München. Er hat’s getan. Er hat das getan, wovon viele träumen, meist ihr ganzes Leben lang. Stephan Meurisch, Jahrgang ’81, gebürtig in Dessau, heute in Freising lebend, ist 2012 nach Tibet aufgebrochen. Zu Fuß. Und ohne Geld. Mit einem 30 Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken. 13.000 Kilometer in knapp vier Jahren: von München aus über Österreich, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Türkei, Georgien, Armenien, Iran, Indien und Nepal bis in die tibetische Hauptstadt Lhasa. Dabei war der Start, das Verlassen der eigenen Komfortzone, alles andere als ein Selbstläufer.
Stephan Meurisch war zufrieden mit seiner Welt, die er im Vorwort seines im Knesebeck-Verlag erschienen Buchs mit dem Titel „Ich geh dann mal nach Tibet“ gar als perfekt bezeichnet. Guter Job, schöne Wohnung im Grünen, eine wunderbare Freundin, viele Freunde, Familie. „Ich laufe vor nichts weg und es gibt auch keine Krise.“ Doch es gab da einen Traum, der ihn seit einiger Zeit quälte – und der für ihn zu einem „ewigen Fluch“ geworden wäre, hätte er sich nicht aufgemacht und ihn realisiert.
„Lass Dich auf die Reise ein“
Angefangen hat alles mit dem Jakobsweg. Doch Meurisch und seine Freundin wollen ihn nicht aus Glaubensgründen gehen, sondern um den Hype, der seit Jahren um den rund 800 Kilometer langen Pilgerpfad durch Nordspanien herrscht, zu widerlegen. „Wir wollen sagen können: Der Jakobsweg? Das ist der größte Quatsch. Woher wir das wissen? Wir sind ihn gegangen.“ Die beiden rennen buchstäblich los und merken nicht, um was es eigentlich geht. Dass der Weg das Ziel ist. Bis sie auf einen 67-jährigen Österreicher treffen. Eine Begegnung, die Meurischs Welt auf den Kopf stellt. Er verringert sein Tempo, blickt von da an mit anderen Augen auf Land und Leute. Das bisherige „Schneller, höher, weiter, besser“, das er aus seinem Münchner Alltag kennt, gibt es von da an nicht mehr.
Wieder zuhause, vom „Laufhunger“ gepackt, berichtet er einer Freundin von seiner schier unmöglich erscheinenden Idee, zu Fuß nach Kapstadt zu gehen. „Warum Kapstadt?“, fragt sie – woraufhin er keine passende Antwort weiß. „Im Laufe des Gesprächs und ohne meine Absicht fällt meine Wahl für ein mögliches Ziel auf Tibet.“ Die Freundin habe ihn mit ihrer Frage in Verlegenheit gebracht – und ihn dazu bewogen sein Ziel zu ändern, schildert Meurisch in seinem Buch. Also: Tibet.
Je mehr er sich mit seinem Vorhaben auseinandersetzt, desto mehr nimmt sein Traum Gestalt an, verschwindet der „Charme des Unmöglichen“. Er liest das Buch „Ohne Geld bis ans Ende der Welt“ von Michael Wigge, befasst sich mit dem Kanadier Jean Béliveau, der in elf Jahren einmal zu Fuß den Globus umrundete. Ebenso mit dem US-Motivationstrainer und Psychologen Dale Carnegie. Eine neue, beflügelnde Liebe tritt in sein Leben, während sein Traum von Tibet weiter konkrete Züge annimmt. Auch die Begegnung mit Max Semsch, der mit dem Fahrrad von München nach Singapur geradelt ist, gibt ihm zusätzlichen Antrieb, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Und dieser erteilt dem zunehmend nervöser werdenden Meurisch den alles entscheidenden Rat: „Lass Dich auf die Reise ein, lass sie geschehen.“ Er rät ihm zudem sich einen fixen Starttermin für die Reise zu setzen.
„Aber dann ist ist das Abenteuer nicht möglich“
Einen Tag nach seinem Geburtstag, nachdem er Wohnung und Job gekündigt, sich von allen weiteren Banden seines alten Lebens losgelöst und von Freunden und Familie verabschiedet hat, bricht er nach dreijähriger Vorbereitung an einem verregneten 11. März 2012 um 8 Uhr morgens vom Isartor auf. Doch der Abschied fällt ihm nicht leicht, Zweifel plagen ihn plötzlich. „Was mache ich hier eigentlich?“, fragt er sich selbst. Und stellt fest: „Als es nun darum geht, aufzubrechen, wird mir schlagartig bewusst, dass das Planen und Vorbereiten dieser langen Reise und das vom Tisch Aufstehen und nun auch wirklich Losgehen zwei ganz verschiedene Sachen sind.“
Trotz eines vor allem körperlich beschwerlichen Beginns kommt Stephan Meurisch nach und nach in den Flow des Gehens hinein. Er begegnet Menschen, die ihm freundlich gesinnt sind, ihm zu essen und zu trinken geben, ihn bei sich daheim übernachten lassen, ihm sogar Geld zustecken – die ihr Leben für begrenzte Zeit mit dem seinigen teilen. Er tauscht die (vermeintliche) Sicherheit gegen das Gefühl von Freiheit und des Loslassens. „Ich würde gerne an allem festhalten, aber dann ist das Abenteuer nicht möglich. Um etwas Neues zu entdecken, muss man das Alte hinter sich lassen.“ Die Sorgen vor dem Unbekannten begleiten ihn, genauso wie die Neugierde auf all das, was ihn draußen in der Welt erwartet.
Es geht um Mut und Vertrauen – und vieles mehr
In Stephan Meurischs Roadbook „Ich geh dann mal nach Tibet“ geht es um vielerlei Dinge. Es geht um das Verwirklichen von Träumen, um zwischenmenschliche Begegnungen, es geht ums Aufbrechen, um den Glauben an sich selbst und daran, dass am Ende alles gut wird. Es geht ums Loslassen, um Liebe und Schmerz, um Freude und Enttäuschung, um neue Erfahrungen und Erkenntnisse, um Mut und Vertrauen – kurzum: Es geht um das Leben an sich, das sich auf einem Weg, wie ihn der Autor zurückgelegt hat, in seiner ganzen Vielfalt und auf intensive Weise offenbart.
Langstreckengeher Meurisch gewährt seinen Lesern tiefe Einblicke in sein Innerstes, teilt mit ihnen all seine Sorgen und Ängste, genauso wie all die schönen und erhabenen Momente und Eindrücke, die ihm während seiner Reise zuteil werden. 288 Seiten (inkl. etwa 30 Bilderseiten) umfasst das Buch, das „beweist, dass die Welt doch nicht so gefährlich und vieles möglich ist, wenn man sich aufmacht, um sein Ziel zu erreichen“, wie es im Klappentext heißt. Was Meurisch dabei immer wieder gut vermitteln kann: Die Veränderung, die sich im Laufe seines Trips in ihm ausbreitet, die ihn zu dem Menschen macht, der er heute ist.
Ein Buch, das all denjenigen Mut machen kann, die bereits länger mit dem Gedanken spielen, sich auf den Weg zu machen und aufzubrechen – nicht nur im buchstäblichen, sondern auch im übertragenen Sinne, in jeder Lebenslage. Denen, wie anfangs auch Stephan Meurisch, bis dato noch der letzte Anstoß, der letzte Stupser fehlt, um ihren Traum zu verwirklichen. Es muss ja nicht gleich Tibet oder Kapstadt sein. Für den Anfang eignet sich gewiss auch eine mehrtägige Tour – etwa durch den Bayerischen Wald oder einen anderen Landstrich, den man gerne einmal per pedes kennenlernen möchte. Steigern lässt sich so eine Reise später immer noch. Die Botschaft, die es zu verstehen gilt, lautet: Der Weg ist das Ziel. „Oder warum Tibet am Ende gar nicht mehr das Ding war“, wie es im Untertitel des Buches heißt…
Stephan Hörhammer
„Ich geh dann mal nach Tibet“, Klappenbroschur, 288 Seiten, Knesebeck-Verlag, Preis: 18 Euro, ISBN: 978-3-95728-346-7.