Passau. Und wenn der Vater (heute 53) seine Tochter, nennen wir sie Vroni, vorletzten Sommer Mitte August doch mit an den Plattensee genommen hätte? Lebte Vroni dann heute noch? Ihre geschiedenen Eltern sind davon überzeugt. Im Passauer Landgericht sitzen sie neben dem Staatsanwalt als Nebenkläger im Prozess gegen Vronis beste Freundin, die hier Maria (24) heißen soll. Es geht um Tötung auf Verlangen – Sterbehilfe, die bis zu fünf Jahre Gefängnis bedeuten kann.
Vroni kann nichts mehr dazu sagen. Sie ertrank am 22. August 2019 im Rannasee bei Wegscheid (Landkreis Passau). Maria gibt zu, Vroni so lange unter Wasser gedrückt zu haben, bis sie nicht mehr strampelte, was laut Gerichtsmediziner Krämpfe bei einem längst bewusstlosen Ertrinkenden sein können: „Es hat sich für mich wie eine Ewigkeit angefühlt, bis sie sich nicht mehr bewegte“, sagt sie heute. Dabei hätte Vroni doch versprochen, nicht zu strampeln. Dass dagegen Maria noch am Leben sei, wäre so nie geplant gewesen.
Nicht der erste gemeinsame Selbstmordversuch
„Wir wollten in den Himmel“ – die beiden Außenseiterinnen wollten dieses öde und anstrengende Erdenleben gemeinsam beenden. „Wir wollten, dass es schnell geht. Ins Wasser springen? Wir haben beide Höhenangst. Deshalb wollten wir ein Auto benutzen. Wir fahren ganz schnell rein, dann ertrinken wir da drin einfach gemeinsam.“ Per Handy hatten die Oberösterreicherinnen im Internet nach „blauen Flecken“, also Seen, gesucht, die einsam liegen. Wo niemand sie kennt. So kamen sie auf den Rannasee. „Der fühlte sich richtig an. Wir sind zunächst ein paar Runden hin und her gefahren für einen Weg, wo wir mit dem Auto in den See können. Da war Vroni wach und wir unterhielten uns, um uns emotional auf das Bevorstehende vorzubereiten.“ Dann steuerte Maria das Auto mit der Freundin auf dem Beifahrersitz in den See. Wasser drang bis auf Sitzhöhe ein – mehr passierte nicht. Vronis Golf steckte im Uferschlamm fest.
Maria zufolge war es nicht der erste gemeinsame Selbstmordversuch. Und sowohl die Feststellungen der Rechtsmediziner und -biologen als auch des Psychogutachters, der zudem die von einer Graphologin geprüften Abschiedsbriefe – drei von Vroni, einen von Maria – bewertete, passen zu allem, was die Angeklagte im Gerichtssaal berichtet. Maria weicht so gut wie keiner Frage aus. Doch ihre Persönlichkeit lässt es nicht zu, dass sie anders als kalt, fast unbeteiligt wirkt – selbst, als sie vom Töten berichtet. Ihrer Einlassung nach hatten die jungen Frauen einmal in der Wohnung von Vronis Vater, einmal beim Zelteln und dann in der Wohnung von Vronis Mutter versucht, an der Überdosis eines Tablettencocktails zu sterben. Doch Vroni musste sich sofort übergeben, Maria stoppte ihre eigene Einnahme daraufhin. Vroni wollte in der Badewanne von Maria ertränkt werden, die Freundin wollte sich danach die Pulsadern aufschneiden. Auch das misslang. Die Mutter wunderte sich noch über den nassen Klamottenhaufen ihrer Tochter im Bad.
Vor dem am Ende nun doch durchgeführten Ertränken im Rannasee hätte Maria nach eigener Aussage ihre Freundin mit einem Stich ins Herz töten sollen (und wollen), doch ihr fehlte die Kraft dazu – zudem wehrte Vroni das Messer ab. Maria ließ es sofort los, es verschwand im schlammigen Seegrund. Daraufhin habe Vroni gefleht, Maria solle sie unter Wasser drücken, bis sie ertrunken sei. Gesagt. Getan. Maria versuchte danach, weil doch das Messer weg war, sich selbst zu ertränken, sich mit dem zu stumpfen Autoschlüssel die Pulsadern aufzuritzen, sich mit den Henkeln ihrer Tasche zu erwürgen. Bevor irgendetwas davon gelang, wurde die Verzweifelte entdeckt. Sie kniete auf dem Beifahrersitz, wollte ihre Ruhe, sagte: „Nicht mal das bringen wir zusammen. Es haben eh alle recht! Das bringen wir nicht zusammen.“
„Erstunken und erlogen“
Vronis Eltern lassen sich von dem geplanten Doppelsuizid in den vier Prozesstagen nicht überzeugen. Beide kennen die Akten, in denen auch tausend Seiten den regen Handy-Chat von Maria, Vroni und einer Freundin aus Linz dokumentieren. Das Trio hatte im Frühjahr 2019 ein Fantasy-Rollenspiel begonnen, die Linzerin war mal mehr, mal weniger engagiert. Im Urteil wird das Gericht dieses sog. LARP (Live action role playing) ein „blödes, saudummes Spiel“ nennen – „mit einer Realität, die es nicht gibt, mit einer Königin Maria, mit dem Stein, dem ‚Seelenplan‘ Vronis, der im Wasser, dem Seelenplan Marias, versenkt wird. Das Spiel wird immer stärker Realität mit Transzendenz, jenseitigem Leben und Fabelwesen. Maria und Vroni haben das schon noch mit der Wirklichkeit auseinandergehalten. Aber sie haben nicht kapiert, dass man, wenn man tot ist, endgültig tot ist. Hätte es das LARP nicht gegeben, hätte es das Geschehen nicht gegeben.“ Und selbst Maria sagt heute: „Wir haben uns gedanklich komplett verrannt, dass die Welt ohne uns besser dran ist, dass wir für die Mitmenschen eine Belastung sind. Das war ein kompletter Fehler, was wir gemacht haben. Alles.“
Der Vater sagt als Zeuge über den Selbstmord seiner Tochter unter Tränen: „Vroni hätte sowas sicher nie getan, nie. Ich glaube sie ist eher einitrieb‘n word‘n. Weil die anderen gestört sind. Was da passiert sein soll, ist erstunken und erlogen, diese Geschichte der Angeklagten.“
Vronis Mutter (50) kommt zu jedem Prozesstermin. Am zweiten Tag stellt sie ein gerahmtes Bild ihrer Tochter auf ein Tischchen neben sich. Die Richter untersagen diese „Art Altar“. Die Mutter kann es nicht fassen, dass im Gericht niemand ihre Theorie glaubt: „Die Linzerin wollte ihren Masterplan durchziehen, Vroni zu beseitigen. Und Maria war das Werkzeug!“ Der Richter fragt nach: „Vroni ist ermordet worden?“ Die Mutter: „Ja. Ich weiß, dass man das nicht glauben kann, das ist das Irrsinnigste in meinem Leben. Das ist im Chat so aufgebaut worden, dass die Linzerin die Maria instrumentalisiert hat, die Vroni zu beseitigen.“
Sie deutet auch die drei sich nur unwesentlich unterscheidenden Abschiedsbriefe ihrer Tochter, anders als der Gutachter: „Das ist Vronis Schrift, aber nicht von ihr. Sie hätte nur kurz geschrieben, die hat in der Schule schon keine langen Aufsätze geschrieben. Vroni weiß, dass ich mir mein ganzes Leben Vorwürfe mache. Sie hätte mir nie Vorwürfe gemacht. Im Chatspiel haben sie Abschiedsbriefe geschrieben an die Gefährten. Dieser Brief war nicht an mich. Die Vroni würde mir das so nie schreiben, nie. Das sind nicht ihre letzten Worte an mich. Die Formulierungen werden auf jeden Fall von ihr sein. Wenn die Maria ihr das anschafft, schreibt sie so.“
Sammlung weißer Porzellan-Engel
Auch das Gericht räumt „Bauchweh“ ein, hat aber nichts außer im Großen und Ganzen stimmige Fakten, die alle zu Marias Geschichte passen. Dass Vroni nicht hatte sterben wollen, lässt sich nicht beweisen: „Ein Urteil können wir nicht auf Mutmaßungen stützen. Das können Eltern tun, um ihr Seelenheil wiederherzustellen.“ Die Richter brauchen sich mangelnde Gründlichkeit bei diesem menschlich tragischen Sachverhalt wohl nicht vorwerfen zu lassen. Und die Freundin aus Linz? Die verweigert sich, behauptet Gedächtnisverlust. Sie kann nicht zur Zeugenaussage vor einem deutschen Gericht gezwungen werden.
Die Richter versuchen, auch ohne sie möglichst viel über Vroni zusammenzutragen, über die deren Mutter sagt: „Sie war ein ganz normales, anständiges Mädchen ohne Flausen.“ Bei Vronis Obduktion sind Schwielen an den Händen aufgefallen. „Vom Schaukeln“, erklärt die Mutter gelassen. Vroni habe täglich auf der Schaukel gesessen, sei seit ihrem siebten Lebensjahr dafür auf den Spielplatz gegangen. Beide Eltern wissen davon: „Mei, das gefiel ihr halt.“ Der Psychogutachter klärt auf, dass Menschen einen Schaukel-Tick entwickeln können, wenn sie sich einsam und vernachlässigt fühlen. Ob Vroni an ein Leben nach dem Tod glaubte, weiß die Mutter nicht. Nur, dass ihre Tochter diese Sammlung weißer Porzellan-Engel im Zimmer hatte. Das Gericht bilanziert zu der vollschlanken Österreicherin, die sich nie durchbiss, bei Mobbing und anderen Problemen Jobs hinschmiss, unglücklich verliebt war: „Vronis Leben war nicht so toll, wie ihre Eltern das mit einer rosa Brille heute sehen. Aber es war auch nicht so schlimm, dass es einen Todeswunsch erklärte.“
Marias Leben ist anders verlaufen. Sie verlor ihren Vater, als sie zwölf war. Er starb an einem Herzinfarkt – im Garten, vor ihren Augen. Damals lernte sie auch Vroni kennen. Mit 15 Jahren verlor Maria den großen Bruder durch einen Unfall. Ihre Mutter (55) war gerade im Urlaub im August 2019, erfuhr am Telefon von der Rannasee-Tragödie. Sie sagt über Maria, „sie war nie ein Partygirl“ – und darüber, wenn Vroni und die Linzerin zu Besuch waren: „Maria kochte gern, mit der Linzerin zusammen, Vroni schaute zu. Wenn die Linzerin da war, wurde viel mehr gelacht. Vroni war die ruhigste. Zuletzt waren Vroni und Maria ruhiger, ernster, angespannter.“
Ein Jahr und neun Monate Haft auf Bewährung
Der Staatsanwalt glaubt Maria. Er beantragt zweieinhalb Jahre in Haft für Tötung auf Verlangen. Die beiden Verteidiger finden zwei Jahre Haft, ausgesetzt zur Bewährung, genug. Nachdem Maria, auch an Vronis Eltern gewandt, sagte, „ich möchte mich nochmal entschuldigen, dass wir uns nicht früher richtige Hilfe geholt haben“, unterbietet das Gericht am Tag darauf sogar die Verteidiger.
Eigentlich hätte das Urteil erst diese Woche verkündet werden sollen. Doch angesichts krass steigender Infektionszahlen beidseits der Landesgrenze drohte der Prozess aufgrund der strengeren Corona-Auflagen zu platzen, was für „alle Beteiligten eine Katastrophe“ bedeutet hätte, so der Richter. Das Landgericht belässt es bei Maria wegen deren Ausnahmezustand, dem eigenen Todeswunsch bei der Tat und den daran anschließenden sechs Monaten in der geschlossenen Psycho-Klinik bei einem Jahr und neun Monaten Haft auf Bewährung: „Einsperren bringt niemanden wieder her. Wenn Marias Geschichte stimmt, weiß sie, dass sie große Schuld auf sich geladen hat. Wir gehen davon aus, dass sie das verstanden hat.“ Maria hat das Urteil sofort angenommen. Staatsanwalt und Nebenkläger nutzen eine Woche Frist für die Entscheidung, ob sie es anfechten.
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Nachtrag: Die Eltern der Verstorbenen haben das Urteil des Landgerichts angefochten und Revision dagegen eingelegt.