Bayerwald/Passau/Wien. „Fridays for Future war an unserer Schule zu keinem Zeitpunkt ein Thema“, teilt Veronika Obermeier von der Schülermitverwaltung (SMV) der Realschule Freyung auf Hog’n-Anfrage mit. Deshalb könne sie auch unsere Nachfragen nicht beantworten. Nicht nur von ihr wollten wir etwa wissen, warum es in der Region bislang keinerlei von Schülern organisierte FFF-Demos gegeben hat, wie die Schulleitung dazu stehe (Stichwort: Schule schwänzen), oder ob Greta Thunberg auch von den hiesigen Heranwachsenden als Galionsfigur der Klimabewegung wahrgenommen werde.
Wir hatten auch bei allen anderen weiterführenden Schulen im Landkreis Freyung-Grafenau nachgehakt – und bis auf zwei Einrichtungen, die zum einen auf Vorgaben des Kultusministeriums und zum anderen auf das Sekretariat der Schulleitung verwiesen haben, keinerlei Rückmeldung bekommen. Zwei Initiativen haben dennoch mit uns gesprochen – und sind mit uns der Frage nachgegangen: Warum hat die Fridays-for-Future-Bewegung mehr Anhänger in städtischen Räumen als in ländlichen?
War halt schon immer so!?
Die einfachste Antwort hierauf: Das war eben schon immer so! Die großen Proteste vergangener Jahrzehnte fanden in Großstädten statt. Das war bei den 68er-Demos so, bei den Protesten gegen den zweiten Golfkrieg 1991 – oder als im Jahr darauf in München 400.000 Menschen eine Lichterkette gegen Fremdenhass bildeten. Die Reihe lässt sich fortführen über die Occupy-Bewegung, Montagsdemos von PEGIDA – und eben Fridays For Future. Wer ein Faible für Geschichte hat, könnte auch sagen: Schon der Sturm auf die Bastille, Startschuss zur Französischen Revolution 1789, ereignete sich in der Großstadt Paris.
Doch warum ist das so? In einer Studie des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) zu den Fridays-For-Future-Protesten heißt es, dass die „Ausübung von Protest als Artikulationsform von verschiedenen soziostrukturellen Merkmalen geprägt ist und Demonstrierende in den wenigsten Fällen ein repräsentatives Abbild der Gesamtbevölkerung darstellen“. Nicht der Durchschnittsbürger geht regelmäßig gemeinsam auf die Straße, sondern Menschen, die bestimmte „soziostrukturelle Merkmale“ teilen, wie etwa Bildung, Einkommen, Erziehung, Herkunft oder (subjektive) Schichtzugehörigkeit.
Nicht nur vegane Radfahrer
Laut Studie seien es „vor allem formal höher Gebildete, Menschen mit über-durchschnittlichem Einkommen und die Alterskohorte der 30-50-Jährigen, die auf die Straße gehen“. Bei den Schülerprotesten gilt diese Zuschreibung natürlich nur eingeschränkt: Sie haben in den meisten Fällen überhaupt kein Einkommen, noch keinen Bildungsabschluss und gehören mit Sicherheit nicht der Alterskohorte der 30-50-Jährigen an. Doch zeigt sich laut Studie, dass die Eltern der Teilnehmer überdurchschnittlich hoch gebildet sind (zwischen 45 und 60 Prozent haben einen Hochschulabschluss) und demnach zu großen Teilen dem Bildungsbürgertum zugehörig sind.
Außerdem rechnen sich die meisten der teilnehmenden Schüler überwiegend der „oberen Mittelschicht“ oder der „unteren Mittelschicht“ zu. Die wenigsten gaben an, der „Arbeiterschicht“ oder der „Oberschicht“ zu entstammen. Zudem sehen sie sich überwiegend im linken politischem Spektrum verortet und – das ist ein Spezifikum der Umweltproteste – über 60 Prozent der Teilnehmenden sind Frauen (zum Vergleich: Bei den Stuttgart 21-Protesten waren es 40 Prozent Frauen, bei PEGIDA im Schnitt 18 Prozent). Die Autoren der IPB-Studie heben jedoch auch hervor: Die Fridays-For-Future-Proteste sind weit heterogener als ihnen oft zugeschrieben wird. Soll heißen: Das Einzugsgebiet der Demos geht weit über die Kinder gutverdienender, veganer Radfahrer-Eltern hinaus.
Ohne ÖPNV keine Demo
Aus den Ergebnissen lassen sich einige Rückschlüsse auf das Protestverhalten auf dem Land ziehen. Da Protestierende (bzw. deren Eltern) offenbar eine überdurchschnittlich hohe formelle Bildung und ein überdurchschnittlich hohes Einkommen aufweisen, ist die Stadt eher prädestiniert dazu, Schauplatz von Demonstrationen zu werden. So liegt das durchschnittliche Einkommen in den Landkreisen Freyung-Grafenau und Regen bei gut 20.000 Euro pro Jahr. In Passau schon bei gut 21.000 Euro – und in München bei knapp 30.000 Euro (Stand: 2018). Dasselbe gilt in Sachen Bildungsabschlüsse. Knapp 14 Prozent der Passauer haben einen akademischen Abschluss, sogar 34 Prozent der Münchner – dahingehend nur knapp 6 Prozent der Bewohner der Landkreise FRG und Regen.
Und dann gibt es da noch einen ganz praktischen Grund, wie Sina Raab und Julia Knott von Fridays For Future Passau auf Hog’n-Nachfrage erklären. Viele Schüler würden gerne vom Umland zu den Kundgebungen nach Passau kommen. Doch aufgrund des teilweise mäßig ausgebauten ÖPNV hätten „viele Schüler*Innen gar keine Möglichkeiten, um zu unseren Demonstrationen zu fahren“. Die Anreise mit dem Auto zur Klima-Demo sei für „viele Interessierte auch nicht vertretbar“. Diese Situation ist Raab und Knott zufolge zwar „ärgerlich“, aber immerhin „ein Ansporn für uns, uns für einen Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel einzusetzen“.
Mehr ist mehr
Doch noch ein anderer entscheidender Faktor spielt eine Rolle: Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Und hier gilt: Mehr ist mehr. Proteste haben gemeinhin das Ziel, die Aufmerksamkeit der breiten Masse auf sich zu lenken, um ihre eigene Agenda voranzutreiben. Je größer diese Aufmerksamkeit, desto besser. In einer Stadt ist das deutlich einfacher zu realisieren als auf dem Land – aus dem einfachen Grund, dass im urbanen Raum mehr Menschen auf kleinerer Fläche wohnen. Hier macht sich auch der sogenannte Netzwerkeffekt bemerkbar: Wo ohnehin schon viel ist, sammelt sich noch mehr an.
Von großer Bedeutung für die Agenda einer Protestbewegung ist selbstverständlich die mediale Berichterstattung. Medien übernehmen die Rolle eines Multiplikators und sind selbst im Zeitalter der Sozialen Medien ein unverzichtbares Instrument für soziale Bewegungen. Da sich die Redaktionen der großen, überregionalen Medien überwiegend in den Städten angesiedelt haben, ist auch dies ein Grund für die Organisatoren, sich eher aufs Urbane zu konzentrieren.
Wien, der „Wasserkopf“
Eine, die dieses Problem nur zu gut kennt, ist Anna Lindorfer, Sprecherin von Fridays For Future Österreich. Die Alpenrepublik leidet in vielen Belangen unter dem österreichischen „Wasserkopf-Problem“. Rund ein Viertel der 8,5 Millionen Österreicher lebt in Wien und näherer Umgebung, sprich: ganz im Osten des Landes. In der österreichischen Hauptstadt konzentrieren sich Politik, Medien, Kunst und Kultur, auch große Firmen lassen sich bevorzugt in Wien nieder.
Da ist klar: „Viele Institutionen haben hier ihren Hauptsitz, gegen welche sich die Proteste von Fridays For Future richten. Zum Beispiel das Parlament, das Bundesministerium für Nachhaltigkeit, das Finanz-, Wirtschafts- und Verkehrsministerium oder der Ölkonzern OMV“, erklärt Lindorfer gegenüber dem Hog’n.
Um zu verhindern, dass sich – wie sonst üblich – das allermeiste nur auf Wien konzentriert, riefen die Aktivisten von Fridays For Future Österreich die Aktion „Dein Ort für die Zukunft“ ins Leben. Dabei forderten sie Schüler auf, sich am 20. September mit ihren Protestschildern vor dem Ortstaferl ihres Heimatortes fotografieren zu lassen und das Bild anschließend in den sozialen Medien zu verbreiten. Von den 2.000 österreichischen Gemeinden nahmen mehr als 750 an der Fotoaktion teil, freut sich Lindorfer. „Viele Menschen“, sagt die Aktivistin, hätten „zum ersten Mal Proteste organisiert. Somit sind viele Streikende von ‚Streikbesuchern‘ zu aktiven Kritikerinnen und Kritikern des fossilen Systems unserer Gesellschaft geworden und für umgehende und tiefgreifende Maßnahmen der Politik aufgestanden“. Durch die Einbindung der ländlichen Bevölkerung schaffte man es gleichzeitig einst passive Teilnehmer zu aktiven Protagonisten zu machen.
Protest geht auch am Land, vor allem lokal
Für den vierten weltweiten Klimastreik am Freitag, 29. November, haben sich Lindorfer und ihre Kollegen wieder etwas einfallen lassen, um besonders viele Menschen zu den Protesten zu bewegen. Mit einer Karte auf ihrer Homepage können sich Streikende für Fahrgemeinschaften eintragen und erhalten ein „Streikpaket“ mit Tipps rund um die Demo, einem Klimastreik-Songbook und Informationen, wie man selbst eine Demo anmelden kann.
Derlei Kapazitäten vermissen die Organisatoren in Passau. „Da wir mit den Demonstrationen und Aktionen in der Stadt so beschäftigt sind, können wir auf dem Land keine weiteren organisieren“, beklagen Sina Raab und Julia Knott. Auch auf die „Bildung neuer Ortsgruppen“ habe man deshalb „keinen Einfluss“. Ihre Aktivitäten beschränken sich größtenteils auf Passau – in der Hoffnung, dass trotzdem möglichst viele aus dem Umland hinzustoßen.
Dennoch: Die These vom „protestfaulen ländlichen Raum“ lässt sich nicht bestätigen. Auch in Marktgemeinden oder Kleinstädten kommt es immer wieder zu Demonstrationen und Protestaktionen, besonders dann, wenn das Anliegen ein Lokales ist. Vor allem Anti-Windkraft-Bündnisse wie das „Aktionsbündnis Freier Horizont“, „Gegenwind“ oder „Windwahn“ schaffen es in jüngster Vergangenheit regelmäßig in die Medien. Sie initiieren in vielen Gemeinden Deutschlands Bürgerinitiativen und koordinieren Proteste gegen Pläne, Windräder in ihrer unmittelbaren Umgebung zu bauen.
Auch die Waidler können sich mobilisieren
Dass auch im Bayerwald manchmal mächtig mobilisiert werden kann, wurde etwa im Juni 2015 deutlich: Rund 5.000 Demonstranten marschierten damals durch Waldkirchen, um gegen die Schließung des örtlichen Krankenhauses zu protestieren. Innerhalb kürzester Zeit formierte sich eine Bürgerbewegung, die 10.000 Unterschriften sammelte, um die Schließung zu verhindern. Genützt hat es am Ende wenig. Aber – und das mag vielleicht ein kleiner Trost sein – das ist auch in der Großstadt oftmals der Fall…
Johannes Greß