Freitag, 08. Mai: Ich sitze im Garten und höre Kinder lachen. Meine eigenen – und ihre Spielkameradin. Dass es mehr als sieben Wochen her ist, seit wir sie zuletzt getroffen haben, ist kaum zu glauben. Innerhalb weniger Minuten ist alles „wie früher“. Ich persönlich finde es wichtig und schön, dass wir nun sehr viel mehr Eigenverantwortung im Hinblick auf soziale Kontakte bekommen. Ich werde aber sehr behutsam mit der neuen Freiheit umgehen. Und die Spielkameradin wird vorerst die einzige sein, die uns besuchen kommt.
Einen Tag, nachdem der Kindergarten zumachen musste, hatte uns die Enkelin unserer Nachbarn zuletzt besucht. Dann beschlossen wir – noch vor den Ausgangsbeschränkungen – unsere Kontakte auf die engste Familie zu reduzieren. Jüngst hat Ministerpräsident Markus Söder verkündet, dass es ab heute auch in Bayern wieder möglich ist, nicht nur eine Person zu treffen, sondern alle Personen aus einem Hausstand. Ab Montag dürfen sich bis zu drei Familien zusammenschließen und ihre Kinder in festen Kleingruppen gemeinsam betreuen.
Weiterhin geltende Kontaktbeschränkungen haben ihren Grund
Nach so langer Zeit ohne ihre besten Freunde ist das für Kinder wunderschön. Und auch ich freue mich, dass meine Jungs jetzt nicht mehr nur unter sich sind. Dass ihnen der Kindergarten fehlt, dass sie die anderen vermissen, wird oft deutlich.
Als ihre Freundin zum ersten Mal nach langer Zeit ihre Großeltern besuchen durfte, standen meine Zwillinge im Garten und schauten rüber zum Nachbargrundstück. Dass ihre Spielkameradin dort drüben ist, hatten sie sofort mitbekommen. Aber sie durfte noch nicht zu ihnen kommen. Die Kinder riefen sich „Hallo“ über die Wiese hinweg zu. Einer der Momente, in denen ich Virus, Krankheit und Pandemie am liebsten zum Mond hätte schießen wollen…
Doch leider habe ich keine Superkräfte. Und deshalb werden die sozialen Kontakte meiner Familie vorerst auch weit weniger abwechslungsreich bleiben als vor zwei Monaten: Der Kindergarten öffnet schrittweise, vorerst noch nicht für meine Kinder. Und auch zu Hause werden wir nur ab und zu jemanden treffen.
Denn dass Kontaktbeschränkungen weiter gelten, hat seinen Grund. Und mir persönlich leuchtet dieser nach wie vor ein. Ganz anders sehen das jedoch offenbar einige Leute um mich herum. In den sozialen Netzwerken zweifeln sie alles an: die Gefährlichkeit des Virus, den Sinn von Maßnahmen gegen seine ungezügelte Ausbreitung. Und dass Politiker uns mit diesen Maßnahmen vor größerem Schaden schützen wollen. Etliche trauen ihnen zu, dass sie nur ihre Macht bis ins Unendliche ausdehnen möchten.
Was bedeutet „Eigenverantwortung übernehmen“?
Als in den vergangenen Tagen immer vehementer gefordert wurde, die Regierung solle dem Einzelnen nun endlich wieder mehr Eigenverantwortung übertragen, habe ich mir Gedanken gemacht: Fühlen die Menschen sich dann nur für sich selbst verantwortlich oder auch für die anderen? Nachdenklich macht mich, dass ich derzeit von allen Seiten höre und lese: „Wir müssen jetzt endlich zurück zur Normalität.“ Diejenigen, die Angst vor dem Virus haben, sollten doch bitte daheim bleiben – und alle anderen könnten doch machen, was sie wollen.
Wenn Politiker an die Menschen appellieren, ihre sozialen Kontakte trotz gelockerter Regeln weiterhin zu begrenzen, dann hat das einen ganz einfachen Grund: So lange nachvollziehbar bleibt, wen ein Infizierter angesteckt haben könnte, bleibt abschätzbar, wie schnell sich das Virus verbreitet. Kehren wir von jetzt auf gleich zurück zur „Normalität“, beginnt die Kettenreaktion von vorne.
Manche scheinen das einer noch länger andauernden Einschränkung ihrer Freiheit vorzuziehen. Und genau daher rührt die Vorsicht derjenigen, die in diesem Land die politische Verantwortung übernommen haben: Was machen die Menschen nun? Was bedeutet „eigenverantwortlich“ handeln für sie? Tun nun alle das, was sie selbst für richtig halten? Oder was sie für sich selbst für richtig erachten? Grundlegende Einigkeit über die Grundlinien der Politik scheint es dieser Tage nicht mehr zu geben. Dafür jede Menge Konkurrenz-Wahrheiten.
„Nichts ist, wie es scheint“
„Wenn Gesellschaften sich nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist, können sie auch die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts nicht meistern“, zitierte die Süddeutsche Zeitung vor ein paar Tagen den Buchautor Michael Buttler. In seinem Buch „Nichts ist, wie es scheint“ sehe er Indikatoren für eine tieferliegende Krise demokratischer Gesellschaften. Ich hoffe sehr, dass wir diese Krise gemeinsam überstehen…
Sabine Simon