Der gemeinsame Sieg der deutschen Staaten, der im Rahmen dieser Historien-Serie bereits ausführlich beschrieben worden ist, hatte den entscheidenden letzten Anstoß für eine staatliche Einigung gegeben. Und so erfolgte noch vor Kriegsende am 1. Januar 1871 die Gründung des Deutschen Kaiserreiches. Am selben Tag trat auch die neue Bundesverfassung in Kraft. Allerdings galt später der 18. Januar als Reichsgründungstag, weil an diesem Tag König Wilhelm I. im Spiegelsaal des Schlosses Versailles zum Kaiser ausgerufen wurde. Der bisherige Bund umfasste 25 Einzelstaaten, davon waren 22 Monarchien und drei freie Städte. Nahezu jeder Landstrich, jede Herrschaft, hatte eine eigene Währung, eigene Maße und Gewichte. Seit etwa 1850 gab es Bemühungen um eine Vereinheitlichung. Mit der Gründung des Deutschen Reiches wurden diese Bestrebungen schließlich umgesetzt.
Die neuen Maße und Gewichte galten bis in den letzten Winkel des Reiches ab sofort als verbindlich. So wurde das Pfund zu 500 Gramm eingeführt, Längenmaße, wie Schuh und Elle, oder die gewohnten Flächenmaße, wie beispielsweise Morgen und Tagwerk hatten offiziell ausgedient. Das komplizierte Umrechnen brachte nicht nur so manchen Handwerker oder Bauern arg ins Schwitzen.
Einschneidende Veränderungen für alle Bürger
Auch den Hausfrauen und Köchinnen bereiteten die Neuerungen Kopfzerbrechen, hatten doch jetzt die alten Gewichtsangaben, wie Loth, Quent, Quint und Vierting, Schoppen, Gugen und Schäffel ihre Gültigkeit verloren. Ab 1873 diente außerdem nur noch die Mark im Wert von 100 Pfennigen als Zahlungsmittel. Der Gulden zu 60 Kreuzer und der Kreuzer zu vier Pfennigen hatten ausgedient. Diese einschneidenden Veränderungen griffen wohl am spürbarsten ein in das tägliche Leben sämtlicher Bürger. Man musste sich damit abfinden und auf das Neue einstellen.
Trotz aller Umstellungsschwierigkeiten hatte die Begeisterung für Technik, die Aufgeschlossenheit für alles Neue, dieser anpackende Schwung, der mit der Gründung des Deutschen Reiches einherging, den gesamten neu geformten Staat erfasst. Die wesentlichste Ursache für die rasch um sich greifende Phase der Hochkonjunktur, eines beeindruckenden Wirtschaftswachstums, kann man in der hohen Summe von fünf Milliarden Francs sehen, die Frankreich als Kriegsentschädigung an Deutschland zu zahlen hatte. Besonders hart traf die Franzosen, dass sie außerdem das Elsass und Lothringen an den Sieger abtreten mussten. Das Ansehen Deutschlands war damit kräftig gewachsen.
Das daraus resultierende Hochgefühl zeigte sich in vielen Bereichen. Unter anderem, an der Ausstattung der Häuser und Wohnungen eines neu entstandenen wohlhabenden Bürgertums, an der aufwändigen Möblierung, vor allem jedoch an der Architektur, am neuen Baustil. Man spricht dabei vom Gründerzeitstil. Als Vorbild diente dabei die Zeit der Renaissance. Die mehr oder weniger üppig dekorierten Häuser mit ihren Erkern und Ziergesimsen sollten das Repräsentationsbedürfnis zum Ausdruck bringen. Das lässt sich beispielsweise auch auf einem Foto aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erkennen, das den Marktplatz von Waldkirchen zeigt. Bürgerstolz und gestalterischer Wille manifestieren sich hier an den Fassaden.
Schöner sind unsere Städte, Märke und Dörfer nicht geworden
Beim Betrachten solcher Bilder empfindet man Hochachtung sowohl vor dem finanziellen Aufwand eines aufgeschlossenen Bürgertums, als auch vor dem gestalterischen und handwerklichen Können der ausführenden Bauleute. Dagegen wirken viele heute häufig wenig durchdachte und auf Wirtschaftlichkeit getrimmte architektonisch zweifelhafte Ergüsse geradezu einfallslos nüchtern, bedauerlich kahl, nicht selten unproportioniert steril, langweilig und eher fad. Nicht alles lässt sich eben mit dem billigen Deckmäntelchen von oftmals gründlich missverstandener Modernität kaschieren. Zweifellos schöner sind unsere Städte, Märkte und Dörfer in den letzten Jahrzehnten nicht geworden.
Rupert Berndl
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