Freyung. Anja Krems‘ Ärger hat sich noch immer nicht gelegt: „Ich bin wahrlich niemand, der wegen jedem Wehwehchen zum Doktor rennt, doch in dieser Situation hätte ich einen Arzt benötigt, der mich etwas genauer untersucht.“ Die 38-jährige Freyungerin hatte über Nacht starke Halsschmerzen bekommen – und wendete sich daher in den Morgenstunden an den Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern (KVB). Doch dann entwickelten sich die Dinge anders als aus ihrer Sicht erwartet…
Aber von vorne: Vor wenigen Wochen – es war an einem Wochenende – ereilten Anja Krems akute Halsschmerzen, die zunehmend schlimmer wurden. „Der Hals war geschwollen, ich konnte kaum noch schlucken, kaum noch reden.“ Nach einer ruhelosen Nacht rief sie am Sonntagmorgen um 5 Uhr früh beim Bereitschaftsdienst der KVB an, wo sie nach einem Arzt verlangte, denn: Die Medikamente aus ihrer Hausapotheke zeigten keinerlei Wirkung.
„Das geht nicht, weil Schutzkleidung zurzeit Mangelware ist“
Um 7 Uhr erhielt sie einen Anruf desjenigen Doktors, der zu jenem Zeitpunkt Bereitschaftsdienst hatte. „Ich hab ihm mitgeteilt, dass ich große Halsschmerzen habe – woraufhin er meinte, dass ich einen Corona-Test machen muss.“ Eine Aussage, die bei ihr sogleich Unverständnis auslöste: „Warum soll ich einen Test machen, wenn ich doch nur Halsweh habe und keine weiteren coronatypischen Symptome?“ Dies sei verpflichtend, habe ihr der Arzt entgegnet. Also willigte sie ein.
Der verständigte Arzt kam um halb 9 Uhr zu ihr nach Hause, legte ihr den Test samt Röhrchen aufs Fensterbrett und blieb im Sinne der Corona-Abstandsregelung in mehreren Metern Entfernung stehen, von wo aus er ihr Anweisungen zur eigenständigen Durchführung des Corona-Tests gab. „Ich hab das Stäbchen in Mund und Nase geführt und es wieder auf dem Fensterbrett abgelegt“, erinnert sie sich. „Dann habe ich ihn gefragt, ob er sich denn meinen geschwollenen Hals etwas genauer anschauen könnte. Woraufhin er nur meinte: Nein, das geht nicht, weil Schutzkleidung zurzeit Mangelware ist und er mir deshalb nicht zu nahe treten darf.“ Die Verwunderung bei Anja Krems war groß. „Er hat mir dann noch Tropfen gegen Halsschmerzen verschrieben und mir angeordnet, dass mein Mann, meine Kinder und ich ab sofort in häuslicher Quarantäne bleiben sollen, bis das Testergebnis vorliegt. Dann ist er wieder gefahren.“
Die verschriebenen Tropfen hatte ihre Nachbarin für sie aus der Apotheke geholt. „20 Stück am Tag hatte der Doktor gesagt – geholfen haben sie mir nicht“, blickt Anja Krems zurück. „Abends um 17 Uhr habe ich dann nochmals beim KVB angerufen und erneut darum gebeten, dass ein Doktor vorbeikommt, um meinen Hals zu untersuchen – die Schmerzen wurden immer schlimmer, ich befürchtete eine Mandelentzündung.“
„So viele unnötige Stunden sind vergangen“
Um 19.30 Uhr kam ein weiterer Arzt vorbei, der gerade Bereitschaftsdienst für die KVB hatte. „Er hatte sich sogleich für die Verzögerung entschuldigt, nachdem er zwei Notfälle zu behandeln hatte“, erinnert sich die 38-Jährige. „Er trug Schutzkleidung – und nachdem er meinen Hals inspizierte hatte, hat er mir ein Antibiotikum verschrieben. Er meinte, dass das nicht nach einer Corona-Infektion aussieht.“ Um 21 Uhr abends sei ihr dann das Antibiotikum von der KVB vorbeigebracht worden, das sie sogleich einnahm.
Tags darauf rief sie ihren Hausarzt an, der eine Erhöhung der Dosis bei Antibiotikum und Tropfen verordnete – „von da an wurde es stündlich besser“. Drei Tage später erkundigte sie sich bei der KVB nach ihrem Testergebnis: Es war negativ. „Wir sind vorbereitet auf alles Mögliche – und dann kann mich ein stinknormaler Doktor nicht genauer untersuchen, nur weil er keine Schutzkleidung hat – es ist doch seine ärztliche Pflicht einen Patienten genauer anzuschauen“, ärgert sich Anja Krems noch heute.
„So viele unnötige Stunden sind vergangen, in denen ich bereits den Weg der Gesundung hätte einschlagen können. Hinzu kommt die Angst und die Ungewissheit hinsichtlich der Frage, wie das Testergebnis ausfällt“, sagt sie und ergänzt: „Ich möchte auch im Sinne der anderen, dass so etwas nicht noch einmal passiert – es hätte ja Wunder weiß Gott was sein können…“
„Wenn irgendeiner auf dem Sofa liegt und röchelt“
Wir erreichen Bereitschaftsarzt Nummer eins (Name der Redaktion bekannt) in seiner Praxis im Landkreis Passau. „Wir haben keine mangelnde Schutzkleidung – nur ist diese in der Anzahl leider immer noch begrenzt“, teilt dieser zunächst etwas ambivalent auf Hog’n-Nachfrage mit. Im Falle Krems sei zwar Schutzkleidung im Auto, das von der Firma Rettungsdienst Stadler der KVB zur Verfügung gestellt wurde, vorhanden gewesen. Er habe die Situation aus medizinischer Sicht jedoch nicht als derart akut eingeschätzt, dass er die Patientin aus der Nähe hätte untersuchen müssen – und daher auf das Anziehen der Schutzkleidung verzichtet. „Wir haben zwar Schutzkleidung, doch die nehmen wir dann her, wenn irgendeiner auf dem Sofa liegt und röchelt“, drückt er etwas drastisch aus und ergänzt: „So viel wie wir rumfahren – wenn wir da jedes Mal einen neuen Anzug anziehen, dann sind die Sachen in Nullkommanichts aufgebraucht – und dann haben wir keine mehr für die Leute, wo wir wirklich ins Haus hinein müssen. Da muss ich nach bestem Wissen und Gewissen abwägen – und klar passieren da auch mal Fehler.“
Er und seine Kollegen vom ärztlichen Bereitschaftsdienst würden aufgrund der Größe des Zuständigkeitsbereichs (die Landkreise Freyung-Grafenau und Passau) seit der Einführung des KVB-Fahrdienstes vor rund zwei Jahren „von Pontius nach Pilatus“ fahren. Die Konsequenz: „Früher kannte ich meine Patienten noch, heute aber nicht mehr.“ Früher sei es so gewesen, dass die niedergelassenen Ärzte vor Ort abwechselnd Dienst taten. Heute könne es schon mal vorkommen, dass ein Bereitschaftsarzt von Neuburg am Inn nach Philippsreut fahren muss. „Der Rekord lag bei 31 gemeldeten Patienten innerhalb von zehn Stunden. Ein gewisser Zeitdruck ist immer mit dabei.“
Wenn es nun – wie im Falle Krems – der eindringliche Wunsch des Patienten sei, vom (Bereitschafts)Arzt näher untersucht zu werden, er dies jedoch per Ferndiagnose als nicht notwendig erachte – müsse er den Patienten dann trotzdem begutachten? Die Antwort des Arztes: „Ich muss es verantworten, dass ich ihn nicht anschaue.“ Zudem ist er der Meinung: „Wenn wir all das tun, was die Patienten gerne hätten, dann wäre das etwas aufwendig.“ Er denke obendrein nicht, dass die Freyungerin einen bleibenden Schaden davongetragen habe.
Zu Anja Krems‘ Ärgernis darüber, dass sie und ihre Familie häusliche Quarantäne verordnet bekommen hatten, äußert sich Arzt Nummer eins wie folgt: „Das Bayerische Gesundheitsministerium schreibt das den Ärzten vor. Ich habe mich schon an die Ärztekammer gewandt und gesagt, dass ich nicht bereit bin, diese Quarantäne-Verordnungen auszusprechen. Doch es gibt eine Bußgeld-Androhung gegenüber denjenigen Ärzten, die sich nicht daran halten. Wenn ich den Verdacht habe, dass es Corona sein könnte, dann muss ich den Patienten in Quarantäne setzen – ebenso die Kontaktpersonen der Kategorie I.“
„Gesundheitlich beeinträchtigt“
Bereitschaftsarzt Nummer zwei ((Name der Redaktion bekannt), der an jenem Sonntagabend bei Anja Krems im Auftrag der KVB in einem ebenfalls vom Rettungsdienst Stadler bereitgestellten Auto vorbeischaute, teilt auf Hog’n-Nachfrage zunächst recht allgemein mit: Der Corona-Abstrich sei mit Schutzkleidung durchzuführen und gegebenenfalls der Zustand des Patienten zu untersuchen. Die Patientin Krems sei seiner Meinung nach „gesundheitlich beeinträchtigt“ gewesen – er habe ihr deshalb auch das Antibiotikum verschrieben: „Ich habe zu ihr gesagt: Vielleicht decken wir das doch lieber antibiotisch ab, weil es Ihnen tatsächlich nicht gut geht.“ Mehr könne und wolle er dazu nicht sagen.
„Mangelsituationen sind leider unvermeidlich“
Wir konfrontieren Michael Stahn, Pressesprecher der KVB, mit dem Fall Krems. Er teilt mit: „Für seine Handlung bzw. die medizinische Versorgung des Patienten ist ausschließlich der Dienst habende Arzt im Bereitschaftsdienst verantwortlich. Dieser entscheidet auch über die Vorgehensweise im jeweiligen Einzelfall. Schutzausrüstung für die Ärzte im Hausbesuchsdienst ist vorhanden. Die Aussage (Arzt Nummer eins könne keine genauere Untersuchung am Patienten aufgrund mangelnder Schutzkleidung durchführen – Anm. d. Red.) ist daher für uns nicht nachvollziehbar.“ Stahn betont, dass alle diensthabenden Ärzte im Hausbesuchsdienst mit entsprechender Schutzkleidung seitens der KVB ausgestattet seien. „Allerdings: Generell sind vorübergehende Mangelsituationen in Bezug auf die Schutzausrüstung in einer weltweiten Pandemiesituation leider unvermeidlich.“
Stephan Hörhammer