Passau. Ihm war, als hätte ihn der Blitz gestreift. Und das, obgleich kein einziges Wölkchen am Himmel stand, aus dem solcher hätte herabfahren können.
Es war noch relativ früh an diesem Samstagmorgen, aber es kündigte sich ein traumhaftes Spätsommerwochenende an; gerade recht für einen Besuch auf der Passauer Herbstdult, die am Vortag mit viel Humpftata, CSU-Prominenz und dem traditionellen Festbieranstich eröffnet worden war.
In kurzer Wichs samt Loferl und Haferlschuah
Widerwillig und mit einem lautstarken Rülpser war er aus dem Dultstadl – so heißt in Passau das große Festzelt – ins Freie getreten. Ein Ordner hatte ihn wieder hinausgeschickt, da die Dult erst ab 11 Uhr ihren Betrieb aufnehmen würde. Vorher gebe es kein Bier, auch nicht ausnahmsweise – und ohne reservierten Sitzplatz schon gar nicht.
Er hatte also die Suche nach seinen Spezln abbrechen müssen, mit denen er sich am Orchesterpodium hatte treffen wollen. Im Getümmel des seit 10 Uhr schon geöffneten und längst heillos überfüllten Festzeltes war keiner von ihnen zu entdecken gewesen.
Leicht angezipft hatte er sich am Brezn- und Radistandl nahe des Ausgangs eine kalte Leberkässemmel gekauft, die als Grundlage dienen sollte für das spätere Zusammenhocken mit der Blas’n, bei dem erfahrungsgemäß das ein oder andere Hacklberger weggelitert werden würde. Und dann, am späteren Nachmittag, wollte er vielleicht ein paar Runden Autoscooter fahren: Konnte gut sein, dass da wieder ein paar Hasen herumstehen würden, die nur darauf warteten, dass einer wie er sie zu einer Fahrt in dem engen Bummswagerl einladen würde.
So stand er also vor „Bayerns größtem Bierstadl“, in kurzer Wichs samt Loferl und Haferlschuah, in blütenweißem Pfoad und rotem Schilett: ein Prachtbursch von oben bis unten, wie dem Sortiment von mia-san-tracht.de entstiegen und überzeugt davon, dass heute bestimmt noch was gehen würde am Autoscooter…
T-Shirts, Jeans – und grasgrüne Haare!
Insofern sehr zufrieden mit sich selbst biss er herzhaft in seine Leberkässemmel. So herzhaft, dass der dick hineingeschmierte Händlmaier-Senf links und rechts herausquoll und auf sein rotes Wams tropfte. „Himmihergottgreizkruzifix“, entfuhr es ihm, wobei der gotteslästerliche Fluch kaum zu verstehen war, da er das abgebissene Stück Leberkässemmel noch im Mund hatte. Er blickte sich um, wo er vielleicht eine Papierserviette oder sonst etwas Geeignetes finden könnte, um den Senf abzuwischen. Am aussichtsreichsten erschien ihm eine der Fressbuden, die schräg gegenüber des Stadls aufgebaut waren: Die hätten sicher warmes Wasser und ein Stück Krepppapier für ihn.
Schon während er sich mit seiner angebissenen Leberkässemmel in der Hand einen Weg quer durch die Massen festtagsgestimmter Besucher bahnte, die von allen Seiten her auf den Platz strömten, entdeckte er vor einer der Buden eine junge Frau, die gerade dabei war, etwas auf eine neben der Verkaufstheke angebrachte Tafel zu schreiben. Die wollte er fragen, ob sie ihm nicht bei seinen Senfflecken helfen könnte, die, wie er verärgert konstatierte, aussahen, als hätten ihm zwei Vögel aufs Wams geschissen.
Erst als er näherkam, fiel ihm auf, dass die junge Frau ein T-Shirt und Jeans trug – fast ein Sakrileg auf einem niederbayerischen Volksfest, wenn ein Weiberleut nicht im Dirndl herumrennt – und, halt dich fest!, dass sie grasgrün gefärbte Haare hatte. Pfeilgrad, er konnte gar nicht mehr wegschauen: grasgrüne Haare!
„Mogst amoi abbeißen?“
Während er sie bisher nur von hinten gesehen hatte – Jeans, T-Shirt und grüne Haare – drehte sie sich plötzlich und unvermittelt um und sah ihm mitten ins Gesicht. Und genau das war der Moment, in dem ihm war, als habe ihn aus heiterem Himmel ein Blitz gestreift. Mit offenem Mund stand er da und kam sich schlagartig vor wie der letzte Depp. Nichts, aber auch gar nichts wollte ihm einfallen, was er hätte sagen können. Fassungslos starrte er auf die junge Frau – erst auf die Haare, dann auf das T-Shirt und dann wieder auf die Haare –, die ihn freundlich anlächelte und sich dann wieder ihrer Tafel zuwandte. Jetzt erst bemerkte er, dass einer ihrer Arme von oben bis unten mit bunten Tattoos bedeckt war, und selbst im Genick, zwischen den grünen Haaren deutlich zu sehen, war irgendein chinesisches Zeichen eintätowiert.
Als sie mit der Beschriftung der Tafel fertig war und sich erneut umdrehte, stand er immer noch da. Und immer noch fiel ihm absolut nichts ein, was er hätte sagen können. Und das, obwohl er eigentlich dutzende wohlerprobter Anmachsprüche draufhatte, auf die, wie er wusste, jeder Hase abfuhr. Und jetzt: nichts, kompletter Blackout.
Erst just in dem Augenblick, als sie sich wieder wegdrehen wollte, kam ihm die rettende Idee: Wie ein Zombie streckte er seine Hand mit der angebissenen Leberkässemmel nach vorne, direkt unter die Nase der jungen Frau mit den grünen Haaren, und gigatzte unbeholfen daher: „Mogst amoi abbeißen?“
Der Blick, den er sich einfing, halb belustigt, halb angewidert, war vernichtend. Ohne ihn einer Antwort oder eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand sie durch die Seitentür ins Innere der Bude. Und jetzt erst realisierte er, was sie mit Kreide auf die Tafel aufgemalt hatte: „Nur heute: Hausgemachter veganer Leberkäs“.
„Wer sollt’ denn sowas fressen wolln?“
Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das musste das Standl sein, von dem er vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen hatte: Als absolute Neuerung für die diesjährige Herbstdult war ein Stand mit „veganen Köstlichkeiten“ angekündigt worden. Statt Schweinshaxn, Rostbratwürsten und Schaschlik wie in den Festzelten und an allen anderen Fressbuden, solle es da vegane Burger geben aus Couscous, Linsen und Grünkern oder vegane Currywürste aus Tofu oder Seitan. „Ja pfui Deifi“, hatte er sich gedacht, „wer sollt’ denn sowas fressen wolln?“
Wobei er, eingestandenermaßen, nicht die geringste Ahnung hatte, was denn unter Tofu oder Seitan überhaupt zu verstehen sei. Er kannte von seiner Schulzeit her eine Veganerin, die sich von so etwas ernährte und aus seiner Sicht auch genauso aussah. So eine wollte er nicht einmal mit der Beißzange anfassen – selbst wenn sie die letzte Frau auf Erden wäre. Im Freundeskreis, in dem man die Sache mit den veganen Currywürsten eingehend erörterte – „da graust’s ja der Sau“ –, war man übereingekommen, beim kollektiven Dultbesuch am nächsten Samstag den Veganern von hinten an die Bude zu bieseln. Geschlossen, alle zehn Mann hoch.
Jetzt aber stand er ziemlich verloren vor dem Standl herum, an dessen Vordach ein Schild mit der selbstgemalten Aufschrift „Vegan Revolution“ hing. „Bluatsauerei, elendige“, dachte er, nur gut, dass seine Spezln diese Abfuhr nicht mitbekommen hatten. So hatte ihn ja noch nie eine auflaufen lassen, und auch noch eine grünhaarige Veganerpritschn. Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen.
Zurück am Veganstandl
Und plötzlich wusste er, was zu tun war. Quer durch die immer noch von allen Seiten herbeiströmenden Menschenmassen kämpfte er sich zurück zum Dultstadl, an dessen Hinterausgang er sein Radl abgestellt hatte. Die angebissene Leberkässemmel, die er immer noch in der Hand hielt, warf er in einen der dort aufgestellten Müllcontainer. Im Eiltempo radelte er das kurze Stück nach Hause, wo er in Windeseile sein mia-san-tracht.de-Outfit ablegte – von seiner früheren Schulfreundin wusste er, dass Veganer keine Lederklamotten trügen, ja nicht einmal Schuhe aus Leder – und schon war er wieder unterwegs zurück zum Festplatz. In Jeans, T-Shirt – das schwarze mit dem knallgelben „B6“-Aufdruck vom letztjährigen Malle-Urlaub – und seinen brandneuen Zalando-Sneakers. Im T-Shirt, dachte er, könne man ohnehin viel besser sehen, dass er seit einem Jahr ins „EasyFit“ ging.
Während er zurückradelte, überlegte er krampfhaft, was er denn sagen sollte. Originell musste es sein und gleich mit der Tür ins Haus fallen, das funktionierte am besten. Ob sie woanders auch tätowiert sei oder nur an den Armen, wäre eine Option; oder ob sie untenrum auch grüne Haare hätte. Beides hielt er sich in petto.
Nach einer knappen Dreiviertelstunde war er wieder auf dem Festplatz. Er sperrte sein Radl hinter dem Dultstadl ab, nahm einen kräftigen Schluck Zwetschgenbrand aus dem Flachmann, den er sich sicherheitshalber eingesteckt hatte, und kämpfte sich erneut durch die Massen an Festbesuchern, die scheinbar immer noch mehr geworden waren. Dann stand er wieder vor dem Veganstandl.
„I bin der mit der Leberkässemmel“
Schon von Weitem hatte er die leuchtend grünen Haare gesehen, die jetzt zu einer Art Wuscheldutt nach oben gebunden waren. Geduldig wartete er in der Schlange, die sich vor dem Stand gebildet hatte – so konnte er sie unbemerkt und in aller Ruhe taxieren –, bis er dran war. „Kennst mi no?“, fragte er betont draufgängerisch über den Verkaufstresen hinweg und tippte sich mit beiden Daumen an seine Fitnessstudiobrust, da, wo vorher die Senfflecken waren: „I bin der mit der Leberkässemmel.“
„Ja, ich weiß“, sagte sie und wandte sich der nächsten Kundschaft zu.
„Verkaufst mir auch was Veganes?“, versuchte er es erneut. Und als er keine Antwort erhielt: „Eine Leberkässemmel bitte, mit extra Senf.“
„3,80.“
Provokant langsam zählte er das Geld aus seinem Portemonnaie auf den Tresen, 20 Cent zu viel. „Passt schon“, sagte er gönnerhaft, „du musst schließlich auch von was leben.“ Und ganz so, als sei ihm damit ein besonders witziger Spruch gelungen, fuhr er in gleicher Tonlage fort: „Und magst mit mir Autoscooter fahrn, wennst amal Pause hast?“
Ohne aufzuschauen verteilte sie etwas Senf auf der Leberkässcheibe, die sie frisch abgeschnitten hatte, und legte sie, zusammen mit einem Schnitz Gewürzgurke zwischen zwei Semmelhälften. Mit einem charmanten Lächeln und einer Papierserviette reichte sie ihm die Semmel über die Theke. „Lieber hack’ ich mir einen Arm ab“, sagte sie halblaut, aber doch deutlich verstehbar, wobei sie wohl selbst nicht recht wusste, ob sie es zu ihm oder zu sich selber sagte. Dann nahm sie freundlich die Bestellung der nächsten Kundschaft entgegen: „Zwei Leberkässemmeln? Gerne, kommen sofort.“
Colin Goldner
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Dr. Colin Goldner, klinischer Psychologe, lebt seit über 25 Jahren konsequent vegan. Damit ist er in dem kleinen Dorf bei Landau a.d. Isar, in dem er mit Ehefrau und 70kg-Dogge (beide ebenfalls vegan!) zuhause ist, fast so exotisch wie ein Außerirdischer.
(Text aus: Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller Ostbayern (Hg.): Genussvolles Ostbayern. SüdOst-Verlag, Regenstauf, 2021)
Glossar (alphabetisch)
angezipft = genervt, verärgert, Blas’n = engerer Freundeskreis, Bummswagerl = Autoscooter, B6 = Ballermann 6 (Örtlichkeit für exzessiven Party- und Sauftourismus auf Mallorca), Dultstadl = Festzelt der Brauereien Hacklberg und Innstadt, EasyFit = Passauer Fitnessstudio, gigatzen = stottern, Hacklberger = Bier der Großbrauerei Hacklberg (im Besitz des Bistums Passau), Händlmaier = Bayerisch-süßer Hausmachersenf, Haferlschuh = seitlich gebundene Trachtenschuhe, Hasen = weibliche Landjugend, Loferl = gestrickte Wadenwärmer, Pfoad = Leinenhemd, Pritschn = Frau mit (angenommen) promiskuitivem Lebenswandel, Radistandl = Verkaufsstand für Rettich und Radieschen, Schilett = ärmellose Weste (franz. Gilet), Seitan = Weizeneiweiß. Tofu = aus weißen Sojabohnen hergestellter, schnittfester „Topfenquark“, Wichs = kurze Lederhose, Zalando-Sneakers = über einen Online-Versand bezogene Sportschuhe, Zwetschgenbrand = hochprozentige Spirituose (>40 Vol.-% Alkohol)
Rezept für veganen Leberkäs
Zutaten
Für eine Kastenform („Königskuchenform“) von 25 cm Länge; ergibt 12 bis 15 Scheiben zum Abbräunen, kalt aufs Brot oder in die Semmel bis zu 20 Scheiben.
- 12 EL Haferflocken
- 650 g Tofu (natur)
- 200 ml Pflanzenmilch (Soja oder Hafer)
- 4 TL gekörnte Gemüsebrühe
- 4 EL Speisestärke
- 2 TL Guarkenmehl
- 2 EL neutrales Öl
- 2 EL Agavendicksaft
- 4 EL Tomatenmark
- 2 TL mittelscharfer Senf
- 2 TL granulierter Knoblauch
- 2 TL edelsüßes Paprikapulver
- 1 TL Majoranpulver
- 1 TL gemahlener Piment
- 1 TL gemahlener Kümmel
- 1 TL Ingwerpulver
- 1 TL gemahlener Kardamom
- 1 TL frisch geriebene Muskatnuss
- 1 TL Rauchsalz
- 1 TL Pfeffer
- 4 EL Sojasauce
- 2 TL Hefeextrakt
- 2 EL Sojamehl
- 4 EL Rote-Bete-Saft
Zubereitung
- Den Backofen auf 150° vorheizen. Haferflocken in der Küchenmaschine mit Schlagmesser oder im Mixer fein mahlen. Tofu abtropfen lassen und dazubröckeln. Die Pflanzenmilch mit der Brühe verrühren und hinzufügen.
- Speisestärke, Guarkernmehl, Öl, Agavendicksaft, Tomatenmark, Senf, Knoblauch, Paprikapulver, Majoran, Piment, Kümmel, Ingwer, Kardamom, Muskatnuss, Rauchsalz, Pfeffer, Sojasauce und Hefeextrakt ebenfalls in die Küchenmaschine oder den Mixer geben und alles cremig pürieren. Das Sojamehl mit dem Rote-Bete-Saft verrühren und unter die Tofumasse mischen.
- Die Kastenform mit Alufolie auskleiden. Die Masse hineingeben und glatt streichen. Im Ofen (Mitte, Umluft 140°) ca. 1 ¼ Std. backen, dabei nach der Hälfte der Backzeit mit Alufolie abdecken. Den Tofu-Soja-Laib mit der Alufolie aus der Form nehmen und abkühlen lassen. Die Alufolie entfernen, den Laib in Scheiben schneiden. Passt kalt auf Brot (oder in eine Semmel) mit Gewürzgurken und/oder Senf oder gebraten zu Bratkartoffeln oder Kartoffelsalat.
Fertig!