Mittwoch, 6. Mai: Für den Junior gab es – praktisch als Begrüßungsgeschenk – heute eine Banane und ein gekochtes Ei. Dinge, die bei meinen Großeltern nur zu besonderen Anlässen für meinen Sohn (knapp 2) aufgetischt werden. Feiertagsstimmung. Die Zeiten, in denen wir Oma und Opa lediglich winkend am Fenster stehen sahen, sind wohl vorerst vorbei. Die Lockerung der Ausgangsbeschränkung, die Ministerpräsident Markus Söder jüngst verkündet hatte, erlauben es Familienangehörige wieder zu besuchen. Nur ein kleiner Schritt für uns alle zurück in die Normalität – ein großer Schritt für unsere Senioren, die zuletzt sehr einsam waren. Langsam aber sich nähern wir uns also der „neuen“ Freiheit wieder an.
Die Reaktionen auf die deutlich größere Bewegungsfreiheit waren zunächst einmal von Erleichterung geprägt – bei mir, in meinem Umfeld, in den sozialen Medien, überall. Endlich werden die vielen Sonderregeln, die die Regierung aufgrund der rasanten Ausbreitung des Coronavirus verhängt hatte, weniger. Das Joch der Ver- und Gebote wird somit erträglicher. In mir hatte sich nach der Verkündigung gestern Mittag deshalb eine Art Euphorie breit gemacht. Was mache ich mit der neuen Freiheit? Klappt’s vielleicht doch noch mit dem geplanten Urlaub heuer? Wen von meiner Familie soll ich denn nun zuerst besuchen? Fragen wie diese setzten sich in meinem Kopf fest – und beschäftigten mich bis zum Bettgehen. Ich fühlte mich irgendwie an die erwartungsschwangeren Vorabende meiner Geburtstage in Kindheitstagen erinnert.
Fragen über Fragen, die mich seit gestern begleiten
Irgendwann aber stellte sich eine Art Verunsicherung ein – wie so oft in den vergangenen Corona-Tagen und -Wochen. Die neuen Möglichkeiten – schön und recht. Doch was ist, wenn die Zahlen der Infizierten und Todesfälle in absehbarer Zeit wieder ansteigen? Was, wenn unsere Großeltern, die eindeutig zur Risikogruppe gehören, doch noch erkranken? Sorgt eine mögliche zweite Welle dafür, dass die aktuelle Freude nur von kurzer Dauer sein wird? Fragen und Gedanken, die mich heute beschäftigten – mehr, als mir vielleicht lieb ist.
Damit einher geht also eine gewisse Besorgnis, wie ich mit der „neuen“ Freiheit überhaupt umgehen soll. Wie bereits im Rahmen des Tagebuches berichtet, hat sich bei mir mittlerweile eine „unnormale Corona-Normalität“ herauskristallisiert. Ich habe einen alternativen Alltag entwickelt – mühsam, aber dann doch mit durchschlagendem Erfolg. Und nun soll ich mich schon wieder umstellen? Freilich: Eigentlich Luxusprobleme – aber wer hat nicht gewisse Eigenheiten und Marotten, auf die er nur ungern verzichten möchte? Das Leben einfach mal wieder umzukrempeln, wie oft gesagt wird, ist so leicht nicht. Oder doch? Bin ich schon durchgedreht? Nicht mehr normal?
Die Zahnräder in meinem Oberstübchen rattern – eigentlich keine neue, aber in Corona-Zeiten doch deutlich verstärkte Tätigkeit. Und wie so oft in diesem Frühjahr habe ich genügend Zeit, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Denn Söders Fahrplan sieht ja vor, dass der „Exit“ erst nach und nach vollzogen werden soll. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass – wie so oft im Frühjahr 2020 – mein eingesetztes Hirnschmalz vergebene, ja vergeudete Liebesmüh ist. Es bleibt uns wohl ohnehin nichts anderes übrig, als die Dinge auf uns zukommen zu lassen – und das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen…
Helmut Weigerstorfer