Neureichenau. Sie sitzt seit zwölf Jahren im Gemeinderat und engagiert sich seit ihrem 15. Lebensjahr politisch. Nun hat es die 32-jährige Kristina Urmann auf den Bürgermeistersessel der Gemeinde Neureichenau geschafft. Im großen Hog’n-Interview erklärt sie drei Monate nach der Wahl, was sie in den nächsten sechs Jahren auf die Beine stellen möchte, welche Projekte sie als erstes in Angriff nimmt – und ob sie sich vorstellen kann, so lange die Chefin im Rathaus zu bleiben wie das Neureichenauer „Urgestein“ Alfons Hellauer, der das Amt 33 Jahre lang prägte.
Kristina Urmann ist der Meinung, dass es nicht überbetont werden sollte, dass sie eine von zwei Frauen ist, die es im Landkreis Freyung Grafenau zur Rathaus-Chefin gebracht haben. Sie möchte, dass die Inhalte ihrer Politik die Hauptrolle spielen, nicht ihr Geschlecht. Deshalb verzichten wir im Interview auch ganz bewusst auf jegliche Geschlechterfragen – und konzentrieren uns auf die Kommunalpolitik.
„Die Bürger sollen sehen, dass sich etwas rührt“
Frau Urmann: Ihr Wahlkampf war sehr modern, mit Facebook-Livegesprächen beispielsweise. Heißt das, dass die Gemeinde Neureichenau mit Ihnen als Bürgermeisterin ins Social-Media-Zeitalter startet?
Ja, genau. Wir wollen die Nutzung unserer Facebook- und Instagram-Kommunikationsmöglichkeiten weiterführen. Wir wollen alles, was mit Digitalisierung und Social Media zusammenhängt – beispielsweise auch unsere Homepage oder eine Bürger-App – nutzen, um die Menschen in der Gemeinde über diese Wege zu erreichen.
Sie wollen die Bürger in allen Bereichen stark beteiligen. Macht das Ihre Arbeit als Bürgermeisterin nicht kompliziert, wenn alle mitreden dürfen?
Es ist wichtig, dass man viel kommuniziert und abspricht, dass man die Leute mit ins Boot holt. Ich denke nicht, dass es die Arbeit schwieriger macht. Denn wenn man viel kommuniziert, weiß jeder Bescheid. Dann sind Sachverhalte von vornherein geklärt, die sonst irgendwann aufkommen und zu Problemen führen könnten.
Im Hog’n-Interview vor der Wahl sagten Sie, dass Sie eine Aufbruchstimmung in der Gemeinde erzeugen wollen. Ganz konkret: Wie packen Sie das nun an?
Die Bürger sollen in allen Bereichen sehen, dass etwas weitergeht. Es wurden viele Projekte bereits gestartet. Jetzt müssen wir sie umsetzen. Beispiel Kindergarten: Hier hatten die Planungen bereits vor der Wahl begonnen. Nun wird ein Haus für die Wald-und-Wiesen-Gruppe entstehen. Und auch im vorderen Teil des Kindergartens ist der Bedarf da anzubauen.
Der Spatenstich für das Feuerwehrhaus in Altreichenau ist ebenfalls bereits erfolgt. Die Umgestaltung der Schullandschaft ist ein weiteres Großprojekt, das momentan läuft. Hinzu kommt die Tourismus- und Gemeindeentwicklung mit Homepage und Imagekampagne. Aber wir müssen auch neue Punkte in Angriff nehmen, die die Leute bewegen. Damit sich was rührt. Das sind alles Einzelbausteine, die wir jetzt nach und nach abarbeiten werden.
„Ich lege mehr Wert auf Digitalisierung“
Ganz generell: Was sind Ihre Visionen für die Gemeinde Neureichenau? Was soll sich in den nächsten sechs Jahren verändern?
Das Dorfleben ist mir wichtig. Die Leute halten bei uns ja ohnehin zusammen – und daraus ergeben sich die besten Projekte. Das kann man beispielsweise in Altreichenau beobachten, wo das Dorffest von den Vereinen gestemmt wird. Hier spielt eine wichtige Rolle, dass man als Bürgermeister dahintersteht und schaut, dass alles läuft und aufeinander abgestimmt ist.
Ihr Vorgänger, Walter Bermann, war ein recht erfolgreicher und angesehener Bürgermeister. Er ist weiterhin in der Gemeinde aktiv, etwa im Vorstand des Waldvereins. Wie groß bleibt sein Einfluss in der Gemeinde?
Da gibt es immer Berührungspunkte. Bei der Einarbeitung bin ich ihm dankbar, dass er zur Verfügung steht. Es wäre für mich das Schlimmste gewesen, an einen leeren Schreibtisch zu kommen – oder wenn es geheißen hätte: Schau mal, wie du zurecht kommst. Wir hatten eine geordnete Übergabe, sind bei den einzelnen Projekten den Stand der Dinge durchgegangen – und wenn ich Fragen habe, dann steht er jederzeit bereit.
Gibt es irgendetwas, das Sie komplett anders machen möchten als ihr Vorgänger?
Jeder hat natürlich seine eigene Handschrift, das liegt in der Natur der Sache. Ich lege unter anderem mehr Wert auf Digitalisierung. Jeder Bürgermeister hat seine eigenen Schwerpunkte und Vorgehensweisen.
„Es muss immer ein Miteinander sein“
Im Wahlkampf haben Sie eine große Stärke bewiesen: das Netzwerken. Wer muss unbedingt noch rein in Ihr Netzwerk, wohin wollen Sie Kontakte knüpfen?
Es ist in allen Bereichen wichtig Kontakte zu knüpfen beziehungsweise sich kennen zu lernen. Ich finde es wichtig sich persönlich zu kennen. Das Digitale ermöglicht zwar vieles, doch der persönliche Kontakt ist sehr wichtig. Bei allen bereits laufenden Projekten sind es die Planer, die ich treffe.
Mit Gudula Lermer vom Forstbetrieb hat bereits ein Treffen stattgefunden. Mit Dr. Stefan Schaffner vom Amt für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, hatte ich bereits Kontakt. Auch das Amt für ländliche Entwicklung ist wichtig für uns. Und natürlich braucht es breitgefächerte Kontakte innerhalb der Gemeinde. Das ist mir überaus wichtig, dass man sich hier kennt und ein Netzwerk aufbaut.
Warum ist die ILE Abteiland so bedeutend für Neureichenau? Hier gab es ebenfalls bereits ein Treffen.
Weil wir in diesem Verbund viele Synergien nutzen können. Das ist von Belang für die Abstimmung untereinander – dies hat man beim Projekt „von Fluss zu Fluss“ gesehen, das gut umgesetzt wurde. Es gibt in diesem ILE-Verbund Gemeinden mit gemeinsamen Interessen. Es ist klar, dass nicht jedes Thema alle betrifft. Doch der Austausch ist entscheidend. Es muss immer ein Miteinander sein: Im Landkreis, in der ILE Abteiland. Das ist das A und O.
Alle Schüler sollen in den Genuss von Lernlandschaften kommen
Eines der ersten großen Projekte, das Sie in Angriff nehmen, ist die Umstrukturierung der gemeindlichen Schullandschaft. Kurz zusammengefasst: Was wird hier in den nächsten Jahren passieren?
Der Mittelschulstandort soll generalsaniert, das Konzept der „LernLandSchaften“ integriert werden. In diesem Zuge sollen die Grundschulen in Altreichenau und Lackenhäuser an den Mittelschulstandort nach Neureichenau verlegt werden. Die Prüfung, ob dies grundsätzlich möglich wäre, ist abgeschlossen. Nun werden die Konzepte ausgearbeitet, damit eben alle Schüler in den Genuss der Lernlandschaften kommen.
Was genau versteht man unter „Lernlandschaften“?
Das ist ein Konzept, bei dem unterschiedliche Lernformen ermöglicht werden. Die Eigenmotivation zum Lernen soll dabei gestärkt werden. Der Lehrer hat bessere Möglichkeiten zur Unterrichtsgestaltung. Er kann Kleingruppen für Gruppenarbeiten organisieren, Frontalunterricht abhalten oder die Schüler im Eigenstudium lernen lassen. Wenn man in solche Schulen, wie wir sie uns angeschaut haben, hineingeht, hat man das Gefühl, in einer Wohnlandschaft zu sein. Pädagogisch ist vieles einfacher möglich, die Räume ermöglichen das.
Das heißt, es gibt dann keine räumliche Trennung von Mittel- und Grundschule mehr?
Doch, das schon. In der Grundschule gibt es etwa ein Cluster von erster und zweiter Klasse, bei dem man sich einen sog. Marktplatz teilt. Jede Klasse hat ihr Klassenzimmer, aber es gibt mehrere Flächen, die gemeinsam genutzt werden und wo es möglich ist, dass die Klassen zusammenkommen – je nachdem, wie’s passt.
Mit dem neuen Lehrplan Plus soll viel Praxisarbeit gemacht werden. Ich kann mich erinnern, als wir uns eine Schule mit Lernlandschaften angeschaut haben, hat eine höhere Klasse einer kleineren Klasse einen Würfel gebaut, um dann Flächen und Maßeinheiten miteinander durchzunehmen. Die Basics dafür sind bei den Lernlandschaften vorhanden. Wir haben im Kindergarten ja auch die Reggio-Pädagogik.
Was bedeutet Reggio-Pädagogik?
In unserem Kindergarten gibt es morgens den Stuhlkreis für die Kinder, danach können sie sich im Haus frei bewegen. Es gibt einen Raum für Kreatives, einen Raum fürs Werken, einen Raum für Forschungen usw. Die Kinder gehen in den Raum, in dem sie etwas machen möchten – nicht nach Gruppen und Alter unterteilt, was auch beim Kindergartenanbau entsprechend fortgeführt wird.
Das heißt: Den Umbau der Schullandschaft sehen Sie positiv. Aber hat es wirklich keine Nachteile, die momentan vorhandenen Grundschulstandorte Lackenhäuser und Altreichenau aufzugeben?
Es wurden von Anfang an alle Beteiligten mit ins Boot geholt: Schulleitung sowie Mittelschul- und Grundschullehrer, Nachmittagsbetreuung, Elternbeirat, Kindergarten und Gemeinde. Am Anfang des Weges stand noch völlig offen, in welche Richtung es gehen wird. Karin Doberer, die Begründerin des Lernlandschafts-Projekts, hat den Satz geprägt: Wir müssen die Mauern in unseren Köpfen niederreißen.
Es stand nicht der Raum oder das Gebäude im Vordergrund, sondern die Pädagogik und wie diese bestmöglich umgesetzt werden kann. Während dieses Prozesses stellte sich dann heraus, dass die Umsetzung an einem Standort, an dem die Grundschüler ihren „Schutzbereich“ erhalten, die sinnvollste Lösung ist. Eine Aussage, die sich dazu bei mir eingeprägt hat: Das Herz der Grundschulen geht ja mit in ein neues Gebäude – durch die Lehrkräfte, die die Grundschulen zu dem machen, was sie sind.
Dreisessel: „Besucherlenkung ist ein großes Thema“
Zweites großes Thema ist der Tourismus. Durch Corona natürlich schwer getroffen – aber für unsere Region auch eine Chance?
Ja, das sehe ich so. Auf jeden Fall muss das, was wir haben, wieder aufgefrischt werden. Der Stausee ist ein Beispiel: Hier müssen wir alle Beteiligten zusammenholen und gemeinsam besprechen, welche Änderungen wir machen können. Auch mit den Fischern, die dort sehr wichtig sind.
Es war im Gespräch, den gesamten Strand- und Uferbereich zu verändern…
Eine Einstiegshilfe wurde gemacht. Doch große Veränderungen gab es damals nicht. Das ist ein Projekt, das wir in Vorbereitung auf den nächsten Sommer anschieben möchten. Wanderwege sind natürlich immer ein Thema, die vor allem nach den Stürmen in letzter Zeit in Schuss gehalten werden sollen. Wir möchten ein Kernwegenetz definieren, was für die Urlauber auch interessant ist.
Ein vieldiskutiertes Thema in der Gemeinde und im gesamten Landkreis ist der Dreisessel. Der Kreistag hat jetzt die Schrankenlösung beschlossen. Sind Sie zuversichtlich, dass dadurch der Ansturm auf den Berg geregelt wird?
Mit der Schranke wird es sicherlich Veränderungen geben. Aber ich denke, dass noch mehr nötig ist. Wir haben bereits von der Begehung aus Richtung Lackenhäuser gesprochen, damit man das Ganze etwas entzerren kann. Besucherlenkung ist ein großes Thema – ähnlich wie im Nationalpark. Es geht um die Frage, wie man es schafft, die Besucher zu verteilen und das Naturschutzgebiet droben am Berg zu sichern. Es gibt im Juli wieder ein Treffen mit allen Beteiligten.
Im Sommer wird aufgrund der Corona-Pandemie mit einem Ansturm auf den Bayerischen Wald gerechnet. Wie ist Ihre Einschätzung: Ist dies positiv für den Tourismus zu werten – oder eher negativ für die Natur?
Beides soll idealerweise im Einklang sein. Es liegt an uns niemanden zu verprellen, der zu uns zum Urlaub machen kommt. Das wäre das Letzte, was wir wollen. Dabei wichtig ist, die weiteren Angebote in der Region aufzuzeigen. Damit die Leute wissen, was es hier neben dem Dreisessel noch so alles gibt.
Neureichenauer Mitte: „Ein Platz, wo Leute zusammenkommen“
Ein weiterer Brennpunkt in der Gemeinde ist der zentrale Platz in Neureichenau, über den auch im Wahlkampf bereits viel gesprochen wurde. Momentan wird er nur als Parkplatz genutzt. Wie geht es mit der „Neureichenauer Mitte“ in nächster Zeit weiter?
Das ist ein Thema, das ich gemeinsam mit dem Gemeinderat angehen muss. Die Vorstellungen aus unserem Wahlkampf sind bekannt: Wir haben gesagt, es soll ein Platz sein, wo die Leute zusammenkommen. Den wir nicht zubauen, an dem vielleicht ein Multifunktionsgebäude entsteht. Behindertengerechte Toilettenanlagen soll es geben.
In einem ersten Schritt wollen wir schauen, dass ein kleiner Ausschank ermöglicht wird– zum Beispiel beim Maibaumaufstellen. Dass man einen Raum hat, den man aufsperren kann und den die Vereine nutzen können, um zum Beispiel Getränke und Brezen zu verkaufen. Es gibt ja viele Veranstaltungen in der Gemeinde, für die der Platz entsprechend genutzt werden soll, etwa den Tag des Sports. Für den Winter wär’s schön, wenn man dort eine Eislaufbahn aufstellen könnte. Da sind wir dran, aber das ist durch Corona momentan schwierig – vor allem in Sachen Veranstaltungen.
In diesem Bereich gibt es ja den immer noch recht jungen PARTEE-Verein, der so einiges auf die Beine stellen möchte. Ist hier eine Zusammenarbeit geplant?
Die machen sehr gute Arbeit. Sie sind jetzt in Corona-Zeiten digital unterwegs. Hier soll es auf jeden Fall Gespräche geben. Ich kenne die Leute, die bei PARTEE dabei sind, und würde mich sehr gerne mit ihnen eingehender über das ein oder andere, was in der Gemeinde machbar ist, unterhalten.
Wir haben Kinder- und Jugendbeauftragte gewählt, auch mit ihnen stehen Gespräche an. Es läuft alles Schritt für Schritt, man kann nicht innerhalb von ein paar Wochen alles schaffen, das ist klar. Aber sie werden entsprechend mit eingebunden – und haben auch selbst schon erste Ideen.
„Wäre schön, über längere Zeit etwas weiter zu entwickeln“
Ein Altreichenauer, der sich auf Facebook „Der Mann vom Fensterbrett“ nennt, hat vor der Wahl dort geschrieben, er wünsche sich eine langfristige Lösung auf dem Bürgermeisterposten. Alfons Hellauer war ja 33 Jahre lang Bürgermeister der Gemeinde. Könnten Sie sich vorstellen, so lange Bürgermeisterin zu bleiben?
Wenn meine Energie so lange reicht – bestimmt (lacht). In den ersten Wochen habe ich mich wirklich wohl gefühlt, es macht Spaß. Ich freue mich jeden Tag darüber, dass ich es geschafft habe. Man sieht in der Gemeindepolitik: manche Sachen brauchen ihre Zeit. Allein bei den Baumaßnahmen wird sich das ein oder andere über die nächste Periode hinstrecken. Da wäre es natürlich schön, wenn man über einen längeren Zeitraum etwas weiter entwickeln kann.
Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben. Alles Gute.
Interview: Sabine Simon