alltag komplett ausgehebelt hat; weil der Vater oder die Mutter dem Nachwuchs gegenüber gewalttätig sind; weil gerade eine Scheidung über die Bühne gegangen ist; weil ein Elternteil seine Kinder nur unter neutraler Aufsicht (= Umgangsbegleitung) sehen darf; weil finanzielle Probleme geradezu erdrückend sind; weil eine Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht vorliegt. Oder, weil mehrere dieser Gründe zusammenkommen. Dann ist von einer Multi-Problem-Familie die Rede.
Wie ein ambulanter Pflegedienst besuchen die SoNet-Mitarbeiter dann nach Rücksprache mit dem jeweiligen Jugendamt ihre Klienten. Wobei sich das Ganze einfacher anhört, als es tatsächlich ist. Denn es ist nicht damit getan, einen Verband anzulegen, bei der Körperpflege zu helfen oder eine Mahlzeit vorbei zu bringen. „Wir müssen es schaffen, in das jeweilige Familien-System einzudringen, um zu verstehen, was warum schief läuft – und erst dann können wir dabei helfen, das Problem aus der Welt zu schaffen.“
„Wenn es gar nicht hilft, brauchen wir die Polizei“
Schreiende Kinder, eingeschüchterte Buben und Mädchen, verhärmte Mütter, gebrochene Väter gehören für die Familientherapeuten genauso zum Alltag wie Verzweiflung, blanke Angst, Aggression und Gewalt. Gar nicht so einfach, dies alles zu verkraften. Deshalb: „Bei uns wird viel mit entsprechenden Fachstellen, beispielsweise der Suchtberatung, zusammengearbeitet. Wichtig ist zudem eine gute Supervision innerhalb unserer Teams. Und wenn es gar nicht hilft, müssen wir die Polizei einschalten und besonders harte Fälle abgeben.“
Obwohl Christoph Biebl Kraft seines Berufes natürlich gerade die harten Fälle am Herzen liegen, ist ihm bewusst, dass selbst ihm irgendwann die Hände gebunden sind. „Zum einen, weil ich mich und meine Mitarbeiter nicht in Gefahr bringen will. Zum anderen, weil es übergeordnete Stellen für solche Extremfamilien gibt.“ Hiermit meint der 39-jährige stationäre Jugendeinrichtungen – landläufig als Kinderheime bekannt. In Neureichenau gibt es eine solche Unterkunft. Und auch am Reiterberg in der Gemeinde Hinterschmiding.
Problembeschleuniger Corona
Was die Jugendhilfe betrifft, stehen Staat – also Jugendamt – und freie Wirtschaft – beispielsweise SoNet – nicht in Konkurrenz zueinander. Vielmehr arbeitet man zusammen. Der eine kann nicht ohne den anderen. „Den Jugendämtern fehlt das Personal, um die komplette Nachfrage zu bedienen. Zum anderen kann ein Unternehmen das Ganze kostengünstiger erledigen.“ Bezahlt wird SoNet nicht von den jeweiligen Klienten, sondern über staatliche Sozialleistungen.
Das Wachstum seines Betriebes – „Problem-Beschleuniger“ Corona-Lockdown hat Liebl mehr als 60 neue Mitarbeiter eingestellt – erfreut den 39-Jährigen. Zumindest den betriebswirtschaftlichen Teil seiner Persönlichkeit. Gleichzeitig ist die hohe Nachfrage („Tendenz extrem steigend„) geradezu alarmierend. „Früher hat es vielleicht mal ein Problem innerhalb einer Familie gegeben – eine Scheidung oder ein Fremdgehen. Heute sind die Schwierigkeiten vielschichtiger und somit schwieriger.“ Die heile Welt auf dem Land gibt es schon lange nicht mehr…
Helmut Weigerstorfer