Montag, 27. April: Nun sind tatsächlich schon sechs Wochen vergangen, seit ich meinen allerersten Eintrag für das Hog’n-Corona-Tagebuch verfasst habe. Sechs Wochen, die wir zu einem sehr großen Teil zu Hause verbracht haben. Im Homeoffice, ohne Kindergarten. Für mich persönlich sind sie wie im Flug vergangen. Aber immer öfter höre und lese ich von Menschen, die es schlicht und einfach kaum mehr aushalten. Sie sehnen sich nach Normalität. Doch: Wie wird sie aussehen? Wann ist sie wieder da? Kommt sie überhaupt zurück?
In fast jedem Gespräch taucht die Frage nach dem „Wann?“ auf. Wann enden die Ausgangsbeschränkungen? Wann öffnet der Kindergarten wieder? Wann müssen oder dürfen wir zurück ins Büro, raus aus dem virenfreien Homeoffice? Damit eng verbunden ist die Frage, welche Folgen etwaige Lockerungen der Corona-Maßnahmen haben werden? Ich mache mir täglich darüber Gedanken. In meinem Kopf streiten sich Optimist, Pessimist und Realist darüber, wer denn am Ende Recht haben wird…
Wird alles bald besser als zuvor?
Der Optimist in mir sieht die Krise – und das, was aus ihr entstehen könnte – durchaus positiv: Wenn es nach ihm geht, wird es kein Zurück zu alter Normalität geben. Stattdessen eine Veränderung der Gesellschaft (und zwar global). Wie diese nach Corona aussieht? Ein Grundeinkommen wird eingeführt, keiner muss sich um seine Existenz sorgen. Trotzdem arbeiten alle in ihrem Job weiter, allerdings um ein Vielfaches entspannter und „entstresster“. Die arbeitende Bevölkerung steht nicht mehr kurz vorm Burnout. Arbeitgeber begreifen, dass ihre Mitarbeiter in flexiblerer Arbeitszeit genauso viel leisten wie an einem Arbeitstag von 8 bis 17 Uhr mit Anwesenheitspflicht im Büro.
Wir finden zurück zu Familienformen, in denen viele zusammen wohnen, Kinder erziehen, sich gegenseitig helfen. Kindergärten sind ein Ort, an dem die Kleinen ihre Freunde treffen, miteinander spielend lernen – und keine Aufbewahrungsstätten, damit möglichst alle Erwachsenen Vollzeit arbeiten können.
Doch wie ist diese Veränderung der Gesellschaft möglich? Der Optimist in mir sagt: Die Krise macht den Menschen bewusster, was wirklich wichtig ist. Viele wollen weg von reiner Marktorientierung und dem ständigen „Höher, Schneller, Weiter“. Um die ausgetretenen Wege zu verlassen, halten alle zusammen.
Die Zukunftsvision des Optimisten: Wir greifen nicht zu altbewährten bürokratischen oder marktkonformen Lösungen, sondern denken auch mal quer. Wir finden gemeinsam einen Weg zu einer gesellschaftlichen Kommunikationsform, in der jeder seine Sorgen äußern kann und darf – daraus entwickelt sich jedoch kein hitziger Diskurs, sondern eine kollektive Suche nach weitreichenden Lösungen.
Der Pessimist malt sich das Worst-Case-Szenario aus
Der Pessimist in mir sagt: Diese Kommunikation wird es nicht geben. Stattdessen werden die Diskussionen in den sozialen Medien immer ungehemmter, immer explosiver geführt: Freiheitsverteidiger und Lebensretter zerfleischen sich gegenseitig – werfen den jeweils anders Denkenden vor, alles falsch einzuschätzen und zu entscheiden.
Die Leistungsgesellschaft wird bald weitermachen, als hätte es das Coronavirus überhaupt nicht gegeben. Der Stillstand hat ausgedient – alle Maßnahmen, um das Virus einzudämmen, werden zügig aufgegeben. Der Ausdruck „mit Augenmaß“ wird zur leeren Phrase. Stattdessen öffnen Schulen, Kitas und Restaurants schnell wieder ohne Einschränkungen, die Unternehmen produzieren wie gewohnt. Denn nach jeder Lockerung einer Maßnahme fühlen sich etliche andere ungerecht behandelt – man findet nach und nach für alles Argumente, gewisse Beschränkungen wieder aufzuheben. Es bleibt zwar der Appell an den Einzelnen, so wenig Leute wie möglich zu treffen – aber wie soll das gehen? Die Mühlen der Leistungsgesellschaft drehen sich schließlich wieder auf vollen Touren – und wer nicht einsteigt, fällt durchs Raster.
Der Pessimist in mir sieht das Worst-Case-Szenario kommen: Das Coronavirus breitet sich in einer zweiten Welle weit stärker aus. Auch in Deutschland sind dann Kliniken überlastet. Die Generation der über 80-Jährigen verstirbt innerhalb eines Jahres. Darin sehen viele auch „positive“ Seiten: keine vollen Altenheime mehr, kein Pflegenotstand mehr, Rentner liegen den jungen Steuerzahlern nicht mehr auf der Tasche. In diesem Worst-Case-Szenario sind sich plötzlich alle einig: Die „Corona-Toten“ wären doch in naher Zukunft sowieso gestorben…
Von beiden Extremen etwas dabei?
Pessimist und Optimist werden beide nicht recht behalten – da bin ich mir sicher. Die Zukunftsvision, die ich derzeit für realistisch halte: Wir finden einen Weg, die Infektionsgefahr in den Griff zu bekommen – ohne strenge Ausgangsbeschränkungen. Jeder Einzelne achtet darauf, dass er jederzeit nachvollziehen kann, wen er getroffen hat. Infektionsketten bleiben überschaubar. Das Thema Hygiene wird wichtiger. Wir leben damit, dass alles langsam wieder anläuft, dass erstmal nicht alle alles dürfen. Trotzdem wird es für lange Zeit eine große Gruppen von Menschen geben, die sich benachteiligt fühlt. Und es wird Monate dauern, bis wir zu einer Art „Normalität“ zurückgekehrt sind.
Nachdem ein Impfstoff gefunden ist, werden sich viele darüber freuen. Andere werden eine Impfung strikt verweigern. Doch am Ende werden genügend Leute (ohne Schäden) geimpft. So zumindest meine Zukunftsvision. Corona hat dann seinen Schrecken verloren. Und die Welt vergisst vieles, was sich in diesem seltsamen Jahr 2020 zugetragen hat, recht schnell wieder – und lebt weiter wie gewohnt. Bis die Natur eine Umweltkatastrophe bereit hält, die tatsächlich schlimmere Folgen als beide Weltkriege zusammen mit sich bringt…
Sabine Simon