Cham/Gerstetten. Ja, auch im Bayerischen Wald hat es zu Zeiten des Hitler-Regimes so einige überzeugte Nationalsozialisten gegeben. Das wird im Laufe der Serie rund um die Nazi-Täter, die im Woid ihre Spuren hinterlassen haben, mehr als deutlich. Veröffentlicht wurden all diese Recherchen im Buch „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer – NS-Belastete aus Niederbayern“, das im Kugelbergverlag erschienen und von Dr. Wolfgang Proske herausgegeben worden ist. In einem weiteren, brandneuen Band wird auch die Oberpfalz in dieser Hinsicht beleuchtet. Proske selbst hat sich u.a. mit Franz Xaver Schlemmer, Kreisleiter des Großkreises Cham-Kötzting-Viechtach (1932 bis 1945), beschäftigt.

Bisher keine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihm

Franz Xaver Schlemmer (1895-1952). Repro: Proske

„Auch 77 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus werfen einige NS-Kreisleiter immer noch Fragen auf, die sich bisher kaum zufriedenstellend beantworten lassen. Franz Xaver Schlemmer gehört in diese Kategorie, denn eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihm hat bisher nicht stattgefunden. Sollte er wirklich ein ‚guter Nazi‘ gewesen sein, so wie das fast durchgehend von vielen Zeitgenoss*innen behauptet wurde? Die folgenden Ausführungen gehen dem unter Zuhilfenahme schriftlicher Quellen aus dem Bundesarchiv sowie den Staatsarchiven nach.

Schlemmer war am 13. Juli 1895 in Neunburg v.W. (…) geboren worden. Für sieben Jahre besuchte er die Volksschulen in Neunburg und Cham. (…) 1911 trat er in den Staatsdienst ein, wo er zuletzt als Planinspektor im mittleren Messungsdienst bei der Erfassung amtlicher Geobasisdaten tätig war. Beginnend mit dem 6. August 1914 wurde er während des Ersten Weltkrieges als Kriegsfreiwilliger beim 6. Bayerischen Infanterie-Regiment eingesetzt.

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Schlemmer gilt als NSDAP-Urgestein

Ab Oktober 1914 versetzte man ihn zum 21. Reserve-Infanterie-Regiment an der Westfront, zuletzt als Unteroffizier. Im November 1918 wurde er aus dem Heeresdienst entlassen. Er kehrte zurück in den Messungsdienst, bis er in NS-Zeiten mit Blick auf seine politischen Ämter beurlaubt wurde, um schließlich am 5. Oktober 1943 auf Verfügung des Bayerischen Finanzministers aus dem Staatsdienst entlassen zu werden, um hauptamtlich in den Dienst der NSDAP zu wechseln.

Im Bayerischen Wald gilt Schlemmer, soweit heute sein Name und seine Rolle überhaupt noch bekannt sind, als NSDAP-Urgestein. Schon am 15. Februar 1923 trat er unter der Mitgliedsnummer 23.803 erstmals der NSDAP bei, wurde angesichts einer wohl recht übersichtlichen Anzahl von Kandidaten rasch für eine Führungsaufgabe ausersehen, dann aber nach dem vorübergehenden Verbot der NSDAP „nur“ Ortsgruppenleiter des „Völkischen Block, Großdeutsche Volksgemeinschaft“ in Cham.

Mitglied des Chamer „Sturm“ der SA

Parallel dazu gehörte er bereits dem Chamer „Sturm“ der SA an. Nach der Neugründung der NSDAP erfolgte am 10. September 1925 sein Wiedereintritt in die NSDAP unter der Nr. 18.357. Seit diesem Tag führte ihn auch die SA im „Trupp Cham 17/11“; als deren Standort wird Schwandorf angegeben.

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Von 1929 bis 1932 fungierte Schlemmer als Ortsgruppen- sowie Kreisleiter im „Waldbezirk“, d.h. gleichzeitig für Cham, Roding und Waldmünchen. Auch betätigte er sich als eifriger Gauredner. 1932 wurde sein Bezirk aufgrund einer stürmischen Mitgliederentwicklung neu geordnet. Von 1932 an und bis 1945 wurde er jetzt zum Kreisleiter für Cham-Kötzting berufen.

Er galt nicht als Einpeitscher

Am 18. März 1935 trat der bisher mit Aufwandsentschädigungen ehrenamtlich arbeitende Schlemmer zusätzlich im Nachrückverfahren in den nationalsozialistischen Reichstag ein, womit sich seine Bezüge schlagartig verbesserten. Mitglied des Reichstags war er zunächst bis zum März 1936 für den Wahlkreis 26 (Franken), anschließend bis zum Ende der NS-Herrschaft als Vertreter des Wahlkreises 25 (Niederbayern). (…) 1937 wurde sein Kreis noch um das Viechtacher Gebiet erweitert, so dass er bis Kriegsende als Kreisleiter des Großkreises Cham-Kötzting-Viechtach amtierte.

(…) Laut Aktenlage wurde er von seinen Zeitgenossen unisono als eher zurückhaltend beschrieben; er galt nicht als Einpeitscher, eher im Gegenteil. In der Beurteilung zum Beförderungsvorschlag 1944 hieß es andererseits dennoch erwartbar: „Charakter fest und bestimmt, geistig sehr regsam, Verhalten gegen Untergebene und Vorgesetzte kameradschaftlich und achtungsvoll. Auftreten und Verhalten in und außer Dienst einwandfrei.

Trotz besserer Karrierechancen: Kein Wechsel zur SS

In der gesamten NS-Zeit verblieb Schlemmer konstant in der SA und wechselte nicht zur SS, die ihm vermutlich bessere Karrierechancen eröffnet hätte. (…) Der Ermittler der Militärregierung in Cham (…) stellte nach dem Ende seiner Nachforschung am 17. Dezember 1948 verblüfft fest, in Cham herrsche allgemein die Meinung vor, „einen besseren Kreisleiter konnten wir nicht haben. Es war nichts bekannt, dass der Kreisleiter irgendwelche Meldungen an die zuständige Gauleitung gemacht hatte über Nichtparteigenossen. (sic!) Es wurde einwandfrei nachgewiesen, dass der Kreisleiter Schlemmer als Chamer Bürger keinen Menschen benachteiligt hat. […] Ich musste feststellen, dass ich in dieser Beziehung sehr überrascht war.“

Der NSDAP-Mitgliedsausweis der Oberpfälzers. Repro: Proske

Auch im Spruchkammerverfahren sagten diverse Bürger übereinstimmend zugunsten Schlemmers aus – und man ist versucht, dies nicht als bloßes Ausstellen von „Persilscheinen“ zu deuten. (…) So entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, als habe das Geheimnis von Schlemmers großer Akzeptanz darin gelegen, trotz der Durchsetzung unvermeidbarer NS-Belange nach Möglichkeit nachsichtig und verständnisvoll mit den Bewohnerinnen und Bewohnern im Kreis umgegangen zu sein.

„Bestrebt, dieses Verbrechergesindel auszurotten“

Es gibt allerdings auch ein anderes, weniger in diese bisherigen Ausführungen passendes Bild Schlemmers. Offenbar reagierte er weit weniger nachsichtig, wenn er es mit „Auswärtigen“ oder aber politisch unbedeutenden Personen zu tun hatte. Auf deren vermeintliche Verfehlungen konnte er sehr hart reagieren. Das zeigt sich etwa im folgenden Fall. Dr. Josef Baaser, in Köln gebürtiger Rechtsanwalt, beschwerte sich, er habe einen „Zivilfranzosen“ in „Kötzing“ (sic!) in einer Misshandlungssache verteidigt. Der Kreisleiter sei in Uniform bei ihm erschienen und habe „maßgeblich“ in die Verhandlung eingegriffen.

Später habe er „von der Partei“ einen Brief erhalten, in dem gerügt wurde, dass er „als deutscher Rechtsanwalt überhaupt einen Franzosen verteidigt hätte“. Dr. Baaser sei seitdem Verfolgungen durch die Gestapo ausgesetzt gewesen; Schlemmer habe, so der Regensburger Gestapochef gegenüber Baasers Frau, hinter all diesen Attacken gesteckt. (…) Man sei eben, so Schlemmer schriftlich am 28. August 1944, „in der Heimat bestrebt […], dieses Verbrechergesindel auszurotten.“ (…)

Doch noch Obersturmbannführer

Auch eine Frau, die in Widerspruch zur offiziellen Linie geriet, hatte gegenüber Schlemmer schlechte Karten. Sehr fragwürdig scheint, wie „der dem Gauleiter ergebene“ Schlemmer mit dieser ansonsten unauffälligen Chamerin umging, weil sie Kenntnis von einem sexuellen Übergriff des Gauleiters Wächtler hatte und darüber auch sprach. Schlemmer versuchte, sie mit der Drohung einer Einlieferung ins KZ mundtot zu machen. Die standhafte Frau blieb trotzdem bei ihrer Aussage.

(…) Man darf vermuten, dass Schlemmer unter seinen Parteifreunden kein besonders hohes Ansehen genoss. Weil er es nicht verstand, sich karrierefördernd in Szene zu setzen wie etwa sein Kollege im Kreis Regen-Grafenau, Josef Glück (1905-1978), wurde er (…) erst spät (…) entsprechend befördert. (…) Schlemmer wurde doch noch zum Obersturmbannführer, d. h. vergleichbar einem Oberstleutnant, befördert. (…)

Laut Hauptkammer München „Hauptschuldiger“

Nach Kriegsende war Schlemmer verhaftet und von Mai 1945 bis September 1946 festgehalten worden. Am 6. September 1946 wurde er „wegen Verdacht der Beteiligung an der Einrichtung (sic! Gemeint ist wohl: Hinrichtung, W.P.) eines polnischen Staatsangehörigen“ nach Polen überstellt, wo er im Internierungslager Sieradz/Lodz inhaftiert wurde. (…)

Das Verfahren gegen Schlemmer – und das ist ungewöhnlich – hatte seine Frau Maria erst 1952 beantragt, da es bisher wegen seiner Kriegsgefangenschaft und vielleicht auch wegen der scheinbaren Harmlosigkeit zu keinem Spruchkammerverfahren gekommen war. Möglicherweise war sie dabei durch bisher ungeklärt gebliebene finanzielle Ansprüche motiviert. Der öffentliche Kläger Kriegseis bei der Hauptkammer München stellte in seiner Klageschrift am 15. Oktober 1952 zunächst fest, Kreisleiter Schlemmer sei „Hauptschuldiger“. (…)

„Führende Stellung“ in „verbrecherischer Organisation“

„Täter, Helfer, Trittbrettfahrer – NS-Belastete aus der Oberpfalz“ – dieses von Dr. Wolfgang Proske herausgegebene Buch ist im Kugelbergverlag erschienen und kann hier bestellt werden.

Obersturmbannführer Schlemmer war mittlerweile am 18. November 1947 vom Kreisgericht Warschau (Sadokrecowv) unter Vorsitz des Richters Starzynski wegen eines Verbrechens nach Art. 4 § 1 der polnischen Verordnung vom 31. August 1944 (…) zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er „in einer verbrecherischen Organisation, eingesetzt durch die Regierung des Deutschen Reiches unter dem Namen Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), eine führende Stellung bekleidet“ hatte. (…) Den Vorwurf einer Beteiligung an der Hinrichtung eines polnischen Staatsangehörigen konnte das Gericht nicht verifizieren. (…)

Keinen positiven Eindruck dürfte Schlemmers allgemein gehaltene, alles in allem naive und als unglaubwürdig und überzogen angesehene Aussage hinterlassen haben, „dass er sich in seiner Stellung nur auf soziale Arbeit beschränkte, da ihn die politische Seite nicht interessierte und ihm deswegen Vorwürfe seitens der Parteiführung gemacht wurden.“ (…) Schlemmers Gnadengesuche wurden abschlägig beschieden. (…)

Einige Fragen bleiben…

Schlemmer starb am 3. Oktober während seiner Haft im Mokótow-Gefängnis Warschau „an einem Gewächs oder Geschwür an der linken Lunge“. In den vergangenen Jahrzehnten ist Schlemmer weitgehend vergessen worden. Mit diesem Artikel wird ein erster Versuch gemacht, diesen Zustand angemessen zu beenden. Widerlegt ist in jedem Fall die früher gelegentlich vertretene Vermutung, dass Schlemmer seit 1948 als Militärberater in Syrien gelebt habe.

Aber einige Fragen bleiben. Um seiner Persönlichkeit noch gerechter werden zu können, wird es, da bisher nur wenige aussagekräftige und gleichzeitig zuverlässige Quellen bekannt sind, darauf ankommen, weiterzusuchen. Es ginge darum, nicht nur Entlastendes, sondern gleichermaßen auch Belastendes zu sammeln und einander gegenüberzustellen.

An der Mär vom „guten Nazi“ jedenfalls sollte nicht länger festgehalten werden. Wenig plausibel erscheint auch die Vermutung einer besonders ausgeprägten Naivität Schlemmers. Wie hätte er sich bei dieser Voraussetzung so lange in den Diensten des Unrechtregimes behaupten können? Wie auch immer man die Dinge betrachtet: Seine Funktionalität für den Nationalsozialismus ist offenkundig. 16 Jahre als Kreisleiter verbracht zu haben, das scheint rekordverdächtig.

da Hog’n


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