Wien/München. Wieder einmal schaut ganz Europa nach Österreich. Zur Abwechslung nicht wegen FPÖ-Politikern, die die halbe Alpenrepublik auf Ibiza an eine russische Oligarchen-Nichte verscherbeln wollten. Auch nicht wegen dem slim-fitten Wunderwuzzi, der alles neu machen wollte, und über die eigene – und in ÖVP-Kreisen gar nicht so neue – Überheblichkeit stürzte. Österreich will im Februar 2022 eine allgemeine Impfpflicht einführen. Eine Maßnahme, die auch in Deutschland diskutiert wird – und ebenso umstritten ist. 

Sollte sich Deutschland in Sachen Impfpflicht an seinem Nachbarland Österreich orientieren? Foto: pixabay.com/ Fachdozent

Vonseiten der österreichischen Bundesregierung wurde eine Corona-Impfpflicht für alle lange Zeit kategorisch ausgeschlossen. Die spontane Kursänderung brachte die Macht des Faktischen: Die Impfbereitschaft innerhalb der Bevölkerung ist zu niedrig, um das Infektionsgeschehen eindämmen zu können. Gleichzeitig gehen die Infektionszahlen in Österreich durch die Decke. Die 7-Tage-Inzidenz beträgt (Stand 25. November) österreichweit 1.084, im Bundesland Salzburg 1.730. Auf einzelnen Intensivstationen wurden bereits Triage-Teams eingerichtet. Fünf Mediziner und eine Juristin müssen im Extremfall entscheiden, wer eine Behandlung bekommt.

Arbeiten, Skifahren, Impfen

Auch ein erneuter Lockdown für alle (für Geimpfte und Ungeimpfte) wurde – allen voran von der ÖVP – dezidiert abgelehnt. Solange – viel zu lange – bis die Hilfeschreie aus den Spitälern das Ego der ÖVP übertönten. Seit 22. November ist in Österreich also wieder alles verboten außer arbeiten und Ski fahren – egal, ob geimpft oder nicht. Zeitgleich zum Lockdown kündigte die Regierung an, mit Februar kommenden Jahres eine allgemeine Impfpflicht einzuführen. Impfverweigerer sollen im Härtefall bis zu 3.600 Euro Verwaltungsstrafe zahlen. Am Tag nach der Ankündigung gingen in ganz Österreich Zehntausende Menschen auf die Straße, um dagegen zu protestieren.

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Natürlich, es wäre besser, es ginge ohne. Impfanreize gab und gibt es genug: etwa in Form von Impfbussen, dem Impfboot auf der Donau, Impfpartys, Impflotterien, Impfen in der Boing 777 oder Impfen beim Bundespräsidenten. Das und groß angelegte Informationskampagnen reichten, um rund zwei Drittel der Bevölkerung zu immunisieren. Danach stagnierte die Zahl der Erststiche. Will ein Land die Infektionen nachhaltig eindämmen, müssten sich (laut Prognosen) wohl mindestens 85 Prozent der Bevölkerung impfen lassen.  

Die Freiheit des Einzelnen

Bei der Frage, ob eine Impfpflicht in einer solchen Situation das Mittel der Wahl sein sollte, sind meiner Meinung nach zwei Fragen entscheidend:

  • Erstens: Wie stark darf ich die Freiheit des Einzelnen einschränken, um die Freiheit der Allgemeinheit zu schützen? Ist es legitim, dass man Einzelne gegen deren Willen gesetzlich zu etwas verpflichtet, um damit die Gesundheit anderer zu schützen?

Im Straßenverkehr beispielsweise ist diese Frage eindeutig beantwortet: Wer am Straßenverkehr aktiv teilnehmen will, muss Fahrstunden absolvieren und Prüfungen bestehen. Vor Fahrtantritt darf er oder sie maximal 0,5 Promille im Blut haben und muss sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten. Das schränkt den Einzelnen ein, geht aber zugunsten der allgemeinen Gesundheit.

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Die Verantwortung des Einzelnen

  • Die zweite Frage lautet: Sind Schuld und Verantwortung wirklich beim Einzelnen zu suchen? Dass die Impfpflicht überhaupt debattiert werden muss, geht auf das massive Versagen, auf massive Fehleinschätzungen der österreichischen Regierung im Pandemiemanagement zurück. Zugunsten der eigenen Beliebtheitswerte inszenierte man den Sommer und Herbst über eine pandemische Wohlfühlatmosphäre – und verlor dabei am Ende beides: Beliebtheit und Wohlgefühl.

Bereits im Juni 2020 zeigte sich der damalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) „optimistisch, dass es zu keiner zweiten Welle kommen wird“. In gar fröhlicher Eintracht durften sich die geneigten Medienkonsumentinnen und -konsumenten dann anhören, dass die Pandemie „vorbei“ ist und es eine Impfpflicht „nicht geben“ wird. 

Warnungen von Expertinnen und Medizinern vor einer vierteb Welle ignorierte man dabei geflissentlich. Lieber plakatierte man die eigenen Corona-Erfolge an jedes Bushäuschen im Land: „Die Pandemie gemeistert, die Krise bekämpft“. „Es kommt eine coole Zeit auf uns zu“, verlautbarte der nunmehrige Ex-Kanzler Sebastian Kurz.

Die viel grundlegendere Frage lautet also: Wieso fruchten diverse Impfappelle nicht? Oder weiter: Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass ein derart eigenartiger Mix aus Esoterikerinnen, Hooligans, Hippies, christlichen Fundamentalisten und Neonazis gemeinsam auf die Straße geht, um mit gelben Sternen beklebt gegen eine „Diktatur“ zu protestieren? (Mal abgesehen davon, dass es in einer Diktatur keine Demos gibt…)

Vertrauen und Solidarität

Die Fakten liegen auf der Hand: Die COVID-Impfung wirkt, die Nebenwirkungen sind nicht gravierender als bei vergleichbaren Vakzinen. Aber wieso hat ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung scheinbar jegliches Vertrauen in Wissenschaft, Politik, Medien und staatliche Apparate verloren? Wieso vertrauen viele lieber auf einen veganen Koch, auf Rechtsextreme und Entwurmungsmittel anstatt auf etablierte Expertinnen, wissenschaftliche Forschung und ein umfassend getestetes Vakzin?

Dieser (Vertrauens-)Verlust hat lange vor Corona eingesetzt – und ist Ausdruck tiefgreifender, ökonomischer und sozial-psychologischer Verwerfungen einer Wirtschaftsweise, die Wohlstand mit Profit gleichsetzt. Und die dann am besten funktioniert, wenn sich eine Gesellschaft nicht als Solidargemeinschaft, sondern als Summe einzelner Individuen begreift. Der Staat, staatliche Eingriffe, die Einforderung von gegenseitiger Solidarität, werden in einem solchen Verständnis zur Zumutung.

Es bleibt die Hoffnung, dass es anders geht

Sollte sich Deutschland in Sachen Impfpflicht also an Österreich orientieren?

Ich meine: Ja!

Eine Impfpflicht ist ein massiver staatlicher Eingriff in die Freiheit des Einzelnen. Aber das Beharren auf dem individuellen Verantwortungsbewusstsein ebenso. Eine Viruserkrankung ist keine Privatsache. Die Folgen betreffen uns alle: Jene, die sich in weiterer Folge infizieren, schwer erkranken oder sterben. Deren Angehörige. Jene, die aufgrund einer anderen Erkrankung oder eines Unfalls kein Intensivbett mehr bekommen. Das unterbezahlte Krankenhauspersonal, das seit knapp zwei Jahren an der Belastungsgrenze arbeitet. Die Gesellschaft, die für diese Kosten aufkommen muss. Die psychischen und wirtschaftlichen Folgen, die ein jeder Lockdown unweigerlich mit sich bringt. Die Arbeitsplätze, die dabei verloren gehen, das gesellschaftliche Leben, das sich auf die eigenen vier Wände beschränken muss. Das Risiko, dass sich mit hohen Ansteckungszahlen neue, noch infektiösere Mutanten bilden.

Eine Impfpflicht soll kein Automatismus, sondern lediglich die Ultima Ratio sein. Auch muss über die konkrete Umsetzung und Art der Sanktionen diskutiert werden. Aber wollen wir nicht Winter für Winter wieder in einen Lockdown schlittern, nicht Winter für Winter tausende Menschen verlieren, die wir hätten retten können, wird kaum ein Weg drum herumführen.

Es bleibt die Hoffnung, dass es auch anders – freiwillig – geht. Derzeit sieht es nicht danach aus.

Kommentar: Johannes Greß 


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