In der Schule fängt sie meistens an zu wirken, wenn es ums Thema Hausaufgaben geht. Klammheimlich schleicht sie sich ein. Durch die Hintertür. Ganz ohne Nebengeräusche. Im Studium oder in der Berufsausbildung, insbesondere vor Prüfungen, kommt sie dann meist so richtig zur Geltung. Erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt. Wird zum schier unaufhaltsamen Habitus. Später, im Alltag, taucht sie auch immer wieder mal auf, etwa in der Küche oder im Badezimmer, meist neben Staubsauger oder Klobürste. Und plötzlich ist sie zum unscheinbaren Begleiter geworden, der doch das eigene Leben zu einem nicht ungewichtigen Teil mitbestimmt. Die Rede ist von der Prokrastination. Das Phänomen, anstehende Aufgaben (immer wieder) aufzuschieben.
Die meisten von uns kennen diese Situationen. Der Rasen ist zu lang und müsste wieder mal gemäht werden. Das Auto sieht innen wie außen irgendwie schmuddelig aus und bräuchte wieder mal eine Frischekur. Die Steuererklärung sollte schon längst abgegeben sein. Mein Chef möchte, dass ich die Bilanz bis Ende der Woche fertig habe, es eilt also. Die automatische Verlängerung des Sky-Abos steht unmittelbar bevor, ein Anruf zur Kündigung wäre angebracht. „Naja, das kann ich auch noch morgen erledigen. Oder übermorgen.“ So denken alle, die zu den Opfern der Prokrastination zählen. Es geht um das Verhalten, unangenehme, jedoch notwendige Angelegenheiten und Verpflichtungen immer wieder auf die lange Bank zu schieben, anstatt sie augenblicklich zu erledigen.
Doch wie soll man diesen Tag richtig „feiern“?
Um ein Zeichen gegen das zeitliche Verzögern gewisser Aufgaben zu setzen, haben die Amerikaner den „Fight-Procrastination-Day“, also den Anti-Prokrastinations-Tag, ins Leben gerufen. Begangen wird er jedes Jahr am 6. September. Von wem dieser Tag auserkoren wurde, ist laut der Website „Kuriose Feiertage“ nicht geklärt. Ebensowenig die Frage, warum gerade dieses Datum dafür gewählt worden ist. Wie sollen wir, die wir alle unsere prokrastinierenden Anteile in uns tragen, diesen Tag, der heuer irrwitzigerweise auf einen Sonntag fällt, nun also „feiern“?
Stellen wir uns vor, er beginnt diesmal nicht erst, wenn wir von der Sonne wach gekitzelt werden, sondern mit dem Klingeln des Weckers. Sagen wir um 8 Uhr. Anstelle uns nochmals umzudrehen und erneut wegzuschlummern, springen wir sogleich aus den Federn und machen uns daran, das Frühstück für uns und unsere Lieben vorzubereiten. Danach stellen wir das Geschirr nicht – wie sonst üblich – in die Spüle, wo es dann bis spätabends vor sich hinvegetiert, sondern reinigen es sogleich mit Bürste und Schwamm. Diesmal fällt sogar die Lufttrocknung flach – wir räumen sämtliche Teller und Gläser direkt dorthin zurück, wo wir sie entnommen haben. Selbiges passiert im Rahmen des Mittag- und Abendessens.
Der Katze wird pünktlich um 9, 12 und 18 Uhr ihr Futter in den Fressnapf geschoben. Zudem ist heute der Tag gekommen, an dem die Hecke im Garten einen neuen Schnitt verpasst bekommt. Die Briefe, die sich seit mehreren Wochen auf dem Kühlschrank stapeln, vor allem die vom Finanzamt, werden heute geöffnet und bearbeitet, notfalls auch weggeschmissen. Die Steuerunterlagen werden herausgesucht, sortiert und in einem Ordner abgeheftet. Die Fläche hinterm Bücherregal, die bereits eine zentimeterdicke Staubschicht ziert, wird gereinigt und gesäubert. Der gelbe Rand an der Unterseite des Klodeckels wird entfernt. Der Keller aufgeräumt. Die Garage ausgemistet. Der Kühlschrank abgetaut. Der Ofen geputzt. Die Fenster. Die Vitrine. Der…
„Prokrastinateure aller Länder, vereinigt Euch!“
Im Ernst? Das soll ein echter Prokrastinateur, der 364 Tage im Jahr nichts anderes macht als Dinge vor sich her zu schieben, von jetzt auf gleich umsetzen können? Wer’s glaubt, wird selig. Ein echter Prokrastinierer wird sich mit jeder Faser seines Daseins dagegen sträuben, wird sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, sich nicht, wie von der Seite arbeits-abc vorgeschlagen, in Selbstreflexion üben, sondern sämtliche Ablenkungstaktiken (Handy, Fernseher, Radio, Kühlschrank etc.) anwenden. Er wird seine Prioritäten ganz gewiss nicht richtig setzen, sondern mit dem Allerunwichtigsten beginnen. Er wird sich bereits vor der Erledigung sämtlicher Aufgaben großzügig belohnen – und zwar so, dass er die Aufgaben im Anschluss garantiert nicht mehr erledigen kann. Er wird sich in völlig unrealistischen Vorstellungen vom Abarbeiten einer To-Do-Liste verlieren und sich durch völlig absurdes Multi-Tasking jegliche Konzentrationsfähigkeit vergällen. Am Ende wird er verzweifelt schreien: „Prokrastinateure aller Länder, vereinigt Euch!“ Und nach einem kurzen Moment der Besinnung lauthals anfügen: „Morgen!“
Stephan Hörhammer