(…) Am darauffolgenden Tag traf Wigg zwischen zehn und elf Uhr in dem Institut nahe der Münchner Museumsinsel ein, wo Sergio arbeitete. Äußerst gespannt begutachtete der Deutschitaliener zunächst das Römerschwert, dann machte er sich mit Feuereifer an die Untersuchung des Klingenhalses. Etwa fünfzehn Minuten war das Elektronenmikroskop, das mit einem Computer verbunden war, in Betrieb; sodann erschien auf dem Computermonitor ein klares Bild – und die beiden Wissenschaftler konnten die von dem zackenförmigen Riss durchzogene und offenbar eingepunzte Inschrift auf dem bronzenen Waffenteil lesen.
„LEGIO XX VALERIA VICTRIX“, buchstabierte Wigg – und fügte hinzu: „Auf Deutsch: Die zwanzigste Legion … die Starke, Siegreiche.“
„Das bedeutet wohl, dass der Besitzer des Schwerts dieser Legion angehörte“, stellte Sergio fest.
„Höchstwahrscheinlich“, nickte Wigg – und besann sich. „Zumindest sollte das für den ursprünglichen Eigentümer gelten. Er muss die Waffe in seiner Eigenschaft als römischer Legionär getragen haben. Später jedoch scheint die Spatha auf irgendeine Weise in den Besitz des Kelten gekommen zu sein, der auf dem Frauenstein beigesetzt wurde. Und wahrscheinlich wurde das Schwert von ihm im Kampf gegen Römer erbeutet.“
„Es sollte etwas zerstört oder verunglimpft werden“
„Wieso vermutest du das?“, fragte Sergio skeptisch. „Könnte es nicht auch ganz anders gewesen sein? Beispielsweise so, dass der Kelte dem römischen Militär angehörte und die Spatha deshalb legal besaß. Der Mann könnte vielleicht Mitglied einer keltischen Hilfstruppe dieser Zwanzigsten Legion gewesen sein.“
Wigg nickte. „So etwas gab es durchaus. Aber …“, er deutete auf die Zackenlinie, welche den Schriftzug auf dem Klingenhals verunstaltete. „Aber das hier spricht dagegen. Denn jetzt, wo wir die Inschrift und diese irgendwie wild über ihr eingekratzten Zacken so scharf erkennen können, ist klar, dass durch das Zerkratzen, das wohl mit Hilfe eines Dolches oder Messers erfolgte, etwas zerstört oder verunglimpft werden sollte. Und dies wiederum zeigt an, dass der letzte Eigentümer der Spatha, der Kelte vom Frauenstein, ein Feind der Römer gewesen sein muss.
Wäre er mit ihnen verbündet gewesen, so hätte er keinen Grund gehabt, die Inschrift zu schänden – ein Mensch jedoch, welcher das Imperium Romanum hasste, konnte durchaus eine solche Fluchschändung anbringen, nachdem das Schwert als Kriegsbeute oder sonstwie in seinen Besitz geraten war. Außerdem ist da ja auch noch der schwarze Fluchstein, dessen Verwünschung ebenfalls gegen die Römer gerichtet ist.“
Die Frage nach einer magischen Funktion
„Der dunkle Fluchstein und dazu die Fluchschändung auf der Spatha …“, murmelte Sergio. „Und du meinst, das Negative, mit dem die beiden Objekte gekennzeichnet wurden, könnte so etwas wie eine magische Funktion gehabt haben?“
„Ja, das glaube ich fest.“ Plötzlich wie geistesabwesend starrte Wigg auf den Computermonitor.
„Und warum bist du dir da so sicher?“, erkundigte sich Sergio zweifelnd.
Wigg schreckte auf. „Weil ich es eben weiß!“ Mit einem beinahe aggressiven Ausdruck in den Augen starrte er den Deutschitaliener an; dann auf einmal steckte er um: „Entschuldige! Natürlich kann ich nichts beweisen. Ich meinte nur … Ich hatte halt das sichere Empfinden, dass …“
„Na klar, manchmal haben wir solch seltsame Anwandlungen“, sagte Sergio. „Starke Einbildungen, die möglicherweise eine ganz natürliche Reaktion darauf sind, dass wir als Wissenschaftler ständig gezwungen sind, rein logisch und analytisch zu denken.“
„Ja, das kann belastend werden. Und dann bricht man irgendwann mental aus“, stimmte Wigg zu. „Aber lassen wir das jetzt. Wichtiger ist ohnehin eine andere Frage …“
„Du meinst, du musst herausfinden, welche Rolle diese Zwanzigste Legion der römischen Armee in der Spätantike spielte“, kam es von Sergio.
„Richtig“, bekräftige Wigg. „Sobald ich zurück in Regensburg bin, werde ich mit meinen Nachforschungen beginnen. Aber jetzt lade ich dich zum Dank für deine Mühe erst mal zu einem schönen Mittagessen ein. Und den Karton Wein für dich, den ich dummerweise vorhin in meinem Auto vergessen habe, kriegst du dann auch.“
Tomen y Mur
(Gegenwart)
Die Spatha glühte und schien aus ihrer Klingenspitze Flammen zu speien. Heulend schossen die Feuerzungen aus dem Eisen; wuchsen, wild fauchend, zu gigantischer Größe an und fegten als lohender Orkan unter blutrotem und eitergelbem Firmament über einsames Hügelland an den Ausläufern hoher, meernaher Berge hin. Plötzlich tauchten Gebäuderuinen und verstörte, um ihr Leben rennende Menschen aus dem Sturmtoben auf; zwischen den Fliehenden versprengte Rösser, aus deren weit aufgerissenen Mäulern Todeswiehern schmetterte.
Ein jäh aufberstender Abgrund verschlang die apokalyptisch wirkenden Pferde; zugleich jagten von den Berggipfeln herab mächtige Schwärme von Schwarzvögeln: Raben und Krähen, welche abertausendfach den Namen der schwarzen, über den Schlachtfeldern schwebenden Göttin krächzten. Und das Totenvogelgeschrei schwoll zu unerträglichem Lärm an; zu grauenhaftem Tosen, aus dem jetzt abertausend Schwerter heraushagelten und den Mann tausendfach schlachten wollten, der in äußerster Verzweiflung durch den brüllenden Sturm hetzte; den Mann, der sich des Grabfrevels schuldig gemacht hatte …
Schweißgebadet schreckte Wigg Gleißenthaler aus seinem schrecklichen Alptraum hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Ein paar Herzschläge später meinte er, sich in einem Land irgendwo weit weg von Deutschland zu befinden, und erst als er sich hastig im Bett aufsetzte, begriff er: Er war daheim, war in seiner Regensburger Wohnung.
„Verflucht!“, stieß er hervor. „Dieser furchtbare Angstraum. So etwas habe ich ja noch nie erlebt …“
Die Folgen seiner Überanstrengung
Mehrmals atmete er tief durch; nachdem er sich einigermaßen gefangen hatte, warf er einen Blick auf den Digitalwecker, der auf dem Nachtkästchen stand. Das Display zeigte ihm an, dass er gründlich verschlafen hatte; es war bereits 9.28 Uhr.
Rasch stand Wigg auf; während er ins Bad ging, erinnerte er sich an den vergangenen Abend. Es war bereits dunkel gewesen, als er aus München zurückgekommen war, und er war hundemüde gewesen. Doch ungeachtet dessen hatte er noch in der Nacht mit seinen Recherchen zu jener Legion des Römischen Imperiums begonnen, deren Name auf dem Klingenhals der Spatha eingepunzt war.
In verschiedenen Fachbüchern aus seiner reichhaltigen Privatbibliothek war er fündig geworden; bis gegen zwei Uhr morgens hatte er sich intensiv mit der Legionsgeschichte beschäftigt. Zuletzt aber waren ihm vor Müdigkeit beinahe schon die Augen zugefallen; völlig erschöpft war er zu Bett gegangen und war auf der Stelle eingeschlafen – und der Alptraum, der ihn heimgesucht hatte, war vermutlich eine Folge seiner Überanstrengung gewesen.
Nun, an diesem bereits fortgeschrittenen Samstagmorgen, gönnte sich Wigg eine ausgiebige Dusche und ein kräftiges Frühstück; danach setzte er sich an seinen Schreibtisch, auf dem die Spatha, der Fluchstein und die Fachbücher lagen, und rekapitulierte, was er bislang über die LEGIO XX VALERIA VICTRIX herausgefunden hatte.
Manfred Böckl/da Hog’n
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