Passau. Das Landgericht Passau hatte vergangene Woche, am fünften Prozesstag, einen jungen Iraner (26) mit der härtesten Strafe belegt, die das deutsche Strafrecht vorsieht: lebenslänglich. So lautete das Urteil für den heimtückischen Mord an einem Landsmann (33) am Halloween-Abend voriges Jahr – mitten in der Dreiflüssestadt.

Die Urteilsbegründung wird das Gericht schließlich beginnen mit: „Das Leben schreibt seltsame Drehbücher. Dieses hier eignet sich als Vorlage für eine klassische Tragödie. Zwei junge Männer haben im Iran eine gemeinsame Geschichte. Darin ist unser Opfer wohl Täter, unser Angeklagter das Opfer. Jahre später treffen sich beide zufällig wieder, 4.000 Kilometer woanders, in einer kleinen Stadt in Niederbayern, in einer Kirche. Die Konsequenz davon ‑ der eine ist tot, der andere muss nun lebenslänglich in Haft. Opfer und Täter haben die Rollen getauscht.“
Es war wohl wirklich Zufall…
Darin steckt bereits viel von der Problematik dieses Strafverfahrens. Nicht nur sind am 31. Oktober gegen 21.30 Uhr beim ZOB die beiden Hauptpersonen dieser Tragödie aufeinander getroffen. Im Gerichtssaal prallen auch zwei Kulturen aufeinander: die mitteleuropäische auf die vorderasiatische, die der deutschen Juristen auf die der persischen Flüchtlinge. Von der Sprachbarriere ganz zu schweigen. Im Iran, so bestätigen die Dolmetscher etlicher Zeugen, werde Homosexualität mit dem Tode bestraft. Wenn das stimmt, was der Angeklagte nach anfänglichem Schweigen am dritten Tag seine Anwältin, eine in Bayern lebende Armenierin, erklären lässt, steht eine von Gewalt geprägte, homoerotische Vorgeschichte hinter der Bluttat in Passau.

Der getötete Ältere und der Angeklagte waren in Teheran fast Nachbarn. Der Ältere soll den Jüngeren vergewaltigt, den Übergriff gefilmt und damit erneut sexuelle Handlungen von ihm erpresst haben. Der Ältere hätte gedroht, das Video herumzuzeigen. Dies hätte den Jüngeren zum Geächteten gemacht – das fürchtete er auch in Passau, wo rund 200 Menschen aus dem Iran leben.
Es war wohl wirklich Zufall, dass genau diese beiden Männer sich acht, neun Jahre später, rund einen Monat vor der tödlichen Messerattacke, in einer Passauer Kirche, tausende Kilometer fern der Heimat, wiedertreffen. Der Ältere war zum christlichen Glauben übergetreten, in der Kirchengemeinde bestens integriert. Von seinen Glaubensgeschwistern war nach dem Mord so manche Lanze für den 33-Jährigen und dessen vermeintliche Integrität gebrochen worden.
Gegen diese weiße Weste aber spricht die Auswertung seines Handys. Neben seinem Internetsurf-Verlauf sind Chats gesichert. Auch mit dem Angeklagten. Die Sprachnachrichten lässt das Gericht im Saal vorspielen und übersetzen, zehn Monate nach seiner Ermordung bekommt der Tote noch einmal eine Stimme, die im Saal des Landgerichts ertönt. Seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester als Nebenkläger müssen all das nicht miterleben, sie lassen sich im Prozess durch Anwälte vertreten.
„Mir war klar, dass ich zugestochen hatte“
Meist unterhielten sich die Männer über Verabredungen. Dass sie sich mit „Bruder“, „meine Liebe“, „mein Leben“ und derlei ansprachen, sei üblicher persischer Umgangston. Das Herz, das der Ältere dem Jüngeren sandte, bleibe freilich ein Herz mit derselben Bedeutung wie hierzulande. Da der Jüngere oft die treibende Kraft war, der Ältere zuweilen lustlos und müde klang, ließe sich daran bereits ein Hinweis auf das Motiv des Angeklagten ausmachen: Wollte er den Älteren in eine Falle locken? Der zog nicht gleich, es kam erst am 31. Oktober zur Verabredung vor dem Supermarkt beim ZOB. Und die verlief tödlich für den Älteren.

Der Ablauf ist schnell geschildert. Überwachungskameras am ZOB und im Klostergarten haben die verhängnisvollen Minuten aufgezeichnet. Der Ältere stand am Treffpunkt, hatte in einer weißen Tüte Alkoholika dabei. Der Jüngere näherte sich mit einem verdeckt gehaltenen, spitzen Küchenmesser – erst zögernd, dann schnell. Der Vorsitzende Richter fasst zusammen: „Der linke Arm des Älteren geht nach außen, wie für eine Begrüßungsbewegung. Die Körper bewegen sich eng zusammen, fast wie Tänzer, vom Vorplatz auf die Fahrbahn. Der Ältere dreht sich und rennt weg. Wir werten das so: Der Angeklagte lief auf den Älteren zu, der sieht das Messer nicht. Kam es noch zum Bruderkuss, dann war das Folgende mehr als heimtückisch. Dann war es hinterlistig, das Messer in die Brust des anderen zu rammen, dabei das Brustbein zu durchstoßen. Vielleicht sah der Ältere das Messer im letzten Moment, aber da hatte er keine Verteidigungsmöglichkeit mehr. Reden, sich wehren oder weglaufen? Er war klug genug zu flüchten. Ein Bruderkuss passt perfekt dazu.“
Der Jüngere hatte seine Anwältin darüber sagen lassen: „Am ZOB sah ich den Älteren, er rief zu mir, jetzt kommst du spät, du Arschgefickter. Ich nahm das Messer aus der Tasche. Der Andere ging rückwärts, dann lief er weg. Ich lief ihm nach, konnte ihn aber nicht mehr erreichen. Ich blieb stehen, da fiel mir das blutige Messer auf. Mir war klar, dass ich zugestochen hatte. Ich traf einen Kumpel und zeigte ihm das Messer.“
„Das war absoluter Vernichtungswille“
Die beiden kehrten im Klostergarten um, holten vom Treffpunkt die Tüte des Älteren, konsumierten den Inhalt mit Freunden. Der tödlich Verletzte rannte schnell durch Klostergarten und Uni-Kloster zur Innstraße, rief verzweifelt um Hilfe. Studenten vor einem Pizza-Lieferservice wollten ihm helfen. Er starb, während einer ihn hielt, der andere einen Notruf absetzte. Der Stich wäre, so der Richter später, wenn überhaupt, nur auf einem OP-Tisch überlebbar gewesen. Notarzt und Polizei waren rasch vor Ort. Als das Blaulichtgewitter auch iranische Schaulustige anlockte, wurden sie befragt. Nach und nach ließ sich rekonstruieren, dass die Innstraße nicht der Tatort war. Die Auswertung der Überwachungskameras, die teils schwarz-weiße, teils farbige Einzelbilder-Serien aufzeichnen, brachte Aufschluss. Wohl vor allem deshalb, weil das Opfer eine weiße Jacke trug und der Angeklagte eine auffällige in Orange.
Der Angeklagte hatte nach dem Vorfall bei Freunden in der Asylunterkunft übernachtet. Schnell machte die Nachricht vom Tod eines der ihren die Runde. Andere wollten erfahren haben, dass der Verletzte im Koma lag. Der Angeklagte floh indes im Zug nach Wiesbaden zu einem Freund. Er vernichtete unterwegs aus Sorge vor Ortung sein Handy, rief mit dem des Freundes in Passau an, erfuhr vom Tod des Älteren.

Im darauffolgenden Morgengrauen stellte er sich auf Anraten seines Freundes der Polizei. Auch auf dem Transport, mit Dolmetscher im Auto, zur Kripo nach Passau und bei späteren Vernehmungen sprach der Angeklagte über die Tatnacht und die angebliche Vorgeschichte. Denn stets – auch über seine Anwältin und im eigenen Schlusswort – blieb er dabei: „Es tut mir wirklich ganz schrecklich leid, was passiert ist. Ich wollte ihm nur Angst machen. Ich hoffe weiter, dass seine Mutter mir verzeiht. Ich wollte nicht, dass er stirbt. Im Gefängnis habe ich nur geweint. Ich konnte nicht glauben, was ich getan habe.“
Zwei Behauptungen wird das Gericht ihm nicht abnehmen, wie der Vorsitzende Richter im Urteil klarmacht: zum einen die grobe Beschimpfung, die nicht zum Chat passt, zum anderen die Behauptung, er habe seinem Opfer nur Angst machen wollen. „Das ist Unsinn, er hat es gleich danach seinen Freunden noch anders erzählt, fast stolz. Je mehr Zeit seither vergeht, desto mehr relativiert er und steht nicht mehr dazu. Er nahm den Tod nicht nur in Kauf, sondern tötete vorsätzlich. Warum wollte er das? Der Ältere, der regelmäßig trainierte, war ihm körperlich heillos überlegen. Im Iran war der Angeklagte vom Älteren massiv beeinträchtigt worden. Was soll es da bringen, ihm mit einem Messer Angst zu machen? Da wäre der Ältere nur sauer geworden, hätte das Video erst recht veröffentlicht. Wenn der Ältere also ein Problem war, dann musste der Jüngere das Problem beseitigen. Und dazu passt dieser Stich. Das war absoluter Vernichtungswille“.
„Dann hätte er dazu stehen müssen“
Bei den Plädoyers am vierten Tag werten bereits der Staatsanwalt und die Nebenklage-Anwälte die Tat als heimtückischen Mord – und fordern lebenslänglich. Verteidigerin Narine Schulz stellt Körperverletzung mit Todesfolge dagegen, legt entschuldigendes Gewicht auf des Angeklagten vorangegangen Konsum von Wodka und Joints. Sie hält acht Jahre Haft für passend. Verteidiger Bruno Fuhs stellt – wegen der Vorgeschichte und des Rauschzustands – ebenso die Heimtücke in Frage. Er sieht Totschlag in dem Geschehen, regt „eine angemessene Strafe“ an.

Das Gericht folgt dem Staatsanwalt. Wieder halfen die Überwachungskameras weiter. Denn sie zeigen, wie sicher der Angeklagte vor, bei und nach dem Zustechen auf den Beinen war. Der Richter: „Er lief wie eine Eins. Er dachte gleich danach noch an die Tüte mit den Getränken. Er schilderte auch Tage später, was geschehen war. Er wusste die ganze Zeit das Gebot: Du sollst nicht töten. Aber was ist noch stärker als, ich darf nicht töten? Was brauche ich, um dem nicht mehr gehorchen zu können?“ Da sei nur ein tiefgreifender Affekt anerkannt. Einen solchen belege jedoch nichts.
Zudem hätte der Angeklagte Alternativen nach der ersten Begegnung mit dem Älteren in Passau gehabt. Er hätte weggehen können, nach Frankfurt, wo Verwandte leben. Er hätte bei der Polizei um Hilfe gegen die Übergriffe bitten können. Wenn also, wie der Psycho-Gutachter es für möglich hielt, Rache und das Wiederherstellen der Ehre das Motiv für das bewusst todbringende Zustechen waren, „dann überrascht das zurückrudernde Verhalten im Prozess. Dann hätte er das auf sich nehmen, dazu stehen müssen“.
Urteil ist noch nicht rechtskräftig
Der angeklagte Iraner folgt den Urteilsworten, die ihm simultan übersetzt werden, ebenso reglos und stumm, wie er sich im ganzen Prozess über gab. Er sucht immer mal den Blick seiner Freunde im Zuschauerraum. Einer gibt ihm vor dem Rücktransport ins Gefängnis sein Telefon für einen Anruf bei der Mutter. Die Polizisten lassen die Männer gewähren. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
da Hog’n