Passau. 23°C, strahlend blauer Himmel. In der Ferne kann man schon das Meer erkennen. Da kommen sie. Auf schmalen Rennrädern schießt die Gruppe über die Straße. Voller Energie tritt der Fahrer mit der Startnummer 202 in die Pedale. Da kommt die nächste Steigung. Scheinbar mühelos fährt er die steile Passage hoch, überholt nebenbei noch ein paar Konkurrenten. Hinter den Spiegelgläsern seiner Sonnenbrille ist seine Mimik kaum zu erkennen. Doch es läuft gut für ihn. Noch einmal gibt er alles. Endspurt, Ziel. Jubelnd wirft er die Hände in die Luft. Erschöpft, aber strahlend lächelt er, immer noch außer Atem, verschwitzt und sehr zufrieden. Endlich hat alles so geklappt, wie es sollte. Denn was so mühelos aussieht, ist das Ergebnis harter, monatelanger Vorbereitung, voller Höhen und Tiefen.
Irgendwo im Bayerischen Wald. Eine kleine, kaum befahrene Landstraße. Die Temperatur ist knapp über null. Die Sonne versteckt sich noch hinter ein paar Wolken und der Wind macht die paar Grad noch eisiger als sie es eh schon sind. Da vorne erscheint in weiter Ferne ein kleiner Punkt auf der Straße. Als er näherkommt, erkennt man einen Fahrradfahrer. Als er noch näherkommt, erkennt man einen Rennradfahrer, eingepackt in ein paar Schichten Radklamotten, die viel zu dünn aussehen für das Wetter.
Angestrengt tritt er in die Pedale. Vor ihm eröffnet sich nach einer Kurve plötzlich eine Weitsicht in den verschneiten Bayerischen Wald. Die Sonne kommt raus. Doch der Radfahrer bekommt davon nichts mit. Zu groß ist die Anstrengung, zu sehr brennen die Oberschenkel. Heute klappt das Training einfach nicht so wie es soll. Frustriert tritt er in die Pedale.
Ein Leben für den Sport
Ende Januar. In etwas mehr als einem Monat startet für Jonas Sonnleitner die Rennsaison. Der 24-Jährige aus Passau wurde vor etwa acht Jahren „vom Radsport-Virus erwischt“, wie er selbst sagt. Seitdem bestimmt das Training seinen gesamten Alltag. „Die wenigsten wissen, was da alles dahintersteht. Du musst dein ganzes Leben auf den Sport abstimmen“, erzählt Jonas.
Dieses Jahr hatte er Glück. Nachdem er die letzten Jahre für Teams in Erfurt und Österreich gefahren ist, wurde jetzt ausgerechnet in Passau ein neues Radsport-Team gegründet. Das Team „Santic Wibatech“ ist ein Kontinental-Team, von den Radsport-Insidern auch KT-Team oder Konti-Team genannt. Vergleichbar in etwa mit der Dritten Liga im Fußball. In ganz Deutschland gibt es davon zurzeit nur acht Stück. Man ist also noch nicht ganz oben angekommen. Aber wer es bis hierher geschafft hat, der muss schon einiges geleistet haben.
Mit dem Passauer Team nimmt Jonas Sonnleitner vor allem an internationalen Rennen teil. Im Sommer steht fast jedes Wochenende ein Wettkampf an. Diese Saison wird endlich nicht mehr von den Corona-Beschränkungen beherrscht und die meisten Rennen finden wie geplant statt. Aber auch in den Jahren davor hat der junge Mann schon einiges erreicht. Mit dem Erfurter Team „P&S Metalltechnik“ verfehlte er 2019 mit dem vierten Platz nur knapp das Podium bei der Deutschen Meisterschaft im Mannschaftszeitfahren. Zudem gelang ihm eine Top-Ten-Platzierung bei der Bayerischen Meisterschaft im Einzelzeitfahren, die 2020 unter Corona-Bedingungen stattfand. Auch die Teilnahme an den wichtigsten und größten deutschen Radrennen „Eschborn-Frankfurt“ und „Rund um Köln“ kann nicht jeder Radprofi auf seine Liste schreiben. Jonas schon.
„Das ist schon extrem hart“
Anfang Februar. Am Brotjacklriegel, auf knapp 1.000 Meter Höhe. Der Himmel ist wolkenlos, der Schnee reflektiert so hell, dass es fast blendet. Alles ist still. Gut gelaunt kommen zwei Wanderer vorbei. Einer von ihnen hat seine Schneeschuhe am Rucksack baumeln. Sie gehen ein kurzes Stück an der Straße entlang und biegen dann in den Wald hinein ab. Schon von weitem hört man den schweren Atem. Dann erkennt man den weißen Fahrradhelm, das dunkelblaue Trikot. Der ganze Körper ist unter Spannung. Das schmale Rennrad schwankt von links nach rechts. Unter der schwarzen Fahrradhose zeichnen sich deutlich die Oberschenkelmuskeln ab, die erahnen lassen, wie viel Kraft man für diesen Sport braucht.
Meter für Meter kämpft sich Jonas die Straße hoch. Die Lunge brennt, die Muskeln sind am Rande ihrer Kapazitäten. „Du weißt schon vorher, dass es ab der zweiten oder dritten Minute richtig wehtut und du das dann trotzdem weiter durchhalten musst“, erzählt er nach dem Training. „Das ist schon extrem hart.“ Gerade in der letzten Phase vor Rennbeginn heißt es für Jonas nochmal alles geben. Der Plan für diese Woche: fünf Tage auf dem Velo, ein Tag Stabilisationsübungen und Joggen, ein Tag Ruhe. Bis zu 600 Kilometer legt er innerhalb einer Woche auf dem Fahrrad zurück. Also ungefähr die Strecke von Passau nach Berlin. Nebenbei arbeitet Jonas im Familienbetrieb, einem Orthopädie-Schuhtechnik-Geschäft in Pocking.
Obwohl offiziell Radprofi ist er kein Berufssportler. „Ich könnte nicht nur vom Radsportgehalt leben“, berichtet er über die paar hundert Euro Gehalt, die er von seinem Team bekommt. Standardsummen in dieser Leistungskategorie. So kommt neben den 15 bis 20 Stunden Radtraining in der Woche noch der normale Job dazu. „Wenn du hart trainieren musst und dann noch auf der Arbeit Stress hast, ist das natürlich heftig“, sagt Jonas – und ergänzt: „Aber eigentlich bin ich froh, dass ich auch einen Ausgleich zum Sport habe.“ Und Zeit für Familie, Freunde und Beziehungen muss auch noch sein. Oder einfach mal Urlaub ohne Training.
Auch laufen gehört dazu
Freitagnachmittag, Mitte Februar. Kaum von der Arbeit zu Hause, heißt es: Laufschuhe an, Kopfhörer rein und noch die 40 Minuten Joggen hinter sich bringen, die der Trainer für heute auf den Plan geschrieben hat. Dabei sind die Muskeln schon müde von all den Anstrengungen der letzten Wochen. Zügig läuft Jonas los. Wenn er auf dem Fahrrad sitzt, hat er schöne Ausblicke, die er bei lockeren Fahrten auch genießen kann. Die Natur, die Routine, mit der er gleichmäßig in die Pedale tritt. Die Momente, in denen er sich über den Rahmen nach vorne legt und mit 60 km/h die schmale Bergstraße bergab fliegt – ganz in seinem Element.
Jetzt ist er in Gedanken versunken. Der Atem geht ruhig und regelmäßig. Die Wangen sind vor Anstrengung leicht gerötet, der Blick schweift immer wieder in die Ferne. Da sind die grauen Wohnblöcke, die lauten Autos, das Pärchen, das seine beiden Chihuahuas an der Leine hinter sich herzerrt. Jonas läuft weiter. Vielleicht nicht sehr motiviert, aber seine Ausdauer macht sich bemerkbar. Es geht bergan. Ohne das Tempo zu verlangsamen, läuft er weiter. Morgen warten schon wieder die nächsten fünf Stunden auf dem Rad.
„Faktoren, über die man sich so gar keine Gedanken macht“
Aber worauf kommt es beim Training denn überhaupt an? Oliver Elsenbach ist Trainer im Profi-Radsport. Er hat schon die ganz großen Fahrer trainiert. Etwa Sieger von Tour-de-France-Etappen. Oder aktuell zum Beispiel ein junges Ausnahmetalent aus der Schweiz, das sich vor Vertragsangeboten kaum retten kann. Elsenbach weiß also, was man bei einem guten Radsport-Training beachten muss. „Es gibt so viele Faktoren, über die man sich normalerweise gar keine Gedanken macht“, sagt er.
Klar: Ernährung, genug Schlaf, wenig Stress – das kann man sich schon denken. Dazu kommt die Gratwanderung zwischen dem täglichen Ausloten der körperlichen und mentalen Grenzen, um die Leistung zu steigern, und der Überbelastung, die dann schnell mal die ganze Motivation killen kann. In der Rennsaison dann das ständige Unterwegssein: jedes Wochenende in einem anderen Hotelbett schlafen, wenn andere feiern gehen; früh ins Bett und um acht wieder auf dem Fahrrad sitzen.
Für Jonas ist dies aber auch das Schöne am Sport. Reisen, was von der Welt sehen. Mit Teamkollegen auf dem Fahrrad die Morgensonne von Kroatien genießen. „Ich bin gerne auf Rennen. Man kommt mal raus, ist unterwegs. Nebenbei hat man diese Gemeinschaft mit den Radkollegen. Wenn man zusammen Höhepunkte und Niederlagen erlebt, dann schweißt das zusammen“, erzählt der 24-Jährige begeistert.
„Jonas ist sehr ehrgeizig“
Samstagmorgen, halb zehn. Eine der letzten Trainingseinheiten bevor die Ruhewoche anfängt. Danach folgen auch schon die ersten Rennen. Ab dann heißt es bis Mitte Oktober fast jede Woche Höchstleistungen vollbringen. Gut gelaunt packt Jonas Handy und Proviant in die Taschen am Rücken seines Radtrikots. Sonnenbrille auf und los geht’s in Richtung Obernzell. Für heute sind wieder Intervalle geplant. Das heißt: wieder im Minutentakt an die eigene körperliche Grenze gehen. Ab und zu sogar ganz freiwillig: „Manchmal hat man einfach Bock sich zu quälen“, sagt Jonas und lacht.
Aber erstmal geht es locker voran. Die Sonne gibt sich größte Mühe – und als der Weg dann in Österreich auf kleinen Ufersträßchen entlang der Donau führt, ist das Urlaubsfeeling perfekt. Noch einmal links abbiegen. Da kommt schon die Serpentinenstraße. Und los. Mit aller Kraft stemmt sich Jonas in die Pedale. Immer wieder steht er auf, nutzt sein ganzes Gewicht. Die Straße wird immer steiler.
Spätestens jetzt müsste ein Freizeitsportler wohl absteigen und schieben. Jonas fährt knapp 20 km/h. Sechs Minuten alles geben. Drei Minuten Pause. Die nächsten sechs Minuten. Das Atmen fällt schwerer. Pause. Alles wieder runter rollen und auf zum nächsten Berg. Die nächsten sechs Minuten. Die Muskeln geben wortwörtlich alles. Wieder drei Minuten durchatmen. Schlangenlinien fahren, sich einreden, dass man die nächsten sechs Minuten auch noch packt. Und weiter. Nochmal alles geben. 5:57, 5:58, 5:59, Pause. Noch einmal.
Wenn Jonas etwas anfängt, dann möchte er es richtig machen. Nicht nur so halb. Deshalb war für ihn klar, dass er Rennen fahren, sich mit anderen messen möchte. Mit allem was dazugehört. „Ich mag die Herausforderung, gegen andere zu fahren, die viel stärker sind als ich. Das gibt mir die Motivation, noch besser zu werden und noch härter zu trainieren“, erklärt er. Das kann auch seine ältere Schwester bestätigen: „Jonas ist sehr ehrgeizig. Ihm macht es Spaß, sich zu Höchstleistungen zu bringen.“
Und welche Voraussetzungen braucht man noch, um im Leistungssport erfolgreich zu sein? „Vor allem Durchhaltevermögen. Biss. Den Willen bis zur letzten Konsequenz zu sagen: Da will ich hin, dafür gebe ich jetzt alles“, sagt Stephan Kehr vom Institut für Sportwissenschaft in Darmstadt. „Wenn ich nie über meine Grenzen hinausgehe, kann ich natürlich auch nicht besser werden.“
Die Quälerei hat sich gelohnt
Die letzten sechs Minuten sind um. Außer Atem, verschwitzt und sehr zufrieden beendet Jonas sein Training. Endlich hat alles so geklappt, wie es sein sollte. Er spürt den Trainingserfolg der vergangenen Wochen. Die Quälerei hat sich gelohnt. „Ich freue mich, wenn jetzt endlich die Rennsaison beginnt. Ein gutes Rennen ist wie eine Belohnung für das ganze Training“, sagt er. Erschöpft, aber strahlend lächelt der junge Sportler. Er ist bereit für den Wettkampf.
Leontien Heidemann