Freyung. „Wir haben ein bauähnliches Gewerbe angemeldet, sind gleichgestellt mit allen anderen Firmen“, berichtet Paul Rammelmeyr, erster Vorsitzender des sozialen Beschäftigungsvereins „Chance für Jeden“ (CFJ), der mittlerweile seit fünf Jahren existiert. „Manche haben den Eindruck, dass wir aufgrund von Zuschüssen und Förderungen billiger arbeiten könnten. Das ist ein Irrglaube. Der einzige Vorteil, den wir gegenüber anderen haben, ist die Steuervergünstigung. Unsere Rechnungen weisen sieben statt 19 Prozent Mehrwertsteuer aus. Ansonsten herrschen die gleichen Bedingungen bei den Sozialabgaben, bei der Berufsgenossenschaft etc.“

Paul Rammelmeyr ist seit fünf Jahren ehrenamtlicher Geschäftsführer und erster Vorsitzender des sozialen Betreuungsvereins „Chane für Jeden“ (CFJ).
Das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, ist bei dem 68-jährigen Grafenauer auch nach einem halben Jahrzehnt ehrenamtlichen Engagements noch nicht ganz verschwunden. Sein Einsatzwille dafür, dass langzeitarbeitslose Menschen mit Mehrfachbelastung wieder eine Möglichkeit zur Beschäftigung haben und dadurch wieder eine Perspektive im Leben erlangen, ist jedoch nach wie vor ungebrochen, wie er im Gespräch mit dem Onlinemagazin da Hog’n verdeutlicht.
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Herr Rammelmeyr: Im ersten Teil unseres Gesprächs haben Sie die Unterbringung von Langzeitarbeitslosen mit Mehrfachbelastung in „geschützten Einrichtungen“ gefordert. Was verstehen Sie darunter konkret?
Der sog. Zweite Arbeitsmarkt spielt hier eine entscheidende Rolle. Ich spreche von Einrichtungen wie „Chance für Jeden“, in denen die Leute von früh bis spät die Möglichkeit zum Arbeiten haben – und zwar ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend. Der Staat müsste dafür Geld in die Hand nehmen – und Sozialpädagogen sowie Handwerker mit sozialer Prägung als Betreuungspersonal einstellen.
„Es wird viel Geld verplempert für jeden Mist“
Die zu Betreuenden sollen dann entscheiden, wie lange sie arbeiten wollen – egal, ob sie am Ende zwei oder sieben Stunden etwas getan haben. Doch sie müssen in jedem Falle acht Stunden anwesend sein – das wäre wichtig. Für ihre Arbeit sollen sie freilich auch bezahlt werden. So schafft man’s, sie wieder an das Thema Erwerbstätigkeit zu gewöhnen, ihnen Struktur zu geben.
Häufig geht die Meinung um: Sobald die Langzeitarbeitslosen mit Mehrfachbelastung ihr erstes Geld verdient haben, versaufen sie es. Doch das entspricht meiner Erfahrung nach überhaupt nicht den Tatsachen. Sie kaufen sich keinen Schnaps, sondern Besonderheiten wie Schokolade oder ein neues Hemd, die sie sich sonst nicht leisten würden.
Wie sehr belasten Sie die Einzelschicksale, mit denen sie tagtäglich im Rahmen von „Chance für Jeden“ zu tun haben, persönlich?

Arbeitsintegrationsmaßnahmen wie das einstige Caritas-Projekt ARBEUS, sind aus Paul Rammelmeyrs Sicht „hinaus geschmissenes Geld“. Foto: Archiv KAB
Mir tun die Menschen leid, weil sie keine Chance hatten – weil es am Geld gelegen hat, dass sie heute nicht mehr am Leben sind (gemeint sind drei ehemalige, vom Betreuungsverein der Caritas betreuten Bewohner eines Hauses im Freyunger Rachelweg, die innerhalb der letzten beiden Jahre dort verstorben sind – Anm. d. Red.). Es wird viel Geld verplempert für jeden Mist, etwa für befristete Arbeitsintegrationsmaßnahmen wie ARBEUS. Das war zum Fenster hinaus geschmissenes Geld. Die Leute können nicht auf drei oder sechs Monate in den Arbeitsmarkt integriert werden. Der eine benötigt fünf Jahre, der andere kommt nie raus aus seinem Teufelskreis – doch Arbeit braucht jeder Mensch. Und jeder will auch arbeiten, weil ein regelmäßiger Job ihnen Selbstbewusstsein, Würde und Sinn im Leben verleiht.
Ich darf meine Arbeiter auch mal kritisieren, wenn sie ihre Aufgaben gar nicht oder nicht zufriedenstellend bewältigen. Doch gleichzeitig versuche ich auch zu erkennen, was sie gut gemacht haben – und wenn’s auch noch so wenig ist. Ich versuche, sie nicht zu demoralisieren, sondern zu bestärken. Das kann sich aber keine Firma leisten, das kann nur der Staat machen, wenn er diesen Zweiten Arbeitsmarkt schafft. Die Leute müssen in einem der Arbeitswelt möglichst nahe kommendem Umfeld betreut werden. Nicht wie früher im Sinne einer ABM, bei der man lediglich als Hilfskraft mitläuft. Das ist Blödsinn.
Es braucht einen kleinen Betrieb wie den unseren, der vielfältige Aufträge annimmt. Wir haben Möbel entsorgt, Wohnungen aufgelöst, Kohle geschaufelt, Gärten gepflegt usw. Heute sanieren wir sogar ganze Häuser – vom Trockenbau bis zum Betonieren von Treppenstufen. Das sind qualifizierte Arbeiten.
„Vor vier Jahren wären wir fast pleite gegangen“
Woher haben denn Ihre Mitarbeiter diese Fähigkeiten?
Man muss ehrlicherweise sagen: Die Schallung für die Treppe macht der Zimmerer selbst, aber das Betonieren übernimmt dann unser Mann. Ich verlange das auch von meinen Arbeitern und ermutige jeden dazu, dass er sich mit seiner Aufgabe auseinandersetzt. Mein Motto lautet: Nicht hutschen, sondern fordern. Vieles ist Learning by doing – und ich stehe freilich immer mit Rat und Tat zur Seite. Sie müssen Sachen ausprobieren – und auch Fehler machen dürfen. Das geht in einer normalen Firma nicht.
Wie wichtig ist für Sie als Hauptverantwortlicher bei „Chance für Jeden“ der Humor?
Es gibt Dinge, über die ich nicht lachen kann – und welche, die ich locker nehme. In einem Betrieb wie unserem ist das Unmöglichste möglich (lacht). Doch im Großen und Ganzen sind wir stolz auf das, was wir geschafft haben. Wir haben das Geld, das uns zur Verfügung steht, stets sinnvoll eingesetzt, etwa für den Kauf von Maschinen für unsere Arbeiter.
Thema Finanzierung: Den Großteil bekommt „CFJ“ über Spenden zugetragen, richtig?
Da wir bisher nur sehr wenige Mitglieder in unserem sozialen Beschäftigungsverein haben, ist die Summe der Mitgliedsbeiträge recht überschaubar. Spenden sind ein wichtiger Punkt, doch die Spenden entwickeln sich leider Jahr für Jahr rückläufig. Vor vier Jahren wären wir fast pleite gegangen, hätten wir nicht eine größere Spende von einer Stiftung erhalten. Das war wie ein Wunder. Auch heimische Firmen unterstützen uns erfreulicherweise immer wieder mal. Von den 25 Kommunen im Landkreis erhalten wir ebenso Spenden, insgesamt ca. 2.000 Euro im Jahr.
Sehen Sie das Projekt „Chance für Jeden“ aktuell in Gefahr?
Das Konzept ist gefestigt und hat sich bewährt. Unsere Auftraggeber kommen überwiegend von privater Hand oder von Gewerbebetrieben. Aufträge von öffentlicher Hand erhalten wir meist von außerhalb des Landkreises. Da wünschen wir uns noch mehr Kooperationen. Wir sind heuer lediglich einmal vom Landratsamt FRG bedacht worden, da wir relativ flexibel und uns für keinen Auftrag zu schade sind. Auch das Freyunger Freibad haben wir im Auftrag der Stadt gereinigt.
„So müsste das mal betrachtet werden“
Wir haben meist die schwierigsten aller schwierigen Fälle. Und wir entlasten die Gesellschaft dadurch, dass die Jobcenter weniger Soziallasten tragen müssen. Das heißt: Wir von „Chance für Jeden“ schaffen für die Menschen Arbeitsplätze, bezahlen ihnen mehr als den Mindestlohn. Somit liegen sie den Sozialkassen – etwa als Hartz-IV-Empfänger – nicht auf der Tasche. Wir zahlen – genau wie jeder andere Arbeitgeber – Lohnsteuer, Sozialversicherung etc. So müsste das mal betrachtet werden.
Vielen Dank für das Gespräch – und weiterhin alles Gute für die Zukunft.
Interview: Stephan Hörhammer
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Vermögensschock: Die Deutschen sind die armen Würstchen der EU
Der Welt-Reichtums-Report zeigt, wie arm die meisten Deutschen wirklich sind. Von den Ländern der alten EU liegt nur Portugal hinter Deutschland. In den meisten Ländern besitzen die Bürger mehr als doppelt so viel Vermögen wie hierzulande.
Der Medianwert des geldwerten Vermögens für die Erwachsenen liegt in Deutschland bei 47.000 Dollar. Schon im krisengebeutelten Griechenland sind es mit 55.000 Euro 8000 Euro pro Nase mehr. Dass die unmittelbaren Nachbarn – Holländer (94.000), Dänen (87.000 Dollar), Belgier (168.000 Dollar) – reicher als die Deutschen sind, kann kaum verwundern. Man sieht es bei jedem Besuch. Erstaunlich allerdings, dass Franzosen (120.000) und Italiener (125.000) mehr als doppelt so reich wie die Deutschen sind. Lichtenstein (168.000) und Schweiz (229.000) bilden erwartungsgemäß die Spitze.
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Hartz IV: Im Vergleich zum österreichischen Sozialsystem ein Witz!
Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland so groß wie vor 100 Jahren
Nur noch 47 Prozent der Beschäftigten mit Tarifvertrag: „Gesellschaftlicher Skandal“
Die Zahl der Vollzeitstellen in Deutschland ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Das schreibt die „Saarbrücker Zeitung“ und beruft sich dabei auf Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Danach wurden im zweiten Quartal dieses Jahres knapp 24,2 Millionen Vollzeitbeschäftigte gezählt. 1991, kurz nach der Wiedervereinigung, waren es noch 28,9 Millionen, also 4,7 Millionen mehr.
Hohe Beschäftigung liegt an Teilzeitjobs
Eigentlich erlebt Deutschland seit Jahren einen Beschäftigungsboom. Die Zahl der Beschäftigten wächst ungebrochen. Erst im Sommer meldete das Statistische Bundesamt einen neuen Rekord. Im zweiten Quartal zählte es 43,5 Millionen Beschäftigte.
Dieser Beschäftigungsboom geht offenbar auf Teilzeitjobs zurück. Denn seit 1991 hat sich die Zahl der Teilzeitarbeiter mehr als verdoppelt. Sie stieg von 6,3 auf gut 15 Millionen. Zu dieser Gruppe zählen neben den Arbeitnehmern mit einem versicherungspflichtigen Job auch geringfügig Beschäftigte und Ein-Euro-Jobber.
Parallel dazu ist das Arbeitsvolumen geschrumpft. Die Gesamtsumme aller geleisteten Arbeitsstunden ist im gleichen Zeitraum von knapp 52 Milliarden auf rund 50 Milliarden zurückgegangen.
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Das Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik Deutschland sinkt in seiner Tendenz seit 1960. Lediglich in den Phasen der Hochkonjunktur stieg es jeweils vorübergehend an. Das Arbeitsvolumen sinkt, wenn die gesamte Wirtschaftsleistung eines Landes (BIP) langsamer wächst als die Arbeitsproduktivität (AP = Wirtschaftsleistung der Beschäftigten pro Stunde).
Dies war in Deutschland langfristig seit 1960 immer der Fall, d. h. die Arbeitsproduktivität ist im Dekadenvergleich immer schneller gewachsen als das BIP.
Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass das Arbeitsvolumen in der Bundesrepublik Deutschland 1960 und 2008 fast identisch blieb (bei ca. 57 Mrd. Stunden), obwohl das Erwerbspersonenpotential seit 1960 von rund 26 Mio. auf 44,5 Mio. Personen stieg.
Quelle: wikipedia
Arbeitsvolumen#Die_Situation_in_der_Bundesrepublik_Deutschland