Sommer 2020. Das neuartige Coronavirus breitet sich von Asien ausgehend immer weiter aus. Die Angst vor dem unbekannten Krankheitserreger wächst deutlich schneller als die Zahl der Infizierten. Die Welt steht still. Lockdown. Pandemie-bedingte Beschränkungen und das Herunterfahren der gesamten Gesellschaft sorgen dafür, dass die Menschen wieder zu sich selbst finden. Das Hamsterrad dreht sich nach Jahrzehnten wieder einmal etwas langsamer. Das, was als selbstverständlich angesehen wurde – unzählige Feste an jedem Wochenende, Flugreisen in entfernteste Länder etc. -, wird plötzlich wieder als Luxus betrachtet. Was es ja auch ist. Viele beschwören, künftig bewusster leben zu wollen. Mehr Wertschätzung für alltägliche Dinge zu zeigen.
Sommer 2022. Covid war gestern. Obwohl das Virus inzwischen zu unserem Leben gehört und sich die Inzidenzen wieder erhöhen, gilt Corona mittlerweile für viele als „normale Grippe“. Es hat sich, wie es scheint, bestätigt, dass sich mit jeder Variante die Gefährlichkeit des Erregers verringert. Die Menschen haben die Einschränkungen satt. Die vor 24 Monaten noch deutlich zu spürende Obrigkeitshörigkeit gegenüber Politik und Wissenschaft ist Ignoranz und Hedonismus gewichen. Wenn man so will, hat sich eine gewisse Art von Anarchismus eingeschlichen. So gut wie jeder will genießen, feiern, leben – und gibt so richtig Gas!
Die, die noch vor ein, zwei Wochen auf Abstand achteten und jeden gegeißelt haben, der keine Maske trägt, sind plötzlich zu wahren Partylöwen mutiert. Aus den Mitgliedern des „Team Vorsicht“ entwickelten sich zunächst die Moralaposteln, ehe sie zu einer Judas-Horde konvertierten. Querdenker wurden zunächst belächelt, nun erscheinen sie als „modern“. Generell ist die 2020 noch mantrahaft betonte Bodenständigkeit nicht nur weg, sondern schier vergessen. Eine nie dagewesene Dekadenz hat sich Bahn gebrochen. Nach-Corona ist Vor-Corona – hoch zwei.
In jedem dieser Fälle droht das komplette Chaos…
Jeder noch so kleine Stammtisch, jede noch so unterklassig spielende Fußballmannschaft wählt für den Vereinsausflug als Zielort nicht mehr den nächstgelegenen See, Pullman City oder – im Extremfall – vielleicht noch München oder Nürnberg. Nein, nun muss es der Bierkönig sein. Per Billigflug auf die Insel. Übers Wochenende. Einfach so. (Volks-)Feste in der Region boomen regelrecht. Die einen begründen dies mit der wiedergewonnenen Lebensfreude. Die anderen schütteln ob dieser exzessiven Lebensart einfach nur den Kopf.
Wenn allerdings tatsächlich, wie sich immer wieder bewahrheitet, Hochmut vor dem Fall kommt, erfolgt die Bruchlandung schneller als erwartet. Und es gibt viele Varianten dieses zu erwartenden Super-GAUs. Entweder werden die ohnehin auf Kante genähten Geldbeutel angesichts der inflationsbedingten Preissteigerungen noch schneller leer – und bleiben es. Oder es kommt zu einem weiteren Sittenverfall unserer Gesellschaft, der in den vergangenen Jahren ohnehin bereits besorgniserregende Ausmaße angenommen hat. Oder – und das ist angesichts der derzeitigen Corona-Entwicklung durchaus wahrscheinlich – die Politik beendet den ganzen Spuk wieder. Im Herbst. Wenn das Virus dann wieder voll durchbricht – mit einer neuen Variante, die uns wieder an den einstigen Ausgangspunkt bringt. Hauptsache wir konnten uns den Sommer über wieder mal so zeigen, wie wir wirklich sind…
Kommentar: Helmut Weigerstorfer