Freyung. Mit sechs Jahren kam John mit seinen Eltern aus der Ukraine in den Bayerischen Wald. Mehr als 1.500 Kilometer ging es für ihn und seine Familie westwärts Richtung Freyung. Bereits einen Monat nach seiner Ankunft wurde er eingeschult. Er war ein aufgewecktes, wissbegieriges Kind und erlernte schnell die deutsche Sprache. Aber noch schneller eignete er sich den unverwechselbaren Dialekt der Waidler an. Dass er ein „Zuagroasta“ war, bemerkte schon bald keiner mehr. 

„Mein Herz gehört dem Bayerischen Wald“, sagt John. Hier räumt er gerade die Regale im Lager des Betreuungsvereins „CFJ – Chance für Jeden“ ein. Foto: Paul Rammelmeyr

Mit zehn wurde Johns Brüderchen geboren. Von da an drehte sich nicht mehr alles um ihn. Er fühlte sich plötzlich vernachlässigt. Dieses damals erlebte Aufmerksamkeitsdefizit wirkt bis heute nach.

Abgedriftet ins Drogenmilieu

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John war ein aufgeweckter Schüler mit guten Noten. Der Übertritt an die Realschule stellte für ihn kein Problem dar: Er schaffte diesen ohne große Anstrengung und ohne Aufnahmeprüfung. Trotz seiner ordentlichen schulischen Leistungen erhielt er zu Hause nur selten ein Lob. Dabei wären anerkennende Worte und Bestätigung so wichtig für ihn gewesen. Was er daheim nicht bekam, versuchet er sich durch den Sport zu verschaffen. Taekwondo, eine koreanische Kampfsportart, gab ihm Zuflucht. Hier erhielt er Lob und Anerkennung für seine Leistungen. Dies war für ihn wertvolles Feedback und stärkte sein Selbstbewusstsein.

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John kam früh mit Drogen in Kontakt. Foto: Paul Rammelmeyr

Doch bereits in der Schule machte John Bekanntschaft mit Drogen. Bier war seine Einstiegsdroge, später folgten Tabletten, Cannabis, Crystal Meth sowie weitere harte Suchtmittel. Er lernte eine Freundin kennen. Sie wurden ein Paar. Weil auch sie Erfahrungen mit Rauschgift hatte, rutschten sie schnell ins Drogenmilieu ab, waren darin gefangen. Nach siebeneinhalb Jahren trennte sich seine Freundin von ihm, betrog ihn mit seinem besten Freund. Das war ein harter Schlag. John tauchte immer tiefer in die Drogenwelt ab.

Mit 17 Jahren „ernährte“ er sich aus Mülltonnen und war ganz unten angelangt. Er hatte dies wohl erkannt, wollte sich aus dieser misslichen Lage befreien. Er wollte endlich etwas lernen, mit Zuversicht in die Zukunft blicken. John nahm an einer berufsbildenden Maßnahme teil und nahm keine Drogen mehr. Doch bereits nach kurzer Zeit wurde er rückfällig, weswegen er die Berufsbildungsmaßnahme abbrechen musste.

„Das war wie im Paradies“

Nun begann für John die gefährlichste Phase seiner Drogenkarriere: der intravenöse Konsum von Rauschmitteln. In dieser Zeit verlor er viele seiner Freundinnen und Freunde. Sie alle starben an einer Überdosis. Zur Drogensucht gesellte sich eine schwere Depression. Der Verlust seiner Bekannten und die damit einhergehende Angst, dasselbe Schicksal zu erleiden, waren für ihn unerträglich geworden.

John begann sich harte Drogen intravenös zu spritzen. Foto: pixabay.com/ photolizm

John unterzog sich vielen Drogentherapien mit ihren Crash-, Entzugs- und Löschungsphasen. Bei keiner hielt er bis zum Ende durch. „Zweimal hätte ich es fast geschafft gehabt“, blickt John heute zurück. Schuld am Scheitern seien schreckliche Ereignisse in seinem Leben gewesen: Seine fünfzehnjährige Cousine, die noch in der Ukraine lebte, wurde an einen Baum gefesselt und brutal vergewaltigt und ermordet. Sein Cousin, stark alkoholabhängig, ist nur ein Jahr später tot aufgefunden worden. Er war erfroren.

Vor einem Jahr fand man John mit einer Überdosis im Grafenauer Kurpark auf. Er lag im Koma, als er ins Grafenauer Krankenhaus eingeliefert wurde. „In meinem Aufwachraum waren Schränke voller Suchtmittel, von A bis Z – das war wie im Paradies“, erinnert er sich. John befüllte zwei Taschen mit Suchtmitteln und verließ unbemerkt das Krankenhaus. Unmittelbar danach konsumierte er seine Beute – und fiel erneut ins Koma. Der Diebstahl flog auf. Er wurde zum Ableisten von 100 Sozialstunden verurteilt.

„Menschen in auswegloser Situation brauchen Hilfe“

„CFJ ist eine gute Anlaufstelle für Menschen, die Sozialstunden leisten müssen“, erklärt Paul Rammelmeyr, erster Vorsitzender des sozialen Beschäftigungsvereins „Chance für Jeden“, und ergänzt: „Auch John kam zu uns. In einem Gespräch legten wir seine Aufgaben fest. Aber nicht nur das – wir lernten John auch etwas besser kennen.“

Unermüdlicher Kämpfer für seine Schützlinge: CFJ-Vorsitzender Paul Rammelmeyr. Foto: Hog’n-Archiv

Die Verantwortlichen von CFJ gehen grundsätzlich ohne Vorurteile an die Teilnehmer heran, berichtet Rammelmeyr weiter. „Die Erfahrung hat uns eins gelehrt: Menschen in auswegloser Situation brauchen Hilfe. Wir sprechen hier nicht über Schwerkriminelle. Wir sprechen über Menschen wie John, der vier Sprachen beherrscht, der ein guter Schüler war und der in den elenden Drogensumpf geraten ist.“

John ist nun Mitglied bei dem in Freyung ansässigen Beschäftigungsverein. Nachdem er seine Sozialstunden abgearbeitet hat, möchte er weiter bei CFJ mitarbeiten. Ehrenamtlich und solange, bis er sich in guter Verfassung befindet. „Er strebt einen festen Arbeitsplatz bei uns an, den wir für Menschen schaffen, die für den ersten Arbeitsmarkt noch nicht fit genug sind.“

„Es wird ein langer Weg“

John befindet sich momentan in Methadonbehandlung, einer Substitutionstherapie. Er will arbeiten, will weiterkommen und sein altes Leben hinter sich lassen. „Wir werden ihn unterstützen“, sagt Paul Rammelmeyr und fügt hinzu: „Es wird ein langer Weg mit ganz kleinen Schritten.“

da Hog’n


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0 Kommentare “Vom Drogenmilieu zu „Chance für Jeden“: Die Geschichte von John

  1. Wir hatten eine Wohnungsauflösung mit Chance für Jeden und
    ich kann nur mein Lob aussprechen für diese Arbeiter und Ihren Chef.
    Jederzeit wieder. Vielen Dank

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