Was 2015 die Flüchtlinge waren, sind jetzt die Impfungen: ein Grund für Sorgen – teilweise sehr irrationale. Und das nutzen einige aus, um Stimmung zu machen. Wer denkt, er persönlich sei ein kritischer Geist, der sich nicht beeinflussen lässt, sollte an folgendem Experiment teilnehmen: Am Beispiel eines Videos, das AfD-Abgeordneter Martin Sichert kürzlich verbreitete und das auch die Hog’n-Redaktion auf Facebook entdeckte, zeigt Autorin Sabine Simon, warum man Informationen mit Sorgfalt konsumieren – und teilen sollte.

Subjektive Wahrnehmung ist allzu menschlich

Es waren längst nicht nur AfD-Sympathisanten, die das Video verbreiteten, sondern unter anderem auch Impfskeptiker. Wer es nicht kennt, findet es hier bzw. nachstehend. Wenn Sie es anschauen, vorab die Bitte: Lesen Sie danach diesen Text. Komplett. Vielen Dank.

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War Ihre Reaktion sofort: „Oh krass! Die haben alle keine Ahnung!“ Hätten Sie dieses Video eventuell sogar auf Facebook geteilt, wenn Sie es dort gefunden hätten? Dann haben Sie den Köder geschluckt, den der AfD-MdB Sichert Ihnen hier präsentiert hat.

Es ist allzu menschlich, dass man jede Information aus seinem eigenen subjektiven Blickwinkel heraus wahrnimmt. Wer skeptisch gegenüber Impfungen oder dem Staat eingestellt ist, sieht sich daher sofort in diesem Video bestätigt. In diesem und vielen anderen Fällen lohnt sich aber ein genauerer Blick. Eine tiefergehende Recherche im Hinblick auf die Frage: Haben denn alle Sachverständigen wirklich keine Ahnung?

Nach weiteren Informationen zu suchen, bevor man ein derartiges Video teilt, ist aufwendig und schwierig. Man kann dabei aber durchaus auf diejenigen vertrauen, die gelernt haben, wie man sich Informationen beschafft, wie man sie bewertet, einordnet und Zusammenhänge herstellt: den Journalisten. Die „Mainstream-Medien“ sind allerdings so verrufen wie nie zuvor. Denn eine Meinung kann man sich doch im Internet viel besser bilden, sich seine eigenen Informationen zusammensuchen. Oder? „Unzensierte“ Meinung. Allerdings auch: Uneingeordnete Meinung. Deshalb im Folgenden: Der Blick einer Journalistin auf das obenstehende Video. Eine Einordnung.

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Fakten zum Video: Der Hintergrund

Zunächst einmal stellt sich die Frage: Wo kommt dieses Video überhaupt her? Wo wurde es aufgezeichnet, wer spricht da, wer hat es aufbereitet, zusammengeschnitten und mit Einblendungen versehen?

Bei allem, was man in den Sozialen Medien sehen und lesen kann, sollte man sich fragen: Wo kommt es her? Wer hat es veröffentlicht – und was steckt dahinter? Symbolbild: pixabay.com/AzamKomolov

Eine kurze Recherche ergibt: Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der Anhörung im Hauptausschuss des Deutschen Bundestages am 8. Dezember 2021. Es geht in der Anhörung um das von der Ampel-Koalition geplante „Gesetz zur Stärkung der Impfprävention gegen Covid19“ und zur Änderung weiterer Vorschriften bezüglich der Pandemie. Die Anhörung dauerte insgesamt 90 Minuten. In voller Länge kann man sich diese 90 Minuten übrigens ebenfalls bei Interesse hier auf der Seite des Deutschen Bundestages anschauen.

In einer solchen Anhörung haben Abgeordnete aller Fraktionen im Bundestag die Chance, Fragen an Sachverständige bezüglich des geplanten Gesetzes zu stellen . „Der Regelfall ist, dass Sachverständige von den Fraktionen benannt bzw. vorgeschlagen werden. Die Zahl der Sachverständigen und ihre Verteilung auf die Fraktionen werden vorher entsprechend vereinbart“, teilt Frank Bergmann von der Pressestelle des Deutschen Bundestages auf Hog’n-Nachfrage mit.

Wir sehen im Video einen Zusammenschnitt der Fragen von Martin Sichert, dem gesundheitspolitischen Sprecher der AfD-Fraktion. Er hatte zehn Minuten lang Zeit, mit den Sachverständigen zu sprechen. Was wir nicht sehen, sind die zahlreichen langen und fundierten Antworten der Sachverständigen auf Fragen der Vertreter anderer Parteien.

Haben die Sachverständigen tatsächlich keine Ahnung?

Im Sichert-Video können die Sachverständigen die Fragen nicht oder nur sehr unzureichend beantworten. Weil sie keine Ahnung haben? Weil es keine Zahlen und Fakten gibt? Weil Deutschland im absoluten Blindflug durch die Pandemie steuert, wie Sichert im Facebook-Post zum Video behauptet? Oder sind auch andere Gründe denkbar?

Überspitzt Sichert in seinen Schlussfolgerungen bewusst? Screenshot: facebook.com/sichertmartin

Die Nachfrage des Onlinemagazins da Hog’n bei der Pressestelle des Deutschen Bundestages ergibt: Die Sachverständigen kennen im Vorfeld die Fragen nicht, die ihnen in der Anhörung gestellt werden. „Es ist nicht üblich, dass die Fragen vorher übermittelt werden“, teilt Frank Bergmann, stellvertretender Leiter, weiter mit.

Genau aus diesem Grund sagt die Sachverständige vom Bund der Krankenkassen im Video, sie könne die Zahlen nicht „aus dem Stegreif liefern“. Das heißt nicht, dass es keine Zahlen gibt. Dass der DIVI-Vertreter keine Zahlen zu Geimpften und Ungeimpften auf Intensivstationen nennen kann, heißt nicht, dass sie nicht an anderer Stelle erhoben werden – das RKI nennt diese Zahlen regelmäßig in seinen Wochenberichten. Das DIVI erfasst diese Zahlen erst seit Kurzem für alle Intensivpatienten in Deutschland, an das RKI werden sie aber längst so umfassend wie möglich gemeldet.

Gewagte Schlussfolgerungen des AfD-Abgeordneten

Wer sich die gesamte Anhörung ansieht, stellt fest: Alle anderen Abgeordneten bitten die Sachverständigen um eine Einschätzung oder Bewertung. Martin Sichert dagegen will aus dem Stegreif Fakten und Daten hören. Wenn ein Sachverständiger auf einen anderen verweist, leitet Sichert die Frage nicht weiter, sondern sagt: „Danke, die Antwort reicht mir schon.“

Zugegeben: Die Experten hätten schlagfertiger antworten und betonen können, dass sie die Daten nachliefern würden. Und dass sie derart konkrete Zahlen eben nicht spontan im Laufe einer Anhörung nennen bzw. sich zu Zahlen nicht äußern können, die ihnen vor der Anhörung nicht zur Ansicht und Einschätzung vorlagen.

Wie bereiten sich Sachverständige und Abgeordnete auf eine Anhörung wie diese vor? Erstere verfassen im Vorfeld je eine Stellungnahme zu dem geplanten Gesetz, über das in der Anhörung diskutiert wird. Darin äußern sie, wie sie das Gesetz noch verbessern oder ergänzen würden. Anhand dieser Stellungnahmen können die Abgeordneten schließlich ihre Fragen stellen. In der Regel beziehen sich die Fragen daher auf die Stellungnahmen. Die Anhörung ist dazu gedacht, Einschätzungen der Sachverständigen zum Thema einzuholen. Eher weniger, um sich Daten und Zahlenmaterial liefern zu lassen. Ob der AfD-Abgeordnete bewusst Fragen stellte, die die Sachverständigen nicht beantworten konnten, bleibt offen.

Korrelation ist nicht gleich Kausalität

Im weiteren Verlauf der Befragung stellt Sichert eine steile These auf: Einlieferungen wegen Herzkreislauf- und Nervenproblemen auf deutschen Intensivstationen hätten im April 2021 sprunghaft zugenommen – und dies sei genau der Zeitpunkt gewesen, zu dem die Impfungen zunahmen. Er formuliert seine Frage so, dass man einen kausalen Zusammenhang zwischen Erkrankungen und Impftempo vermuten könnte.

Auch das ist Martin Sichert: Einer seiner Facebook-Posts im Dezember 2021. Screenshot: facebook.com/sichertmartin

Fakt ist allerdings auch: Genau zu dieser Zeit stiegen die Infektionszahlen in Deutschland stark an. Die Zahlen aus der Notaufnahme korrelieren also sowohl mit den Impfungen als auch mit Covid-19-Erkrankungen. Ob eine Kausalität in die eine oder andere Richtung vorliegt, kann man aus den nackten Zahlen nicht herauslesen.

Sichert will vom Sachverständigen wissen, ob er einen Zusammenhang mit den Impfungen ausschließen kann. Es sei an dieser Stelle noch einmal betont: In dieser konkreten Anhörung geht es nicht um die Frage der Sicherheit der Impfstoffe, sondern um die Einschätzung der Experten zu einer Impfpflicht für gewisse Berufsgruppen. Die Frage geht an die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Nicht an einen Sachverständigen, der die Sicherheit der Impfungen untersucht. Die Tabellen, die Sichert in seinem Facebook-Video einblendet, sieht der Sachverständige während der Anhörung nicht. Er sagt, dass er die Zahlen nicht bestätigen kann. Exakt die Antwort, die Sichert in die Karten spielt und den Eindruck erweckt, die Experten hätten keine Ahnung und würden Dinge verschweigen.

Überspitzte Darstellung ködert die Facebook-Nutzer

Fazit: Martin Sichert verkürzt in diesem Video massiv. Er teilt nur den Teil der Anhörung der Öffentlichkeit mit, den er selbst so gestaltet hat, dass Sachverständige wie ahnungslose Idioten dastehen. Dass Meinungen im Internet oft überspitzt dargestellt werden, dass dort viele auf Klickzahlen schielen und dass die AfD gerne mit solchen Posts Stimmung macht – das wissen die meisten.

Erschreckend ist, dass inzwischen auch Menschen, die der AfD gegenüber sehr kritisch eingestellt sind, auf diese Masche hereinfallen. Mittlerweile haben mehr als 26.000 Facebook-User das Video geteilt. Mehr als 4.800 mal wurde es kommentiert – großteils zustimmend.

Ein Appell: Nicht sofort auf „Teilen“ klicken

Deshalb der Appell: Informieren Sie sich nicht ausschließlich in den sog. Sozialen Medien. Informieren Sie sich aus den unterschiedlichsten Quellen. Vertrauen Sie darauf, dass Journalisten ihre Arbeit machen und an Artikeln wie diesem sehr zeitintensiv recherchieren und schreiben, um fundierte Einordnungen geben zu können. Diskutieren und reden Sie mit Menschen, die eine andere Meinung haben. Und teilen Sie niemals einen Post in den Sozialen Medien reflexartig, sondern googeln Sie zumindest kurz: Was sind die Hintergründe? Was wollte der Ersteller des Posts eventuell damit erreichen? Cui bono – wem nutzt es?

Kommentar: Sabine Simon


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