Hinterschmiding. Mit großem Interesse hatte Matthias Lehner das FuPa-Interview mit den niederbayerischen Fußball-Rebellen Robert Rothmeier und Walter Zitzelsperger gelesen. Denn auch der 42-jährige Hinterschmidinger, der in Deggendorf und Aicha vorm Wald als Jugendtrainer sowie an der Uni Passau als Dozent im Bereich Sportlehrerausbildung tätig ist, beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie der Jugendfußball wieder aus seinem Dornröschenschlaf erwachen kann. Beim regionalen Fußballportal „FuPa“ gewährte der Sportwissenschaftler jüngst einen Einblick in seine Ideen, die auch den Lesern des Onlinemagazins da Hog’n nicht vorenthalten werden sollen. Teil 1: Den Kinderfußball auf neue Beine stellen.
Im Kinderfußball (Vier- bis Achtjährige) muss es zunächst darum gehen, die Freude am Spielen zu fördern, denn Kinder wollen spielen. Doch jeder Kinderfußballtrainer weiß auch, wie lange es dauert, den Buben und Mädchen das Zusammenspiel zu lernen, wenn die balltechnischen Voraussetzungen oder das vortaktische Verständnis (wie sich Anbieten oder Freilaufen) dafür fehlen.
Warum nicht über den Tellerrand der Sportart schauen?
Die Reduzierung der Spieleranzahl, wie beim Funino umgesetzt, ist hierbei ein wichtiger Punkt. Die Vorteile liegen auf der Hand, ein 3-gegen-3 stellt die optimale Spielform dar: Jedes Kind muss effektiv am Spielgeschehen beteiligt sein, damit es die Freude am Spiel nicht verliert. Ein Blick auf andere Ballsportarten zeigt ein ähnliches, sogar noch revolutionäreres Vorgehen als im Fußball: Im Kinderhandball ist eine Manndeckung verpflichtend, weil diese überhaupt erst ein freudvolles Zusammenspiel der Heranwachsenden ermöglicht. Im Basketball wird für jedes Kind eine Mindestspielzeit vorgeschrieben, damit es nicht auf der Auswechselbank „versauert“. So manche Reform kann sich der Kinderfußball von diesen Sportarten abschauen – und für sich anpassen.
Ein Beispiel aus dem Kinderfußball, das wir alle kennen (und sogar von Kindertrainern als erfolgreiche Taktik eingefordert wird): Der Torwart schlägt den Ball weit nach vorne, ohne einen Spielaufbau überhaupt zu probieren. Die Gefahr eines Gegentores bei Ballverlust ist gering und der Ball näher am gegnerischen Tor. Doch wie sollen die Buben und Mädchen jemals lernen, den Ball kontrolliert nach vorne zu spielen, wenn sie dafür keine Lerngelegenheiten bekommen? Eine Regeländerung würde reichen, welche den Gegnerdruck beim Spielaufbau reduziert oder ganz wegnimmt.
Wenn der Torwart den Ball ins Spiel bringt, darf nur noch ein Spieler (zumeist der Stürmer) gegen den Ball verteidigen, die anderen dürfen erst aktiv werden, wenn der Ball die Mittellinie überschritten hat. Das klingt zwar konstruiert, ist aber dringend notwendig. Außerdem würde es ein hohes Pressing, das jeglichen Spielaufbau im Kinderfußball zerstört, verhindern. Auch hier wieder der Blick ins Kinderbasketball: Bis zur U12 ist im ersten Viertel des Spielfelds überhaupt keine Verteidigung erlaubt, Erwachsenentaktiken wie Doppeldeckung sind verboten. Es muss auch im Kinderfußball darum gehen, das Zusammenspiel zu stärken – zur Not auch mit Einschränkungen für die Verteidiger.
Kinder brauchen eine stabile koordinative Basis
Die Kinderfußballtrainer müssen offen werden für neue Ideen zugunsten der Spielfähigkeit der Lernenden. Eine Spezialisierung gilt es so lang wie möglich zu vermeiden, damit die Kinder die Vielfalt des Mannschaftssports Fußball kennen lernen. Dazu gehört auch, dass sie offensive und defensive Positionen wahrnehmen (beim Funino werden die Grundlagen dafür gelegt). Wie wäre es, wenn alle zehn Minuten ein Positionswechsel im Spiel erfolgen müsste, damit für die Kinder neue Spielsituationen entstehen?
Sicherlich wäre die Mannschaft dann nicht mehr optimal aufgestellt, aber die individuelle Leistungsentwicklung eines Kindes würde umso besser unterstützt. Und bestimmt wächst damit auch das eigene Bewusstsein des Kindes für Stärken und Schwächen, um seine Lieblingsposition selbst zu finden. Es ist auch aus anderen Sportarten bekannt: Je später die Spezialisierung, desto länger bleiben uns die Kinder im Fußball erhalten.
Es muss für Anfänger darum gehen, die Komplexität des Spiels zu reduzieren, wo immer es geht. Unsere Füße sind im Vergleich zu unseren Händen relativ ungeschickt. Daher muss das Spielen des Balles mit der Hand viel stärker in die Grundschulung der Kinder miteinbezogen werden, denn ein Zusammenspielen gelingt im Handball viel schneller und ist dann auch für das Spielen des Balles mit dem Fuß nutzbar. Handball ist dem Fußball sehr ähnlich, warum also nicht die Vorteile von zwei Sportarten nutzen, um die Freude am Spiel bei den Heranwachsenden zu entwickeln? Die Regeln des großen Fußballspiels dürfen dabei noch getrost außer Acht gelassen werden…
Spezialisierung auf eine Sportart erst mit 8 bis 9 Jahren
Polysportivität ist überhaupt das Stichwort: Je mehr Körpererfahrung ein Kind sammelt, desto stabiler wird seine koordinative Basis. Und wo könnte das besser geschehen als in den vielfältigen Angeboten der Sportvereine. Es wäre ein großer Gewinn, wenn sich Sparten eines Vereins zusammentäten, um ihren Zöglingen die Grundlagen verschiedener Sportarten beizubringen. In den meisten Dörfern gibt es mittlerweile mindestens zwei Sportarten, die gemeinsam die sportliche Ausbildung der Kinder übernehmen könnten.
Dies würde die Trainer*innen vor Ort, die selbst unter sportliche aktiven Eltern immer schwerer zu finden sind, entlasten – und deren zeitlichen Aufwand reduzieren. Genau diese polysportive Ausbildung wäre auch ein Anreiz für Sportstudierende, ihr verpflichtendes Vereinspraktikum dort abzuleisten, denn hier könnten sie sich mit ihrer Hauptsportart in jeden Verein einbringen.
Ab einem Alter von 8 bis 9 Jahren haben die Kinder bestimmt ihre Lieblingssportart gefunden und können sich darin vertiefen. Eine spätere Spezialisierung zugunsten einer breiteren Körperkoordination wird den ihnen den Einstieg in die Sportart Fußball erleichtern und den Fußballer*innen in ihrer gesamten Karriere nutzen.
Wer Funino schon uninteressant fand, der wird von vielen dieser Ideen auch nicht überzeugt sein. Allen anderen an der Entwicklung des Kinderfußballs Interessierten mag es ein Anstoß sein, sich dabei keine zu engen Grenzen zu setzen.
Helmut Weigerstorfer/Matthias Lehner
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Im zweiten Teil erklärt Sportwissenschaftler und Kinderfußballtrainer Matthias Lehner, warum Bewährtes nicht unbedingt schlecht sein muss.