Regensburg. Ein kleiner Junge hört plötzlich die Sirenen: Fliegeralarm. Er läuft zum nächstgelegenen Bunker am Münchener Bahnhof. Doch die Leute lassen ihn nicht hinein – trotz Bombenwarnung. Der Junge ist ein Jude. Und Juden dürfen keine öffentlichen Bunker betreten…
Ernst Grube, 86 Jahre alt, ist einer der letzten Überlebenden der Shoah. Im jüdische Gemeindezentrum in Regensburg rekapitulierte er jüngst sein Leben als jüdischer Junge im Nazi-Regime. Der langjährige politische Aktivist erzählte von seiner Kindheit, die ihm Terror und Grausamkeit gelehrt hat.
Mit einem Stern ist alles anders
Grube gab mit seinem Zeitzeugenbericht einen Einblick in seine frühere Welt: Von seinen Eltern weggenommen, habe er im Kinderheim, 1938, das erste Mal die Grausamkeit gegen Menschen jüdischen Glaubens erfahren: „Wir hatten daheim keinen jüdischen Bezug. Und dann sind wir plötzlich in einem Haus mit jüdischem Brauch.“ Er habe zuerst gar nicht gewusst, was der jüdische Stern bedeute, den er ab Oktober 1941 in der Öffentlichkeit tragen musste. Seine Eltern sah er erst wieder, als das Barackenlager am Münchener Stadtrand (Milbertshofen), in das er kurz darauf deportiert wurde, aufgelöst wurde.
„Ich habe 1942 gelernt was Terror heißt“
In dem Lager bewahrten ihn zwei Frauen, die sich um die Kinder kümmerten, vor physischer Folter. Er nahm jedoch psychischen Schaden, denn: Im Frühjahr 1942 habe er gelernt, was Terror heiße. „Im alten Kesselhaus wurden Menschen eingesperrt. Am Fenster habe ich auch alte und geistig verwirrte Frauen und Männer gesehen. Sie klebten an den Scheiben – und ich stand davor und konnte nichts tun.“
Zwei Faktoren waren ausschlaggebend dafür, dass er und seine beiden Geschwister diese Zeit überlebten: Grubes Vater war kein Jude – weshalb er auch nicht deportiert wurde. Und sein Vater ließ sich nicht von seiner jüdischen Frau scheiden. „Wenn der Vater sich hätte scheiden lassen, dann wäre ich heute nicht hier.“
Er überlebte, weil Vater keine Scheidung wollte
Zudem stimmte das Timing: „Wir haben auch deshalb überlebt, weil das Kriegsende gerade noch rechtzeitig kam. Drei Monate länger hätten wir wohl nicht geschafft“, erzählte der Referent über seine Zeit im Ghetto Theresienstadt, wohin er, seine Geschwister und seine Mutter 1945 gebracht wurden. Dort sei er von seiner Familie getrennt worden, jeder wurde in einem anderen Bereich des Ghettos untergebracht. Ihm wurde alles abgenommen – wie jedem Jugendlichen. Trotz der Enge sei das Zusammensein sehr wichtig gewesen: Die Kinder machten sich gegenseitig Mut und Hoffnung, wie Grube erläuterte.
Bereits als Kind haben er und seine Geschwister gelernt, was es bedeute Angst zu haben – und sich um das eigene Leben zu fürchten. Tanten und Onkeln aus München und Stuttgart waren längst deportiert. „Uns quälten damals die ganze Zeit über zwei Fragen: Leben unsere Verwandten noch? Werden auch wir weggebracht?“
Angst vor Deportation
Als 1945 die Wehrmacht eine Niederlage nach der anderen erlitt, sei dies ein Hoffnungsschimmer gewesen. Und dennoch: „Jeden Tag haben wir uns gefragt: Werden uns die Nazis kurz vor Kriegsende noch umbringen?“ Drei Monate dauerte es bis Grube und seine Familie von den Russen im Mai 1945 schließlich befreit wurden.
Jeder solle Verantwortung übernehmen
Abschließend wies Grube darauf hin, dass jeder seine Verantwortung für die vergangenen Geschehnisse finden und selbst entscheiden müsse, wie er mit ihr umgehe. Er sagte weiter, dass die vergangenen Verbrechen und Schulden mit den bisherigen Zahlungen noch nicht ausgeglichen worden seien. „Das Problem ist das System“, stellte Grube klar, „so ein Regime darf sich nicht wiederholen“.
Lexa Wessel