Wien. Wie über etwas schreiben, über das man nicht einmal sprechen kann? Über etwas nachdenken, für das es keine Worte gibt? Was man dabei denkt und fühlt, wenn man einen Schwerbewaffneten durch die Gassen laufen sieht, der wahllos auf Menschen schießt. Durch Gassen, die man kennt, die man eigentlich in guter Erinnerung hat. Eigentlich denkt man in dem Moment nichts – zumindest ich nicht. Weil es zwar nur ein paar Kilometer weiter passierte, aber viel zu weit weg war...
An Fernsehbilder von Amokläufern, Attentätern und sonstigen „Oaschlöchern“ hat man sich in den vergangenen Jahren leider gewöhnt. Ist möglicherweise auch etwas abgestumpft von den vielen „Eilmeldungen“ und vor Superlativen triefenden Überschriften. Von den Opferzahlen, die dann doch nur Zahlen sind. Auch wenn Brüssel, Paris, Nizza, Lyon und London mitteleuropäische Städte sind – diese Anschläge ereigneten sich immer noch irgendwo. Weit weg.
Ja, man kennt diese Orte. Und eigentlich auch nicht.
Gesehen hat man sie im eigenen Wohnzimmer, aber der Bildschirm ist kognitive Trennwand genug, um nicht fühlen zu müssen, zu verdrängen. Am Bildschirm gesehen habe ich es auch dieses Mal, im Wohnzimmer, während eines recht lustigen Kartenspiels ist es passiert. Dazu gab’s Dosenbier. Doch dieses Mal waren die Orte, die ich auf dem Bildschirm sah, nicht irgendwo – der Schwedenplatz, das Bermudadreieck sind mir nur allzu bekannt. Die Gegend beherbergt zahlreiche Bars und Lokale, im Sommer wird hier Bier getrunken, Eis gegessen. Orte des Vergnügens. Orte, die, wenn man an sie denkt, einen zum Schmunzeln bringen. Weil jede und jeder dazu eine verrückte Geschichte kennt.
Ja, man kennt diese Orte. Und eigentlich auch nicht. Weil man für gewöhnlich keine Orte kennt, an denen Menschen erschossen werden. Auch wenn die Straßennamen dieselben sind. Nicht hier. Nicht bei uns.
Mitgefühl? Trauer? Schock? Keine Ahnung. Ehrlich. Keine Ahnung. Das Kartenspiel ist mittlerweile zu Ende. Es prasseln Nachrichten auf uns ein, ob man eh Zuhause ist, ob’s einem gut geht. Ja – und selbst? Passt. Mehr wird nicht gesprochen, weil es nichts zu sagen gibt. Weil darüber nicht gesprochen werden kann. Am liebsten würde ich wieder Kartenspielen.
Sowas geht mir durch den Kopf
Im Informationsrausch, in der Gier nach – ich weiß es nicht – Gewissheit(?) mischen sich Fakten und Lügen, von einer Geiselnahme unweit meiner Wohnung ist die Rede, dann doch wieder nicht. Über der Stadt kreisen Helikopter und selbst den erfahrensten und renommiertesten ORF-Moderatorinnen und Moderatoren steht der Schweiß auf der Stirn.
Der Scheiß-Boulevard, der jährlich mehrere Millionen Euro Presseförderung einstreicht, geilt sich indes an der eigenen menschenverachtenden Berichterstattung auf. An den Videos, auf denen Menschen erschossen werden, auf denen Blutlachen zu sehen sind. Das ärgert mich! Das ist irgendwie lebensnaher: Kritik am Scheiß-Boulevard, der verdammt nochmal jährlich mehrere Millionen Euro Presseförderung bekommt und deren Redakteure wahrscheinlich gerade mit feuchter Hose im Büro sitzen, sich gegenseitig auf die Schultern klopfen, weil die Zahlen nach oben schnellen. Weil sie so geil sind. Und alles andere, Opfer, Angehörige nichts zählen, zumindest weniger als ein paar Klicks. Quantifizierung dieses so peinlich-mörderischen Begehrens nach Anerkennung, nach Männlichkeit.
Für manche „Oaschloch“-Politiker ist schon ausgemacht, dass Immigration und Islam das Problem sind, da war das Blut der Getöteten noch nicht einmal getrocknet. Auf Twitter verbreiten sie ihren ekelhaften Hass, der vor nichts Halt man, schon gar nicht vor Leid und Tod. Gerade dann fühlen sie sich auserwählt, die selbsternannten Ritter und Retter des Abendlandes. Sowas denke ich in diesen Stunden. Wie prekär – man kann wohl sagen: kaputt – so eine (männliche) Identität eigentlich sein muss, dass man in diesen Minuten, bei diesen Bildern nichts anderes in der Birne hat, als so eine rassistische Scheiße in die Welt zu setzen. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass wieder einer zuschlägt, die Parolen schon vorformuliert. Denn dann, wenn wieder einer zuschlägt, dann sind auch sie wieder wer. Sowas geht mir durch den Kopf.
Das ist halt Wien, heißt es.
Eigentlich sollte Corona Thema sein. Seit Dienstag gelten Ausgangsbeschränkungen. Die sollten eigentlich Thema sein. Und dann ist da natürlich die US-Wahl, das Trauerspiel zweier alter, weißer Männer, bei dem einer nur der Gute ist, weil der andere alles Schlechte auf sich vereint. Aber eigentlich wird auch heute, am Mittwoch, zwei Tage nach dem Attentat, noch jeder Gedanke jäh unterbrochen. Während ich diese Zeilen schreibe, schiele ich mit einem Auge auf die US-Wahl, mit dem anderen auf den Text – der Kopf kreist irgendwo.
Unterbrochen von den Sondersendungen und dem öffentlichen und privatem Versuch, das irgendwie zu ordnen, einzuordnen (von Verstehen-Wollen kann ohnehin keine Rede sein, aber wenigstens einordnen). Von der absurden, komischen – keine Ahnung, ob es dafür überhaupt ein Wort gibt – Videoaufnahme eines Wieners, der dem Attentäter aus dem Fenster „Schleich di, du Oaschloch“ zuruft. Und dem man sogleich auf Twitter einen eigenen Hashtag widmet. Von dem es bereits Dienstagabend ein T-Shirt gibt.
Das ist halt Wien, heißt es.
Und die drei Helden, die einer Frau und einen Polizisten Montagnacht das Leben retteten. Und bei denen immer noch extra mit Nachdruck betont wird, dass die mit Migrationshintergrund seien, oder leben, existieren, oder was man mit so einem Migrationshintergrund halt so tut. Ein Dasein fristen. Als ob man nicht einfach nur Held sein kann, ohne als Gegengewicht zu irgendeinem Klischee fungieren zu müssen. Als ob selbst beim Menschenretten noch irgendwas zurechtgerückt werden muss, irgendwelche Wurzeln, ein Hintergrund. Sowas beschäftigt mich.
Ich nicht.
Die Hintergründe der Tat? Was tun? Hätte, wäre, wenn? Keine Ahnung. Auch zwei Tage danach. Mittlerweile weiß man mehr über Tathergang, Attentäter, Verdächtige. Ich nicht.
Wie über etwas schreiben, über das man nicht einmal sprechen kann? Über etwas nachdenken, für das es keine Worte gibt? „Schleich die, du Oaschloch“, ist vielleicht die beste Antwort. Zumindest fällt mir keine bessere ein.
Johannes Greß
(Hog’n-Autor, freier Journalist, im Woid geboren, in Wien seit fünf Jahren lebend)
Titelbild: pixabay/8moments