Kronwinkel/Grainet. Lebensmittel aus biologischem Anbau sind seit einigen Jahren in aller Munde – im wahrsten Sinne des Wortes. Bei solchen Produkten denkt man an schonend bewirtschaftete Ackerflächen und glückliche Tiere, die auf der Weide grasen. Bio ist ohne Zweifel im Trend. Auch Familie Wilhelm hat den Schritt zur Umstellung auf ökologische Landwirtschaft gewagt – allerdings mit einem großen Unterschied zu vielen anderen Bio-Betrieben in der Region: Sie verarbeitet ihre Milch direkt auf dem Hof weiter und vermarktet ihre fertigen Produkte selbst. So folgt auf die Herstellung direkt der Verkauf an nahegelegene Supermärkte, Hotels und andere Kunden, aber auch vor Ort an Privatpersonen. Ein Vorbild für andere Bauern in der Region?
Mittwochmorgens um 7.30 Uhr geht es in dem kleinen Produktionsraum der Hofmolkerei Wilhelm in Kronwinkel bei Grainet routiniert und gleichzeitig entspannt zu: Mit nahezu beruhigender Regelmäßigkeit ist das Scheppern der Deckel zu hören, die Heidi Wilhelm auf die frisch abgefüllten Joghurtgläser schraubt. Im Hintergrund läuft das Radio und spielt Oldies aus den 80ern, während auf dem Tisch, der eigentlich zum Etikettieren benutzt wird, auch ein Latte Macchiato und eine Keksdose stehen, aus der Chefin Heidi, Mitarbeiterin Claudia und Lisa – die Freundin von Heidis Sohn Andreas – immer wieder naschen. Schon auf den ersten Blick ist klar zu erkennen, dass die drei ein eingespieltes Team sind. Mit einem Lächeln auf den Lippen unterhalten sie sich über aktuelle Themen aus dem Dorf.
Die Hofmolkerei als zweites Standbein
Diese gemütlich anmutende Atmosphäre lenkt von der Tatsache ab, dass auch heute wieder rund 1.500 Gläser Biojoghurt abzufüllen sind, was meist von 5 Uhr morgens bis fast 12 Uhr mittags dauert. Das Verschließen und Etikettieren der Gläser geht dabei noch von Hand, während das Befüllen mit Joghurt und Früchten von einer Maschine übernommen wird.
Im Nebenraum wäscht eine der beiden Großmütter, die ebenfalls auf dem Hof leben, gerade die Gläser ab, die aus dem Verkauf der Vorwoche wieder leer zurückgekommen sind. Sie werden vor der Wiederverwendung zweimal in einer Industriespülmaschine gereinigt: Einmal direkt nach der Ankunft auf dem Hof und noch ein zweites Mal direkt vor dem erneuten Befüllen, um möglichst große Hygiene zu garantieren.
Seit der Bio-Zertifizierung des Hofes im Jahr 2017 betreibt die Familie nämlich als zweites Standbein eine kleine Molkerei, die Milch zu Käse und Joghurt verarbeitet. „Ökologische Landwirtschaft betreiben wir aus Überzeugung. Der Gedanke daran war in der Familie schon lange da“, versichert Andreas Wilhelm, der den Hof von seinen Eltern Heidi und Hans übernommen hat und ihn nun schon seit einigen Jahren leitet.
„Bio hat im Lehrplan eigentlich kaum eine Rolle gespielt“
Im Stall riecht es nach einer Mischung aus frischem Futter und Mist, man hört von allen Seiten lautes Muhen – ländliche Idylle wie aus dem Bilderbuch. Während sich eine Kuh gerade an der Waschbürste im Außenbereich bei strahlendem Sonnenschein saubermachen lässt, erklärt Andreas: „Die Kühe haben bei uns nicht so viel Druck wie anderswo. Ein Tier gibt ungefähr 6.000 Liter Milch im Jahr, der bayerische
Durchschnitt liegt bei knapp 8.000.“ An seine Ausbildung als Landwirt, die er mit dem Meistertitel abgeschlossen hat, erinnert er sich so zurück: „Es ging eigentlich immer nur um die Frage: Wie kann ich meinen Profit maximieren und möglichst effizient sein? – aber das war nie das, was ich wollte. Bio hat im Lehrplan eigentlich kaum eine Rolle gespielt.“
Diese Tatsache zeigt sich vielleicht auch daran, dass es in den letzten Jahrzehnten zu einem massiven Hofsterben in ganz Deutschland gekommen ist. Der Trend geht klar weg vom kleinbäuerlichen Betrieb mit nur wenigen Hektar Bewirtschaftungsfläche hin zu wenigen Großbetrieben, die die Landwirtschaft dominieren. Laut dem Bayerischen Landesamt für Statistik hat sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe im Landkreis Freyung-Grafenau von 2003 bis 2016 nahezu halbiert: von 1.972 auf 1.097 Höfe. Besonders Kleinbauern im Nebenerwerb waren von diesem Strukturwandel stark betroffen: 2003 gab es noch 630 Betriebe, die weniger als fünf Hektar bewirtschafteten, 2016 waren es nur noch 32.
Dass ökologische Landwirtschaft dabei helfen könnte, diese Strukturen zu verändern, glaubt Siegfried Jäger nicht. Er ist Kreisobmann des Bayerischen Bauernverbandes und besitzt einen konventionellen Hof in Klafferstraß nahe der bayerisch-österreichischen Grenze: „Der Strukturwandel ist ein Phänomen in ganz Deutschland, das ist also nicht regionalspezifisch. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben ungefähr 90 Prozent der Betriebe aufgehört.“ Es ist jedoch klar ein anderer Trend zu erkennen: Mittlerweile sind knapp 11 Prozent der Betriebe in Bayern auf Bio umgestiegen. Bis 2030 soll laut dem Bayerischen Naturschutzgesetz sogar das ehrgeizige Ziel von 30 Prozent erreicht werden.
Kühe sind von April bis Oktober auf der Weide
Als eines der größten Probleme für die biologische Landwirtschaft im Bayerischen Wald sieht Jäger fehlende Möglichkeiten zur Schädlingsbekämpfung, etwa des Engerlings. Allerdings bescheinigt er der Region ein hohes Potenzial in Sachen Viehhaltung: „Wir haben hauptsächlich Dauergrünland in unserem Gebiet. Das hat bei uns klimatische Ursachen, nämlich die langen Winter mit viel Schnee und niedrigen Temperaturen. Grünland ist in diesem Fall einfach robuster und ertragssicherer. Viehhaltung hat dabei den Vorteil, dass man mit relativ wenig Fläche einen hohen Ertrag erzielen kann – eben durch Umwandlung in Milchprodukte oder Fleisch.“
Man kann also sagen, dass die Wilhelms mit der Gründung einer hofeigenen Molkerei vieles richtig gemacht haben. Auch die dafür nötigen Investitionen waren in ihrem Fall nicht allzu hoch, da sie den Hof ohnehin erst 2011 umfassend umgebaut hatten.
Die Rollenverteilung bei der Arbeit ist noch relativ traditionell gestaltet: Sohn Andreas und Heidis Ehemann Hans kümmern sich um die Tiere und den Anbau des Futters, während die Frauen in der Molkerei arbeiten. Die Kühe werden von April bis Oktober auf der Weide gehalten, sofern sie gerade keine Milch geben. Gesetzlich vorgeschrieben war die Weidehaltung aber lange nicht. Für eine Bio-Zertifizierung war es bis zum Inkrafttreten der EU-Verordnung 2018/848 im Januar 2022 ausreichend, den Tieren im Stall in der Sommerzeit täglich frisches Gras zu verfüttern.
Die Nische macht’s
Ein großes generelles Problemfeld der Landwirtschaft stellt die Globalisierung dar. Dadurch, dass heute der Weltmarkt sämtliche Preise bestimmt, können kleine, lokale Betriebe oft nur schwer mit den großen, internationalen Schritt halten. Siegfried Jäger formuliert hierzu treffend: „Bis 1991 wurde die Landwirtschaft über Importzölle geschützt. Aber heute muss ein kleiner Milchbauer aus Haidmühle mit seinen zwölf Kühen auch mit einem US-amerikanischen Großbetrieb mit 10.000 Tieren konkurrieren.“
Dieses Problem versuchen die Wilhelms durch Eigenproduktion und Verkauf vor Ort zu umgehen. Etwa 50 Prozent ihrer Frischmilch verkaufen sie an andere Molkereien weiter, der Rest wird direkt am Hof verarbeitet. Die eigene Molkerei war für Heidi von Anfang an eine Herzensangelegenheit: „Als ich 2017 damit angefangen habe, war ich noch eine richtige Einzelkämpferin. Da habe ich noch alles alleine produziert. Und auch heute bin ich nach wie vor die erste, die morgens mit der Arbeit anfängt“, erzählt sie und lacht. Sie gibt aber auch zu, dass sich die eigene Herstellung und der regionale Verkauf nur deshalb lohnen, weil es sich dabei im Moment noch um eine recht kleine Nische handelt: „Sobald es zu viele machen und die Konkurrenz zu groß wird, wäre es wohl nicht mehr rentabel.“
Das „Milchtankhäusl“, das Andreas‘ Freundin Lisa stolz präsentiert, ist fast schon eine in sich abgeschlossene Öko-Welt im Miniformat. In der kleinen, gezimmerten Hütte, die vor dem Hof unter ein paar alten Bäumen steht, gibt es nämlich nicht nur Milch und Joghurt. Auch viele andere landwirtschaftliche Produkte von befreundeten Bio-Höfen in der Nähe wie Honig, Eier, Würstchen oder sogar kleine Fertiggerichte aus dem Einweckglas kann man hier rund um die Uhr kaufen.
Alles Bio – oder was?
Natürlich gehört zur ökologischen Landwirtschaft noch eine andere Seite: Nämlich die, dass sie oft gar nicht die Vorstellungen erfüllt, die den Verbrauchern durch Werbung und geschicktes Marketing im Laufe der Zeit suggeriert worden sind. So darf sich beispielsweise eine Legehenne nach EU-Bio-Verordnung noch immer einen Quadratmeter Stallfläche mit fünf anderen Hühnern teilen; zudem können pro Stall bis zu 3.000 Legehennen gehalten werden.
Auch Pestizide dürfen in der Bio-Landwirtschaft eingesetzt werden. Zwar basieren diese dann auf natürlichen Stoffen wie Schwefel oder Kupfer, doch auch sie können schädlich für die Umwelt sein. Durch lange Transportwege und dem damit verbundenen CO2-Ausstoß lässt sich obendrein darüber streiten, ob Südfrüchte wie Bananen oder Avocados mit Bio-Siegel überhaupt nachhaltig sind. Siegfried Jäger glaubt, dass regionale und saisonale Produkte eigentlich das bieten, was Käufer oft von Bio-Lebensmitteln erwarten.
Zumindest bei den Wilhelms ist „Bio“ schon relativ nah dran an der landläufigen Vorstellung. Von den knapp 50 Kilo Futter, die eine Kuh täglich braucht, müssen die Wilhelms nur drei Kilo zukaufen – der Rest wird auf den zum Hof gehörigen Flächen angebaut. Auch Auslauf haben die Tiere hier genug und man spürt, dass die ökologische Landwirtschaft und der Gedanke des Kleinräumigen der Familie wirklich am Herzen liegt.
„Trotzdem war er immer zufrieden und glücklich“
Nachmittags düngt Heidis Mann Hans eines der oberhalb des Hofes gelegenen Felder, während angenehm warme Sonnenstrahlen durch das Glas der Fahrerkabine seines Traktors fallen. Fast schon nostalgisch erzählt er von den alten Zeiten, in der die Landwirtschaft noch nicht so industrialisiert war und es noch zahlreiche Kleinbetriebe gab: „Dieses Feld, auf dem wir gerade fahren, hat früher einem Bauern gehört, der aus heutiger Sicht eigentlich arm war. Er hatte nie ein Auto, konnte nie in den Urlaub fahren oder ähnliches. Aber trotzdem war er immer zufrieden und glücklich mit seinem Leben – und ist es bis heute.“
Am Beispiel der Wilhelms zeigt sich also, dass Selbstvermarktung und regionale Produkte sich lohnen können, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Sicher ist in jedem Fall, dass auch am nächsten Mittwoch wieder 1.500 leere Gläser auf Heidi, Lisa und Claudia warten werden…
Florian Fink