(…) Die Inschrift war eindeutig in altkeltischer Sprache verfasst, und nachdem Wigg die entsprechende Fachliteratur gewälzt und zudem einen Linguisten der Regensburger Universität zu Rate gezogen hatte, war er sich über den Sinn der Inschrift im klaren; die Worte auf dem schwarzen Stein mussten so übersetzt werden: (Die) RÖMER (sind) BÖSES GIFT.
Es handelte sich damit eindeutig um einen romfeindlichen Text in der Art einer Verfluchung. Der Stein war infolgedessen ein Fluchstein. Einer jener besonderen schwarzmagischen Gegenstände, die nicht nur in der keltischen Welt, sondern auch in anderen antiken Kulturen Europas eine durchaus ernstzunehmende Bedeutung besessen hatten. Und dies wiederum bedeutete, dass der etwa fünfzigjährige Mann, der auf dem Frauenstein beigesetzt worden war und dem man den dunklen Stein mit ins Grab gelegt hatte, vermutlich ein eingefleischter Römerfeind gewesen war.
Die Spatha muss von sehr hoher Bedeutung sein
Damit stellte sich freilich die Frage, warum man dem Toten, welcher doch alles Römische so sehr hasste, neben dem Fluchstein ausgerechnet die Spatha, die edelste Waffe der römischen Legionäre, ins Jenseits mitgegeben hatte. Und als er darüber nachdachte, erinnerte sich Wigg an das Gespräch, das er am Wochenende mit dem Freyunger Kreisarchäologen geführt hatte, und murmelte nach einer Weile versonnen: „Wahrscheinlich hatte der Stockinger recht, als er vermutete, dass der auf dem Kaltenberg bestattete Keltenkrieger oder vielleicht auch dessen Vater das Schwert im Kampf gegen Römer erbeutete. Auf jeden Fall aber muss die Spatha von sehr hoher Bedeutung für den Toten in der Frauenberg-Festung gewesen sein.“
Nachdem ihm dies klargeworden war, schrieb Wigg eine vorläufige und daher noch kurze wissenschaftliche Auswertung seiner bisherigen Erkenntnisse nieder. Den Abend verbrachte er mit Simone. Er verabschiedete sich allerdings schon vor Mitternacht wieder von ihr – was die Stimmung zwischen ihnen neuerlich eintrübte. Doch es zog den jungen Archäologen beinahe unwiderstehlich zurück in seine Wohnung. Er wollte ausgeruht sein, wenn er am nächsten Tag mit seiner Forschungsarbeit am römischen Langschwert beginnen würde.
Das Metall schimmerte wie neu
Früh am darauffolgenden Morgen eilte Wigg tatendurstig ins Bad. Danach frühstückte er rasch und machte sich dann daran, die Spatha von Schmutz, Rost und sonstigen Anhaftungen zu reinigen. Beim bronzenen Schwertgriff mit dem runden, dornbesetzten Knauf hatte er relativ leichtes Spiel. Bereits nach einer Stunde schimmerte das Metall beinahe wie neu.
Schwieriger wurde es, als er den ebenfalls bronzenen Klingenhals der Waffe gleich unterhalb des Griffstücks säuberte. Hier nämlich hatte sich eine Kruste angesetzt, die einer Versteinerung von organischem Material glich – und diese feste Masse hatte sich mit der Bronze innig verbunden. Wigg sah sich gezwungen, die steinharte Ablagerungsschicht Körnchen für Körnchen abzutragen. Er benutzte dazu einen feinen Stahlstichel. Und erst am frühen Nachmittag hatte er den Klingenhals zumindest notdürftig gereinigt.
Wigg Gleisenthaler und sein irrationales Erlebnis
In der Nachmittagsmitte sodann entfernte er die letzten Steingrusreste; anschließend putzte er das nun völlig freiliegende Metall mit einer speziellen Tinktur nach – und im selben Moment, da die Bronze aufgrund dieser Behandlung zu glänzen anfing, überfiel den jungen Archäologen ein seltsames, scheinbar aus seinem tiefsten Inneren herausdringendes Frösteln.
Unmittelbar darauf war es ihm, als würde sich das irrationale Erlebnis wiederholen, das er auf dem Frauenstein beim ersten Anblick des bronzenen Schwertknaufs gehabt hatte. Die Luft um ihn herum schien plötzlich wie flirrend zu schwingen; erneut fühlte er sich unwirklich leicht und vermeinte, aus der realen Gegenwart entrückt zu werden – dann riss ihn der heulende Sirenenton eines zur Steinernen Brücke rasenden Polizeiautos in die Wirklichkeit zurück.
Leicht verstört und verwirrt atmete Wigg mehrmals tief durch; Sekunden später, als er sich von neuem auf die Spatha konzentrierte, gewahrte er die kaum sichtbaren Einkerbungen auf dem Klingenhals der Waffe. Eine Inschrift wie auf dem Fluchstein?, durchfuhr es ihn. Oder eine Punzierung mit militärischem Charakter?
Er nahm das Schwert auf; hielt es unter die starke Lampe, die seinen Arbeitsplatz beleuchtete; versuchte, die Kerben besser zu erkennen. Tatsächlich glaubte er nach einer Weile, einzelne Schriftzeichen erahnen zu können: ein L, mehrere X sowie ein V. Zwischen diesen Buchstaben aber blieben unleserliche Lücken – und außerdem schien der Schriftzug, wie der junge Archäologe jetzt gewahrte, auch noch beschädigt zu sein, denn über seine gesamte Länge verlief so etwas wie ein wild nach oben und unten auszackender Riss.
Welche Bedeutung haben die Schriftzeichen?
„Seltsam, sehr seltsam“, murmelte Wigg; gleich darauf kam ihm Sergio in den Sinn, ein locker mit ihm befreundeter Deutschitaliener, der in einem privaten archäologischen Forschungsinstitut in München arbeitete und der ihm hinsichtlich der Entzifferung der Inschrift wahrscheinlich weiterhelfen konnte.
Kurzentschlossen griff Wigg zum Telefon, konnte Sergio jedoch nicht erreichen. Daher machte er mit der Schwertreinigung weiter; befreite nun die breite Klinge unter Einsatz eines feinen Drahtbürstchens und einer speziellen Tinktur in behutsamer Arbeit von oben nach unten vom Rost – und schließlich, am frühen Abend, als Wigg die Eisenklinge bereits eine Handbreit vom bronzenen Klingenhals entfernt säuberte, rief Sergio an.
Wigg erzählte dem Münchner von seinen spektakulären Funden und trug Sergio sodann sein Anliegen vor: „Könntest du versuchen, die Schriftzeichen auf dem Klingenhals der Spatha wieder lesbar zu machen? Vielleicht mit einem deiner elektronischen Geräte?“
„Ich denke, ich kann Dir helfen“
„Du meinst unser Elektronenmikroskop“, kam es von Sergio. „Ja, damit sollte es funktionieren. Wir haben mit diesem Gerät kürzlich eine sumerische Keilschrifttafel entziffert, auf der mit bloßem Auge gar nichts mehr zu erkennen war. Doch dank des speziellen Mikroskops ließen sich die scheinbar verschwundenen Keilschriftzeichen rekonstruieren. – Also, ich denke, ich kann dir helfen. Wann willst du denn zu mir kommen?“
„Am liebsten gleich morgen“, erwiderte Wigg.
„Da geht’s bei mir leider nicht. Da habe ich den ganzen Tag Besprechungen“, erklärte der Münchner bedauernd. „Aber übermorgen hätte ich Zeit.“
„Gut, dann komme ich am Freitag. Gleich vormittags“, machte Wigg den Termin fest. „Und für jetzt schon mal ein dickes Dankeschön!“
„Konkret kannst du mir ja zum Dank eine Flasche von dem berühmten Bayerwald-Bärwurz mitbringen“, scherzte Sergio. „Vorausgesetzt, du hast dich letzte Woche bei den Waldbewohnern mit diesem Hammerschnaps eingedeckt, der den Gerüchten nach den stärksten Kerl umhauen soll.“
„Da ist was dran“, antwortete Wigg schmunzelnd. „Und deshalb kriegst du von mir auch keinen Bärwurz, sondern ein paar gute Flaschen Wein aus Bella Italia.“
„Molte grazie, mein Freund!“ Damit beendete Sergio das Telefonat – und Wigg arbeitete noch eine Stunde an der Schwertklinge weiter, ehe er sich sein Abendessen zubereitete.
Wieder befiel ihn jäh ein Frösteln
Am Donnerstagabend dann hatte er die Eisenklinge völlig vom Rost befreit und sie mit einer transparenten Kunstharzlösung stabilisiert und imprägniert; den Klingenhals hingegen hatte er wegen der bevorstehenden Untersuchung unbehandelt gelassen. Und jetzt betrachtete er die nun durchaus wieder eindrucksvoll wirkende Waffe mit Freude und Genugtuung wegen seiner gut gelungenen Restaurierungsarbeit – bis ihn beim Anblick des Schwerts jäh ein Frösteln befiel.
Gleich darauf hatte er einmal mehr das Empfinden, als würde er aus seiner vertrauten Welt entrückt; als sollte er, von schwingendem Flirren umgeben, in eine andere, sehr weit entfernte Dimension entführt werden. Und der pulsende Sog, der ihn davontragen wollte, wurde immer stärker – bis das Schrillen der Klingel an der Wohnungstür und Sekunden später das Geräusch des Türschlosses, das aufgesperrt wurde, in Wiggs Bewusstsein drangen.
Es waren Simone, die einen Schlüssel zu seiner Wohnung besaß, und ihre Geschäftspartnerin Ilona. Die beiden jungen Frauen wollten Wigg, der aufgrund des eben Erlebten deutlich verwirrt war, zu einem Lokalbesuch entführen, doch er hatte wenig Lust dazu. Schließlich, weil er sich darüber freute, dass Simone tatsächlich einmal Interesse an seiner wissenschaftlichen Arbeit zeigte und sogar die restaurierte Spatha sehen wollte, ließ er sich doch zu einem Kneipenbesuch überreden. Bis gegen 22 Uhr saß er mit seinen Begleiterinnen in einem Gartenlokal an der Donau; dann aber verabschiedete er sich mit der Begründung, am nächsten Morgen wegen der Fahrt nach München früh aufstehen zu müssen – und angesichts dessen bezeichnete ihn Simone, Knall auf Fall eingeschnappt, als lahmarschige Spaßbremse.
Manfred Böckl/da Hog’n
____________
Hier kann der Roman „Das uralte Geflecht“ von Manfred Böckl bestellt werden (einfach klicken)