Greta Thunberg trägt kein Sakko. Sie ist weder männlich noch grauhaarig. Und dabei auch noch deutlich unter 60. Schon das unterscheidet sie von den meisten, die auf dieser Welt irgendwie Gehör finden. Thunberg ist gerade einmal 16 und trägt meist zwei rote Zöpfe. Dass sie in der Öffentlichkeit und in den Sozialen Medien immer wieder Hass, Häme und Beschimpfung ausgesetzt ist; dass sich ausgerechnet grauhaarige, Ü60-Anzugträger von ihr am allermeisten vor den Kopf gestoßen fühlen, ist kein Zufall.

Sie hält den Menschen den Spiegel vor, in den viele nicht blicken wollen: Die wohl bekannteste Klima-Aktivistin der Neuzeit, Greta Thunberg (16). Foto: FB-Seite/Greta Thunberg
Ich weiß es sehr genau, aber… – ich tue es trotzdem. Solche (verleugnenden) Entscheidungen treffen wir jeden Tag. Zum Beispiel, wenn wir auf der Couch herumlümmeln, dabei Chips essen und Trash-TV in der Glotze schauen. Bewegung wäre wichtiger, Obst gesünder und die Arte-Doku geistig fordernder. Aber.
Ich weiß es sehr genau. Punkt.
Eine Dimension größer: Wir sind gerade ziemlich zielstrebig dabei, unseren Planeten gegen die Wand zu fahren. Wenn wir es in den nächsten zehn bis 15 Jahren nicht schaffen, das Ruder herum zu reißen, wird dies auch für uns wohlstandsgepuderte Europäer sehr unsanft enden. Jeder und jede sieht und beklagt Hitzesommer, Dürren, Starkregen, Stürme. Wir wissen sehr genau, … dass das Alles kein bloßes „Wetterphänomen“ ist. Weil es schwarz auf weiß in dicken IPCC-Berichten steht. Wir wissen sogar sehr genau, wer wie viel umweltschädliche Emissionen einsparen muss, um die Katastrophe abzuwenden. Aber.
Der Hass und die Häme gegenüber Thunberg rührt daher, dass sie dieses Aber für unzulässig erklärt hat. Thunberg sagt: Ich weiß es sehr genau. Punkt. Und dementsprechend handle ich.
Es passt ins Bild, dass sich ausgerechnet jene (meist alte, grauhaarige) Spezies, die sich das „Aber“ nach dem Komma zum Prinzip und Privileg gemacht hat, derartig an Thunbergs Worten und Wirken ereifert. Sie reklamieren das Recht auf permanente Überschreitung rechtlicher und moralischer Regeln für sich – und sind plötzlich schnippisch, wenn jemand Kritik übt. Am schönsten bringen das jene zum Ausdruck, die sich nun trotzig in Facebook-Gruppen namens „Fridays For Hubraum“ zusammenschließen – überwiegend Männer übrigens.
Thunberg legt dieses unbewusste, weil verleugnete Aber offen. Da spricht plötzlich eine schwedische Schülerin vor der UN und will der Menschheit weißmachen, sie sollen etwa weniger SUV fahren. Die grauhaarige Hubraum-Fraktion erlebt das als persönlichen Angriff, als Kränkung. Nicht obwohl da eine 16-Jährige der gesamten Welt gerade ihr kollektives Versagen vor Augen führt – sondern gerade deswegen.
Antisemitische Klischees
Viele der Attacken gegenüber Thunberg in der Öffentlichkeit und den Sozialen Medien erinnern an Klischees, die antisemitischen Verschwörungstheorien sehr ähnlich sind. Thunberg werde gesteuert von einer dunklen Macht, von dubiosen Interessensgruppen oder – ganz ausgefeilt – von ihren eigenen Eltern. Sie alle verfolgen einen bösen Plan: die Vorherrschaft der Grünen-Partei, Profite für Windradhersteller etc. pp.
Häufig zu beobachten ist auch die Methode, vom eigenen Versagen abzulenken, indem darauf hingewiesen wird, auch Thunberg habe keine Lösung parat – oder handle inkonsequent und doch zugleich moralisch überheblich. Symptomatisch ist hierfür der Shitstorm, den die Klimaaktivistin erntete, als sie – mit dem Zug zweieinhalb Tage lang – von Schweden in die Schweiz fuhr und auf einem Foto die plastikverpackte Wegzehrung zu sehen war. In dieselbe Kerbe schlagen Fotos von überquellenden Mülleimern am Rande von Fridays-For-Future-Demonstrationen, die das angebliche Scheitern der Bewegung an den eigenen Ansprüchen belegen sollen. Auch ihr wisst es nicht besser, also hört auf mir zu sagen, was ich zu tun habe!
Greta Thunberg: Projektionsfläche für den Hass
Das dritte (und ekelhafteste) Symptom ist der Hass und die Verachtung, der Thunberg regelmäßig in den Sozialen Medien entgegenschlägt. Keiner dieser Kommentare ist es wert, hier zitiert zu werden. Thunberg ist das Gesicht der globalen Klimabewegung. Sie bringt das zum Ausdruck, was ein großer Teil der jüngeren Generation von der Älteren verlangt. Sie ist Ausdruck dafür, dass das Verlangen nach immer Mehr und die gleichzeitige Bewahrung der Schöpfung ein unlösbarer Widerspruch sind. Sie gibt diesem abstrakten, komplexen aber alltäglichen Gegensatz ein Gesicht. Sie ist die perfekte Projektionsfläche für Hass als Reaktion auf die Kränkung, die viele erfahren, wenn eine 16-Jährige es wagt, ihnen die eigenen Versäumnisse vor Augen zu führen.
Wir sind es gewohnt, dass sich Wohlstand vorwiegend in (materiellen) Waren ausdrückt. Einen nicht unwesentlichen Anteil unseres Lebens verbringen wir mit Lohnarbeit (und dazugehöriger Ausbildung). Für diese „Opfer“ wollen wir belohnt werden. Wer 40 Stunden und mehr die Woche in der Arbeit verbringt, will zurecht belohnt werden. In den letzten Jahrzehnten wurde immer deutlicher, dass diese Logik an ihr Ende gekommen ist. Stetig steigender Konsum und eine intakte Umwelt entpuppen sich zunehmend als Widerspruch. (Stetig steigender Wohlstand und eine intakte Umwelt übrigens nicht).
Es darf kein Aber mehr geben
Ein Subsystem kann nie weiter wachsen als das System, das es umgibt. Anders erklärt: Sie können nie mehr Bierkisten in den Kofferraum packen, als dieser Volumen hat. Gerade stopfen wir noch ein paar Kisten auf den Rücksitz, aber auch der ist irgendwann voll. Anders als bei Bierkisten und Kofferräumen ist der Zusammenhang Wirtschaft-Natur-Konsum jedoch deutlich komplexer und abstrakter. Thunberg eignet sich für viele hervorragend, die Verzweiflung und Überforderung ob dieser Komplexität auf sie zu projizieren.
Die Umstände lassen kein „Aber“ mehr zu. Wir wissen es sehr genau. Und wir waren bisher sehr gut darin, es zu verdrängen. Die Reaktionen auf Thunberg und Fridays For Future sind deshalb so heftig, weil sie dieses uns unbewusste, verdrängte „Aber“ offenlegt – und uns aktiv damit konfrontiert.
Kommentar: Johannes Greß
Da kann ich nur zustimmen! Wir fühlen uns ertappt und das ist wenig schön.
Ich war schon immer der Ansicht, dass wir das meiste von Kindern lernen können und auch sollten. Das, was sich Kinder wirklich wünschen sind keine materiellen Dinge sondern zum Beispiel, Gesehenwerden, Geborgenheit und Freiheit. Ich selbst gehöre auch schon zu der grauhaarigen Fraktion, bin im Zeitgeist der 70er und 80er Ökobewegung erwachsen geworden und bis heute wohl eher eine Ökotante. Da schau ich schon auf die jüngere Generation mit Schrecken, die fahren nämlich ihre Kinder in diesen riesigen Autos endlos herum und berauben sie ihrer Bewegungsfreiheit. Ausnahmen bestätigen zum Glück die Regel.
Um 1900 betrug die Weltbevölkerung ca. 1 Mio. Inzwischen ca. 7,5 Mio bei höheren Ansprüchen und Ressourcenverbrauch. Das Wachstum ist endlich.