Freyung. „Wir haben meist die schwierigsten aller schwierigen Fälle“, berichtet Paul Rammelmeyr, Geschäftsführer des sozialen Beschäftigungsvereins „Chance für Jeden„. Seit fünf Jahren setzt sich der heute 68-jährige Rentner ehrenamtlich dafür ein, dass langzeitarbeitslose Menschen mit Mehrfachbelastung (Alkohol, Drogen, Kriminalität, zerrüttete Familienverhältnisse) wieder eine Perspektive im Leben finden. „Ich bin überzeugt davon, dass CFJ ein Modell zur Re-Integration in den Arbeitsmarkt ist, das auch bundesweit funktioniert“, sagt der Grafenauer im Gespräch mit dem Hog’n.
Bei Null haben er und seine wenigen Mitstreiter einst angefangen, rund 40 Menschen haben ihm zufolge in den vergangenen fünf Jahren am CFJ-Programm teilgenommen. „Wir haben einen kleinen Handwerksbetrieb mit verschiedenen Angestellten hier erschaffen“, blickt Rammelmeyr nicht ohne Stolz zurück. Seine Mitarbeiter, die einst von der Gesellschaft abgeschriebenen Langzeitarbeitslosen mit Mehrfachbelastung, übernehmen dabei die unterschiedlichsten Auftragsarbeiten – von der Wohnungsauflösung über Gartenpflegemaßnahmen bis hin zur Sanierung ganzer Häuser. „Arbeit braucht jeder Mensch“, daran glaubt der CFJ-Leiter fest, „weil eine Aufgabe Selbstbewusstsein, Würde und Sinn im Leben schafft“.
_______________________
5 Jahre „Chance für Jeden“- wie blicken Sie zurück auf diese Zeit? Mit einem guten, schlechten – oder mit gemischten Gefühlen?
Gemischt. Denn wir hatten jedes Jahr aufs Neue das Gefühl, dass wir das kommende finanziell nicht überstehen. Ohne öffentliche Mittel ist es nunmal schwierig. Wir haben mit Null angefangen, ohne Kapital, dafür mit immensen Verpflichtungen – etwa was die Miete unserer Räumlichkeiten anbelangt. Da ist es dann freilich positiv zu sehen, dass wir nun sage und schreibe sieben ehemals Langzeitarbeitslose mit Mehrfachbelastung in Vollzeit gebracht haben. Zwei sind zusätzlich dauerhaft in Firmen aus der Region untergekommen.
„Man hat ihnen quasi die Wohnung geraubt“
Doch es gab immer wieder Baustellen, mit denen Sie sich rumschlagen mussten.
Die Erfolgserlebnisse mit diesen Menschen überwiegen. Doch mein schlechtes Gefühl rührt etwa daher, dass man viele Leute hängen lassen hat. Viele, die mittlerweile auch schon verstorben sind. Denen wir auch nicht helfen konnten. Hier hat meiner Meinung nach die Politik versagt, da es den dringend benötigten sog. Zweiten Arbeitsmarkt nicht gibt.
Sie spielen auf die Menschen im Freyunger Rachelweg (da Hog’n berichtete mehrfach) an, richtig?
Ja, die Häuser, die sich im Besitz des Landkreises Freyung-Grafenau befunden haben, wurden aufgrund eines Investitionsrückstaus verkauft. Man hat ihnen quasi die Wohnung geraubt. Selbstverständlich sehe ich aber auch die Schwierigkeit, Menschen mit Mehrfachbelastungen, insbesondere Alkohol- und Drogensucht, als Vermieter im Haus zu haben. Da sind so einige Investitionen gleich mehrmals von Nöten, da sie nie gelernt haben eine Wohnung instand zu halten, sie zu pflegen. Trotzdem haben auch sie ein Anrecht auf eine Bleibe.
Hans Reitner, der letzte Bewohner des Hauses im Rachelweg 3, ist vor wenigen Wochen gestorben. Er wurde tot in seiner Wohnung aufgefunden. Ich gehe von multiplem Organversagen aus, wie es bei allen anderen auch der Fall war. In dieser Wohnung sind innerhalb von zwei Jahren bereits drei Menschen mit Mehrfachbelastung gestorben. Ich verstehe nicht, warum man ihm eine Betreuung zur Seite gestellt hat, die im Endeffekt keine Betreuung darstellt.
„Es mangelt an einer individuelleren Form der Betreuung“
Wer hatte die Betreuung übernommen?
Der Betreuungsverein der Caritas. Meine Kritik lautet nach wie vor: Ein Betreuer allein kann keine effiziente Betreuung ausüben, wenn er sich um zu viele Klienten gleichzeitig kümmern muss. Er stößt hier an seine Grenzen, ist überlastet – und dann stellt sich mir die Frage, ob der Staat hier zu wenige Eingriffsmöglichkeiten hat, um einen Ausgang wie bei Hans Reitner zu verhindern.
Er hätte meiner Meinung nach in einer betreuten Einrichtung untergebracht werden sollen. Es wäre mehr Druck von außen nötig gewesen, damit er seine Wohnung, die teilweise den Anschein machte, als wäre dort eine Bombe eingeschlagen, hätte verlassen müssen. Doch da reden die Betreuer jetzt bestimmt vom Selbstbestimmungsrecht des Menschen auf die freie Wahl einer Wohnung. Hans Reitner war meiner Meinung aber nach nicht mehr im Stande, dieses Recht auszuüben und für sich selbst und ein Leben in Würde Sorge zu tragen.
Selbstbestimmungsrecht auf der einen Seite – die Verpflichtung zur Schaffung besserer Lebensumständen für gefährdete Menschen auf der anderen. Wo liegt der Fehler im System?
Es mangelt an einer individuelleren Form der Betreuung. Eine Betreuung, die auf einer guten Vertrauensbasis fußt. Das war im Fall Hans Reitner aus genannten Gründen offenbar nicht gegeben. Wir bei CFJ zum Beispiel betreuen unsere Leute recht intensiv – mit mehr Zeitaufwand. Ohne den Caritas-Betreuungsverein direkt angreifen zu wollen: Für derlei extreme Fälle wie Hans Reitner muss ein intensiverer Betreuungsaufwand betrieben werden. Der Betreuungsbedarf ist hier viel höher als der, der zurzeit von Gesetzes wegen oder aus finanziellen Gründen möglich ist.
Man kann zuschauen, wie einer im Dreck liegt. Einer, der beginnt, sich darin wohl zu fühlen, was bei Drogen- und Alkoholabhängigen oftmals der Fall ist. Sie versumpfen regelrecht und arrangieren sich irgendwann mit ihrer Situation. Doch soweit darf der Staat seine Bürger nicht fallen lassen. Er muss ihnen wieder heraushelfen aus dem Dreck.
Betreuung muss über die amtliche Fürsorge, die in erster Linie juristische Angelegenheiten wie Mietvertrag, Strom etc. betrifft, hinausgehen. Es geht ums Kümmern – darum, dass diejenigen, die aufgrund ihrer Situation nicht mehr Herr über sich selbst sein können, etwa eine ordentliche Wohnung haben. Was bringt es, diesen Menschen ein Bett zu kaufen, wenn sie es im Anschluss nicht selbst aufbauen können, um darin zu schlafen?
„Der Staat muss geschützte Einrichtungen schaffen“
Und genau so müssten auch die Langzeitarbeitslosen mit Mehrfachbelastung betreut bzw. begleitet werden, oder?
Ja, der Staat muss ihnen ein Umfeld mit gewissen Voraussetzungen bieten, damit sie überhaupt an einem besseren Leben, am Arbeitsleben an sich, partizipieren können. In der Praxis ist es so, dass bei vielen vermittelten Jobcenter-Posten zunächst eine Art Probearbeit verlangt wird. Dabei werden die Langzeitarbeitslosen mit Mehrfachbelastung zumeist über die Maßen beansprucht – und brechen schon nach kurzer Zeit ein. Der Betrieb ist verständlicherweise nicht zufrieden mit deren Leistung – und der Langzeitarbeitslose ist gefrustet.
Beim nächsten Mal wiederholt sich das Ganze dann wieder: Der Langzeitarbeitslose geht dann bereits mit dem Gedanken zur Probearbeit, die geforderte Leistung ohnehin nicht bringen zu können – und am Ende nicht übernommen zu werden. Ich kann nur aus meiner Erfahrung sagen: Es funktioniert nicht. Man kann nicht einen Menschen, der lange Zeit nicht berufstätig war und noch dazu ein Alkohol- oder Drogenproblem hat, in diesen Arbeitsmarkt integrieren. Darum muss der Staat geschützte Einrichtungen schaffen.
Interview: Stephan Hörhammer
Was sich CFJ-Leiter Paul Rammelmeyr unter „geschützten Einrichtungen“ und dem „Zweiten Arbeitsmarkt“ konkret vorstellt, wie sehr ihn die Einzelschicksale unter den Langzeitarbeitslosen mit Mehrfachbelastung persönlich betreffen und wie es um die Finanzierung des sozialen Beschäftigungsvereins aussieht, erfahrt ihr im zweiten Teil unseres Hog’n-Interviews.
- Die Schule des Lebens – oder: Paul Rammelmeyrs „Chance für Jeden“
- „Wir brechen und die Hacken ab – und die Gesellschaft schaut zu“
- Causa „Rachelweg Freyung“