Freyung-Grafenau/ Passau. „Viele Eltern fühlen sich mittlerweile verlassen, ihnen fehlt die Kraft, noch länger so weiter zu machen“, sagt Sandra Eder. Die Mutter zweier Jungs engagiert sich seit einigen Wochen unter anderem in der Initiative Familien, startete mit ihren Mitstreitern eine Petition: Schulen sollen mit Hygienekonzept auch bei hohen Inzidenzen offen gehalten werden. „Die Eltern müssen sich zusammentun und auf ihre Situation aufmerksam machen“, sagt die 43-Jährige. Das große Problem dabei: Auch bei Müttern und Vätern gibt es Meinungsverschiedenheiten – etwa in puncto Selbsttests an Schulen. „Wenn wir wollen, dass unsere Kinder zurück in die Schule dürfen, müssen wir uns darauf einlassen“, ist Sandra Eder überzeugt.
„Die Politik ist zu starr“, lautet ihre Meinung. Maßnahmen, die die Schule betreffen, seien längst nicht mehr verhältnismäßig. Nach einem Jahr Coronakrise müsse Kultusminister Michael Piazolo es endlich schaffen ein wirksames Konzept zu entwickeln, damit die Lehranstalten langfristiger und nicht nur wenige Tage im Voraus planen können: „Wir leben von heute auf morgen und überlegen, was wir gestern verkehrt gemacht haben“, sagt Sandra Eder. Sie hält es durchaus für möglich, alle Schüler zurück in den Präsenzunterricht zu schicken – ab sofort und auch bei Inzidenzen jenseits der Hundertermarke.
Tiefe Gräben auch innerhalb der Elternschaft
„Wir brauchen passende Maßnahmen. Schulschließungen sollten das allerletzte Mittel sein“, erläutert die ehemalige Kinderkrankenschwester, die in der Verwaltung der Passauer Kinderklinik beschäftigt ist und dort unter anderem für das Qualitäts- und Risikomanagement verantwortlich zeichnet. Wie man Hygienekonzepte entwickelt, sie umsetzt, evaluiert und immer wieder verbessert – all das ist ihr von ihrem Berufsalltag her vertraut. Auch ihr Chef, Professor Matthias Keller, ärztlicher Direktor am Kinderklinikum Passau, setzt sich Eder zufolge sehr für zielgerichtete Maßnahmen im Hinblick auf Kinder und Familien ein.
Doch kann das für mehr als 1,6 Millionen Schülerinnen und Schüler in ganz Bayern funktionieren? Wenn sich weder die Eltern noch die Lehrer und Lehrerverbände darüber einig sind, was sich ändern sollte und welche Konzepte funktionieren könnten?
Dass es tiefe Gräben gibt, zeigt die derzeitige Diskussion über Selbsttests an Schulen: Als kurz vor Beginn der Osterferien bekannt gegeben wurde, dass sich künftig alle Schüler, die den Präsenzunterricht besuchen dürfen, vor Unterrichtsbeginn selbst testen müssen, war der Aufschrei vieler Eltern groß, vor allem in den sozialen Medien. „Keine Masken und Tests in der Schule“ stand auf Plakaten, die Eltern im Rahmen einer Protestaktion an Ostern vor das Landratsamt Freyung-Grafenau gestellt hatten.
Sandra Eder hält jedoch das Testen neben anderen Hygieneregeln für unumgänglich, wenn es darum geht, dass alle Schüler wieder am Präsenzunterricht teilnehmen dürfen. Sie sieht kein Problem darin, dass auch die Jüngsten sich selbst testen: „So ein Schnelltest ist doch wie Nasenbohren, oder? Das hat mich mein achtjähriger Sohn gefragt, als wir darüber geredet haben“, erzählt sie.
„Wir alle müssen lernen, mit der Pandemie zu leben“, ist die 43-Jährige überzeugt. Das Infektionsgeschehen unter Schülern müsse viel stärker analysiert werden, als dies bislang der Fall war. Denn nur, wenn es keine Dunkelziffer unter den Kindern mehr gebe, könnten passgenaue Maßnahmen ergriffen und immer dann nachgeschärft und verbessert werden, wenn sich an einem Ort ein Infektionsgeschehen offenbart, findet Eder.
Wer Kinder testet, muss auch in der Arbeitswelt testen
Wenn man Schüler zu Tests verpflichte, müsse die Politik aber auch die Wirtschaft in die (Test-)Pflicht nehmen: „Eltern verstehen es natürlich nicht, warum sich die Buben und Mädchen testen lassen sollen, während sie selbst am Arbeitsplatz ohne Tests weiterarbeiten“, sagt Eder.
Viele Maßnahmen seien für Eltern wie Kinder längst nicht mehr plausibel nachvollziehbar, findet die Qualitätsmanagerin: „Wenn nach und nach alle wieder öffnen dürfen und die Schule zu hat: Das passt nicht.“ Regeln und Maßnahmen haben sich ihr zufolge in eine zunehmend diffusere Richtung entwickelt. „Je weniger die Leute den Sinn dahinter verstehen, desto weniger halten sie sich auch an gewisse Maßnahmen. Wirksam ist vieles aber nur, wenn alle mitmachen.“
Dazu kommt die Tatsache, dass der ostbayerische Raum bereits einige Wochen länger von den Schulschließungen betroffen sei als der Rest Bayerns. „Die Politik hat uns seit Mitte Dezember komplett vergessen“, beklagt Sandra Eder. Aus diesem Grund begrüßt sie es, dass die Bewegung „Ostbayern sieht schwarz“ nicht nur für den Einzelhandel in der Region kämpft, sondern sich auch für die Interessen von Familien und Kindern einsetzen will.
Homeschooling zu große Belastung für viele Familien?
Nach vier Monaten reinem Homeschooling stoßen viele Familie nun an ihre Belastungsgrenze, wie Sandra Eder aus eigener Erfahrung und von anderen Familien berichten kann. Ihr achtjähriger Sohn besucht immer dann, wenn sie selbst am Klinikum ihrem Job nachgeht, die Notbetreuung. „Inzwischen sitzen dort dreizehn von insgesamt siebzehn Kindern aus seiner Klasse“, erzählt die berufstätige Mutter. Dass so viele Eltern von der Notbetreuung Gebrauch machen, sei in vielen Fällen sehr wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass sie es schlicht und einfach alleine zu Hause nicht mehr schaffen.
In der Notbetreuung findet kein normaler Präsenzunterricht statt. Hier werden die Schüler lediglich beaufsichtigt, während sie ihre Aufgaben erledigen. „Mein Sohn erhält jede Woche ein Arbeitspaket“, berichtet Sandra Eder. „Die Lehrer bereiten alles sehr gut vor. Aber den normalen Unterricht kann das einfach nicht ersetzen.“
Schwierig und kaum umsetzbar seien bei Grundschülern Video-Konferenzen. Ihr 14-jähriger Sohn dagegen habe täglich mehrstündige Video-Lehreinheiten zu absolvieren. Eine sehr anstrengende Art für den Gymnasiasten, am Unterricht teilzunehmen – schließlich schaue er jeden Vormittag über einen längeren Zeitraum auf einen Computer-Bildschirm. „Leistungsdruck und Arbeitsdichte sind dabei genau wie vorher im Präsenzunterricht“, sagt Sandra Eder. „Gleichzeitig fehlen den Schülern alle Angebote zum Ausgleich – wie zum Beispiel ihr Fußballtraining.“
Die gesamte Situation sei sehr belastend. „Wir sind eine ganz normale Familie und meine Kinder lernen sich recht leicht“, berichtet sie weiter. Es gebe aber viele Familien, denen der Alltag mit der Doppelbelastung aus Beruf und Homeschooling sicher noch um einiges schwerer falle. Auch für sie will sich die ehemalige Kinderkrankenschwester einsetzen: „Ich kämpfe nicht nur für meine eigenen Kinder, sondern für alle Eltern, die sich verlassen, mutlos und müde fühlen – und denen die Kraft fehlt, noch lange so weiter zu machen.“
„Die Stimmungsmache muss aufhören“
Sandra Eder ist sich sicher: Jetzt müssen pragmatische Lösungen her. „Ich habe das Gefühl, dass man in Deutschland immer hundert Gründe sucht, warum etwas nicht geht, anstatt es auszuprobieren.“ Als Beispiel nennt sie die Vorschläge für Ausweichräume, in denen der Unterricht stattfinden könnte: Bei jedem habe man einen Grund gefunden, warum dort keine Klasse unterrichtet werden könne.
Damit sie sich zusammen mit allen anderen Eltern, die die gleichen Forderungen stellen, bei der Politik Gehör verschaffen kann, müsse man sich nun vernetzen und zusammen an einem Strang ziehen. „Allen kann man es nicht recht machen“, weiß Sandra Eder. „Aber es ist kontraproduktiv, wenn bei jedem Vorschlag gleich alle zu schreien beginnen. Die Stimmungsmache muss aufhören. Jetzt ist Zusammenhalt wichtig – wir müssen unsere Kräfte bündeln.“
Sabine Simon