Mitte Januar „wunderte“ sich ein Kollege der Kathmandu Post. Jede Familie, die er in der Hauptstadt Nepals besuchte, hatte mindestens einen Kranken, der über grippeähnliche Symptome klagte. Manchmal waren sogar alle krank. Trotzdem sagte jeder zu ihm, dass es keinen Grund gebe sich testen zu lassen, denn es sei nicht Corona. Eine Reportage.

Anfang Februar gab es in der Basarstadt Tansen ein ähnliches Bild: Auch hier wiegelten viele Kranke mit der Begründung ab, dass es sich nur um eine Grippe handele. Der einzige Corona-Fall kam per Zufall ans Tageslicht: Die Freundin eines Hotel-Angestellten musste aufgrund starker Blutungen während ihrer Menstruation zur Untersuchung ins Krankenhaus. Bei der Einlieferung wurde ein Corona-Test gemacht. Das Ergebnis: positiv.
„Noch einen Lockdown werde ich finanziell nicht überstehen“
Verärgert beschreibt jener Angestellte nach der Quarantäne einen von mehreren Gründen, warum sich in Nepal kaum jemand freiwillig auf Corona testen lässt: „5.000 Rupien hat mich das insgesamt gekostet (umgerechnet 37 Euro – Anm. d. Red.). Der Test im staatlichen Krankenhaus 1.000 Rupien. Der Nachweis im privaten Medical-College, dass wir genesen sind, jeweils 2.000 Rupien.“ Der Angestellte verdient im Monat rund 12.500 Rupien (etwa 92 Euro). Nur der Schnelltest im staatlichen Krankenhaus ist für zehn Rupien zu haben.

Ein Blick in ein Restaurant der Basarstadt zeigt, warum auch für zehn Rupien kaum jemand wissen möchte, ob er mit Corona infiziert ist oder nicht: Durch einen schmalen Gang von zwei Metern Breite drängen sich die Gäste an den kochenden Familienmitgliedern des Restaurants vorbei, um in einen drei mal drei Meter großen Raum zu gelangen – der meistens brechend voll ist. Da die Konkurrenz im Gastrobereich groß ist, wird auch hier das sogenannte Khana-Sutnu angeboten. Das heißt: Wer ordentlich zu Abend isst, bekommt einen Schlafplatz umsonst. Wenn sich offiziell auch nur einer mit Covid infiziert, müsste der Laden dicht machen – und alle würden unter Quarantäne gestellt.
Der andere Grund für die Testunwilligkeit war am 11. Januar in aller Munde: Die Regierung hatte einen sogenannten „soften“ Lockdown über das Kathmandu-Tal und seine 2,6 Millionen Einwohner verhängt. Bereits zwei Tage zuvor wurden alle Schulen im Land geschlossen. Regierungsstellen verlautbarten, dass es bei 20.000 täglichen Neuinfektionen einen weiteren landesweiten Lockdown geben könnte. Der Horror der beiden Lockdowns in Nepal ist immer noch zu spüren, der erste dauerte vier Monate – ohne jegliche Hilfe vom Staat. „Noch einen Lockdown werde ich finanziell nicht überstehen,“ lautete der Satz, der in Nepal zuletzt wohl am häufigsten zu hören war.
Bis heute gibt es kein Einwohnermelderegister
Am 2. Februar war die Zahl der täglich gemeldeten Corona-Fälle jedoch auf 3.637 gesunken, nachdem sie am 20. Januar mit 12.338 einen Höchststand erreicht hatte. Und noch eine Zahl ist wichtig für die wenigen offiziell Infizierten In Nepal: Am 2. Februar haben sich im ganzen Land nur 11.582 Menschen testen lassen. Das entspricht einer Positivrate pro Test von 31,4 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagt jedoch, dass die epidemische Lage in einem Land bereits bei einer Positivrate von fünf Prozent außer Kontrolle geraten ist. Doch, auch in Nepal starben Menschen an Covid. Richtig schlimm wurde es im Mai 2021 im dicht besiedelten Kathmandu, als die Krankenhäuser „voll liefen“ und ihnen der Sauerstoff ausging.
Bis zum 2.Februar 2022 haben sich hierzulande offiziell 957.570 Menschen mit dem Corona-Virus infiziert, 11.752 sind daran gestorben. Bei knapp 30 Millionen Einwohnern scheint das verhältnismäßig wenig zu sein. Wer die Zeilen bis hier gelesen hat, soll seine eigenen Schlüsse über die Glaubwürdigkeit dieser Zahlen ziehen. Dazu weiß die Regierung nicht, wie viele Menschen wirklich in Nepal leben – bis heute hat das Land kein Einwohnermelderegister. Nach Schätzungen sollen alleine im benachbarten Indien bis zu sieben Millionen Nepalesen und Nepalesinnen leben. Zudem: Bereits im August 2021 waren bei 68 Prozent der Untersuchten in Nepal Antikörper gegen Covid-19 gefunden worden – zu einem Zeitpunkt, als erst 14,2 Prozent der Bevölkerung zweifach geimpft waren und nur 17,1 Prozent einfach.
In den Bergen ist das egal, denn Corona ist hier kein Thema
Auch ansonsten ist Nepal nicht mit Europa vergleichbar. Das Medianalter in Nepal soll 24,6 Jahre betragen. In Deutschland sind es 45,7 Jahre. Nepal besitzt kein staatliches Sozialnetz, in jeder Krise sind die Menschen auf sich alleine gestellt. So auch im Jahr 2015, als ein schweres Erdbeben etwa 8.800 Menschen tötete und 800.000 Häuser zerstörte. Noch zwei Jahre später lebten 70 Prozent der betroffenen Menschen in Notunterkünften – trotz Milliarden US-Dollar schweren Hilfen aus dem Ausland.
Auch könnten die Lebensbedingungen innerhalb Nepals kaum unterschiedlicher sein: Etwa 60 Prozent der Bevölkerung lebt mittlerweile im Terai, an der 900 Kilometer langen Südgrenze zu Indien. Im Sommer wird es hier bis weit über 40 Grad Celsius heiß, im Winter gibt es statt Schnee Moskitos satt.

In den Mittelgebirgsregionen bis 3.000 Höhenmeter leben die meisten der restlichen 40 Prozent der Bevölkerung. Aktuell unter harschen Bedingungen, wie auf dem 3.100 Meter hohen Yhir-Neta-Pass, über den der nagelneue Middle-West-Highway führt. Die dortigen Beobachtungen zwischen Ende Dezember und Ende Januar: Im Hotel auf dem Pass waren die Wasserleitungen zugefroren – kein Wunder bei bis zu minus elf Grad ohne Zentralheizung. Morgens tropfte es überall im Hotel von der Decke. Drei der vier jungen Angestellten waren zuerst krank, dann gesund und schließlich wieder krank. Dass es sich dabei jedes mal um Covid handelte, ist unwahrscheinlich; dass Covid auch mal drunter war, jedoch nicht unmöglich.
In den Bergen ist das aber egal, denn Corona ist hier kein Thema. Gäste kommen trotzdem – und eingeschneite Jeeps auf dem Highway deuten an, warum sie zu Fuß kommen. Manchmal liegt nur wenig Schnee, dafür ist die Straße vereist. Dann versuchen Busfahrer und Passagiere gemeinsam mit Schaufeln die steilen Passagen vom Eis zu befreien. Zwischendrin wärmt man sich am Ofen im Hotel auf. Dazu wird gegessen, getrunken und gelacht. Ja, gelacht wird in Nepal viel. Lachen ohne Bösartigkeit. Und oft kommt es einem so vor: Je lauter sie lachen, desto härter sind die Umstände.
Nepals Verhältnis zu Indien und China
Seit Beendigung des Bürgerkriegs vor knapp 16 Jahren und der Abschaffung des letzten hinduistischen Königreiches dieser Erde, leben die Menschen Nepals quasi mit einer dysfunktionalen Regierung – so auch in diesen Tagen. Im Mai 2018 hatte sich die politische Partei der ehemaligen Rebellen, die Communist Party of Nepal (CPN-Maoist), mit ihren eigentlichen „Todfeinden“ zusammengeschlossen, der Communist Party of Nepal (UML). Draus entstanden ist die Nepal Communist Party (NCP). Diese konnte nun mit absoluter Mehrheit im Parlament und der Macht in sechs von sieben Provinzen das Land regieren. Doch es kam wie immer: Nach andauernden Hahnenkämpfen der politischen Führer, die das Land und die Pandemie-Bekämpfung lähmten, löste sich die NCP im März 2021 wieder auf. Die CPN-Maoist schlossen daraufhin ein Bündnis mit ihren anderen „Todfeinden“, der bürgerlichen Nepal-Kongresspartei (NC). Die Kongresspartei war mit ihrer Korruption und Unterstützung des Feudalsystems einer der Hauptgründe, dass die CPN-Maoist im Jahr 1996 den bewaffneten Kampf aufgenommen hatten.

Neben ihrer Prinzipienlosigkeit haben die drei großen politischen Parteien Nepals noch etwas gemeinsam: Für alle Probleme im Land wird der große Nachbar Indien verantwortlich gemacht. Da sich Indiens Regierungen oft genug gegenüber ihrem kleinen nördlichen Nachbarn überheblich verhalten haben, funktionieren die Schuldzuweisungen bis heute. Doch Indien muss auch in Schutz genommen werden: Es war der Subkontinent, der im Jahr 2006 die maoistischen Rebellen und die politischen Parteien in New Delhi an einen Tisch gebracht hatte, damit sie gemeinsam den König absetzen konnten. Ohne Indiens Vermittlung wäre es sehr wahrscheinlich gewesen, dass Nepal diese turbulente Phase in seiner Geschichte nicht als ganzes Land überstanden hätte.
Auch der nördliche Nachbar China muss mittlerweile als Sündenbock für die Unfähigkeit der nepalesischen Politiker herhalten. Im März 2018 kündigte die nepalesische Regierung völlig überraschend einen 1,5 Milliarden-US-Dollar-Vertrag mit der chinesischen Firma Three Georges Corporation, die ein Wasserkraftwerk in West-Nepal bauen sollte. Es ist davon auszugehen, dass sich indische und chinesische Verantwortliche bereits miteinander getroffen haben, um zu beratschlagen, wie sie mit diesen „Irren“ aus Kathmandu umgehen sollen. „Irre“, die andauernd damit drohen, sich selber ins Bein zu schießen – und dabei Gefahr laufen, den eigenen Kopf zu treffen.
Nahrungsmittel und Medizin gehen zur Neige
Auch aktuell regiert das Chaos im politischen Teil Kathmandus. Die verschiedenen Regierungsparteien streiten sich darum, ob sie einen 500-Millionen-US-Dollar-Kredit der USA annehmen sollen. Die Gegner des Kredites streuen Gerüchte, dass Vereinigten Staaten bei Vertragsunterzeichnung das Recht hätten, Truppen in Nepal zu stationieren – was nicht stimmt. Die Befürworter sagen, es wäre eine Spende ohne Verpflichtungen – was ebenfalls nicht stimmt. Der 500-Millionen-Kredit stammt aus dem Millennium-Challenge-Corporation-„Topf“ der US-Regierung. Offiziell soll damit die Armut bekämpft werden. Doch gegründet wurde der „Topf“ im Jahr 2004 von der Bush-Administration, um damit Regierungen in aller Welt zu „stabilisieren“.

Selbstverständlich buhlen China, Indien und auch die USA um Einfluss in Nepal. Doch um Nepals Wichtigkeit im geopolitischen Spiel der „Großen“ richtig einordnen zu können, sei darauf hingewiesen, dass Peking alleine in Pakistan Kredite im Wert von 62 Milliarden US-Dollar „investiert“. Die Menschen Nepals dagegen haben ganz andere Probleme – Omikron ist da nur eines von vielen. In etlichen Bergdistrikten ist das öffentliche Leben durch den Schneefall zusammengebrochen. Nun gehen dort auch noch die Nahrungsmittel aus. Aber auch dort, wo kein Schnee fällt (wie etwa in Tansen), gehen notwendige medizinische Güter zur Neige.
Die jungen Menschen (auch in Tansen) sind völlig desillusioniert. Fast jeder sucht nach einem Job im Ausland. Dabei wird es für sie nicht nur in Katar gefährlich: Seit der Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft starben laut Recherchen des Guardians 6.750 Billiglohnarbeiter in dem Emirat, darunter 1.641 Menschen aus Nepal. Aber auch die Kriege in Afghanistan und im Irak hätten ohne den Blutzoll von Billigarbeitern (u.a. aus Nepal) wohl nicht geführt werden können.
Zahlentricksereien derzeit das einzig Positive
Warum die jungen Menschen sich nicht einfach politisch engagieren, deutet eine Begegnung im Pass-Hotel auf 3.100 Höhenmeter an. Mitte Januar tauchte dort ein Landrover auf, aus dem ein junges, ambitioniertes Mitglied der regierenden Nepalesischen Kongresspartei (NC) aus dem 70 Kilometer entfernten Distrikt Gulmi stieg – dazu zehn seiner Parteigenossen. Etwas später klagte mir der Politiker sein Leid: „Ich kandidiere dieses Jahr bei den Gemeindewahlen für einen von 756 Sitzen. Selbst dafür braucht es knapp eine Million US-Dollar, um erfolgreich zu sein.“ Derlei Ausgaben werden regelmäßig nach gewonnener Wahl wieder reingeholt.
Als die „politische Zukunft“ Nepals am frühen Morgen Richtung Osten den Pass hinunterfährt, wischen die Angestellten die Kotze der politischen Gäste vom Boden.
So sind die Zahlentricksereien der Regierung in Sachen Corona derzeit das einzig Positive – und die Menschen haben den Ball dankbar aufgenommen. Dazu zeigen die Daten aus aller Welt bisher, dass sich die Omikron-Variante zwar schneller ausbreitet, doch bei weitem weniger Schäden anrichtet, als seine Vorgänger.
Gilbert Kolonko
Tellerränder sind immer dann am schönsten wenn man drüber raus schaun kann!
Große Klasse, Ihr macht das.
Mein Glückwunsch, zugleich mein Dank für diesen Blick „unters“ Dach der Welt!
Peter