Passau. „Sie sehen toll aus, von Kopf bis Fuß – perfekt!“. „Soll ich dir tragen helfen? Hey! Lass mich nicht allein!“ Sprüche wie diese gehören noch zu den harmloseren Zitaten, die der Instagram-Account @catcallsofpassau teilt. Es handelt sich dabei um Fotos von Kreidezeichnungen, meist auf Straßenböden. Wenn mal wieder eine Geschichte „angekreidet“ wurde. Denn während die Sprüche in einer anderen Situation, einem anderen Kontext, vielleicht als Kompliment oder ein nett gemeintes Hilfsangebot zu interpretieren wären, handelt es sich hierbei um Auswüchse sexueller Belästigung.
Seit April 2020 existiert die Seite, die Studentin Hannah Jäger mit ihrer Kommilitonin Miriam Kinzl auf der Plattform Instagram ins Leben gerufen hat. Inspiriert wurden die beiden unter anderem durch @catcallsofhannover. „Das Konzept ist überall das Gleiche“, erklärt Hannah Jäger: „Ihren Ursprung hatte die Idee in New York, den Account @CatcallsofNYC gibt es bereits seit März 2016.“
Catcalling – ein globales Problem
Der Begriff „Catcalling“ stammt aus dem Englischen und bedeutet so viel wie „hinterherpfeifen, -johlen.“ Unter dem Hashtag #stopstreetharassment (zu deutsch: „Stoppt Belästigung auf der Straße„) gewannen die Beiträge schnell an Aufmerksamkeit. Die Idee der Initiatoren: Menschen, die bereits Opfer sexueller Belästigung auf der Straße geworden sind, können sich anonym mit ihrer Geschichte an die Seite wenden. Die Mitglieder der Gruppe gehen dann zum Ort des Geschehens, schreiben die Sätze mit Kreide auf die Straße, fotografieren dies und posten das Foto auf Instagram. Die ganze Geschichte wird außerdem in der Bildbeschreibung geteilt, da die angekreideten Sätze oft nur einen Teil des Geschehenen wiedergeben.
Nach und nach schlossen sich weitere Städte an, mittlerweile hat sich eine weltweite Bewegung daraus entwickelt. In vielen Ländern gibt es einen Dachverband, der mit Aktionen und Informationen zu noch mehr Aufmerksamkeit beiträgt. Aufmerksamkeit, die notwendig ist, wie Initiatorin Hannah Jäger weiß. Die 21-Jährige hielt den Vorschlag ihrer Kommilitonin, ein Passauer Pendant einzurichten, von Anfang an für eine gute Idee. „Sexuelle Belästigung beginnt bei der Sprache“, ist die Studentin überzeugt. „Leider reagieren immer noch viel zu viele damit, dass sie Sprüche herunterspielen oder ignorieren.“ Wie viele Menschen von Catcalls betroffen sind, habe sich schnell gezeigt: „Nach kurzer Zeit bekamen wir immer mehr Einsendungen – die Reaktionen auf unsere Posts sind größtenteils positiv“. Die Anzahl der Nachrichten von betroffenen Personen aus der Region Passau nahm stetig zu, so dass die beiden Gründerinnen weitere Teammitglieder zur Unterstützung anheuerten. Eine von ihnen ist Sophia Rockenmaier, die seit Sommer 2020 beim Lesen und Beantworten der Nachrichten sowie beim Ankreiden mithilft. „Das Konzept war mir nicht neu, ich folge schon länger „CatCallsofNYC“ auf Instagram. Als ich entdeckt habe, dass es nun auch eine Seite für Passau gibt, meldete ich mich bei Hannah und bot ihr meine Hilfe an.“
Für die 22-Jährige ist das Ankreiden die beste Form, die Menschen für verbale sexuelle Belästigung zu sensibilisieren. „Das ist häufig besser, als der hundertste Artikel oder Vortrag über dieses Thema. Wenn Passanten beim Spazierengehen die bunten Kreideschriften bemerken und lesen, ist das erster wichtiger Schritt. Wir schreiben immer auch den Namen unseres Accounts dazu.“ Denn die Helfer und Helferinnen der weltweiten Bewegung sind sich einig: Das Teilen der eigenen Erfahrungen gibt Kraft und Mut, sich zu wehren. Anstatt die Anmachsprüche über sich ergehen zu lassen, wird Betroffenen eine Anlaufstelle geboten, um ihre Geschichte zu teilen. Außerdem verdeutlicht die Bewegung, dass niemand mit seinen persönlichen Erfahrungen alleine ist – und vor allem, dass sie sich niemals dafür schämen müssen.
„Es geht darum, sich zu wehren, anstatt zu ertragen“
„Scham ist eh so eine Sache“, meint Hannah Jäger. „Es gibt leider immer noch Menschen, die der Meinung sind, das Verhalten oder das Aussehen ihrer Mitmenschen erlaube es ihnen, unüberlegte Kommentare zu äußern. Stichwort: Bodyshaming. Im Sommer hatten wir besonders viele Einsendungen, die sich auf knappe Kleidung bezogen haben. Aber nur, weil jemand eine kurze Hose oder ein schönes Kleid trägt, sich schick gemacht hat oder ausgelassen tanzt, ist das noch lange keine Aufforderung, die Person zu belästigen!“ Trotzdem gäbe es immer wieder Reaktionen, in denen es heißt, die Person habe es sich selbst zuzuschreiben, wenn sie auf ihr Äußeres angesprochen werde.
Ob in der Stadt, an der Bar oder an der Passauer Innprommenade: CatCalling kann überall geschehen. „Wir nennen jedoch niemals Namen – egal, ob von Personen oder Gaststätten“, betont Sophia Rockenmaier. Es sei aber schon vorgekommen, dass mehrere Nutzer einen Ort auch ohne Namensnennung erkannt und dies bei Instagram kommentiert haben. „Wenn beispielsweise ein Lokal besonders häufig als Ort von Belästigungen hervorsticht, ist es erst recht wichtig zu sensibilisieren.“ Denn unter Umständen sei den Tätern selbst nicht bewusst, wie schwerwiegend ihre Äußerungen sind.
„Wir bekommen auch immer wieder Einsendungen von Männern, die schreiben, dass sie ihr Verhalten überdacht haben“, berichtet Studentin Hannah Jäger. „Nur, wenn man das Problem als solches benennt, kann es langfristig als solches wahrgenommen werden.“ Reaktionen wie „Ach, das ist Belästigung?“ zeigen, dass nicht immer ein böser Gedanke hinter der Äußerung steckt. „Leider ist CatCalling heutzutage einfach zu normalisiert“, ergänzt Sophia Rockenmaier.
Und genau hier will die Bewegung ansetzen: Es soll informiert werden, damit sich künftig weniger Vorfälle dieser Art ereignen – und damit auch Außenstehende schneller eingreifen können. „Frauen sollen den Mut haben, um Hilfe zu bitten – ohne die Angst, nicht ernst genommen zu werden“, sagt Sophia. „Es geht darum, sich zu wehren, anstatt zu ertragen.“ Die 22-jährige spricht von Frauen, doch auch Männer können betroffen sein. „Allerdings zeigen Studien und die Anzahl der eingehenden Nachrichten, dass immer noch weitaus mehr Frauen Opfer von CatCalling sind.“
Codewort, Ausstellung und Selbstverteidigung
Um Frauen noch mehr zu schützen und zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen, planen die Initiatorinnen bereits weitere Aktionen in Zusammenarbeit mit der Beratungsstelle „ProFamilia“ in Passau. Der für Ende November angedachte Selbstverteidigungsworkshop musste zwar aufgrund der Corona-Regelungen verschoben werden, doch Hannah ist sich sicher: „Wir holen das auf jeden Fall nach.“ Um auch Menschen ohne Instagram-Zugang zu erreichen, ist außerdem eine Ausstellung in Planung. Die Kreideschriften, die spätestens durch den nächsten Regen verschwinden, sind vergänglich. Daher soll die Ausstellung noch mehr Bewusstsein für Menschen jeden Alters schaffen.
Ein weiteres Vorhaben betrifft die Club- und Barszene in Passau. Denn auch, wenn die aktuelle Situation es nicht zulässt, wird auch der Besuch dieser Lokalitäten einmal wieder möglich sein. Und damit dies für alle entspannt und angstfrei möglich ist, soll ein einfaches System eingeführt werden, das vielerorts bekannt ist und seinen Ursprung im Dating hat: Die Mitarbeiter von Nachtclubs, Bars oder Cafés werden über ein entsprechendes Codewort informiert. Dieses wird im jeweiligen Lokal auf der Damentoilette ausgehängt, um Opfern sexueller Belästigung die Möglichkeit zu geben, unbemerkt vom Täter um Hilfe zu bitten.
Die Aktion „Luisa ist hier“ wurde im Jahr 2016 erstmals in Münster eingeführt. Dabei handelt es sich um eine Kampagne des Frauen-Notrufs Münster. Die Idee dahinter ist, es Frauen zu ermöglichen diskret um Hilfe zu bitten – ohne zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Natürlich sei die Gefahr, der Satz könne sich herumsprechen, gegeben. Doch Hannah Jäger hält einen absichtlichen Missbrauch für eher unwahrscheinlich, ebenso das unabsichtliche Benutzen des Begriffs: „Der Satz oder das Wort sind schon sehr spezifisch. Und ich hoffe, dass die wenigsten so unreif sind, sich einen Spaß daraus zu machen, es absichtlich zu missbrauchen.“ Und Freundin Sophia ergänzt: „Und außerdem: Lieber einmal zu viel helfen als zu wenig.“
Malin Schmidt-Ott
Ein guter und notwendiger Beitrag. Ich kenne die Uni von Beginn an, und habe im Laufe der Jahre immer wieder feststellen müssen, dass es Spannungen zwischen Student*innen und Einheimischen gab und gibt.