Wir schreiben das Jahr 1948. Und George Orwell schreibt über das Jahr 1984. Klingt komisch, ist aber so. Denn so komisch das klingt, ist es gar nicht. Winston Smith, Protagonist in Orwells dystopischem Roman 1984, kehrt von der Arbeit zurück nach Hause. Dort warten nicht Frau und Kind auf ihn, dafür der Teleschirm. Eine Gerätschaft, die rund um die Uhr sendet – und empfängt. Kommt Ihnen bekannt vor?

„Alexa“ heißt Amazons Sprachassistent, der schon mal das ein oder andere Gespräch in den heimischen vier Wänden mitverfolgt. Foto: pixabay.com/ HeikoAL
Hunger hatte er, der Vierjährige Sohn der Tagesspiegel-Autorin Sonja Álvarez. Amazons Sprachassistent „Alexa“ war sofort zur Stelle, digitaler Retter in kalorienarmen Zeiten, mit einer kulinarischen Investitionsidee für die Zukunft: Ein Pizzabackset inklusive Pizzastein, Rezeptbuch, Pizzaschaufel und Geschenkverpackung durfte der Vierjährige nur wenige Tage später sein Eigen nennen. Seine Mutter kam in den Besitz einer Rechnung von 36,99 Euro.
Horst, der schnöde Nachbar – Alexa, die Rampensau
Seit längerem ist bekannt, dass die Künstliche Intelligenz hinter „Siri“ (Apple), „Alexa“ (Amazon), „Cortana“ (Microsoft) und „Assistant“ (Google) eine sehr fleischige Komponente besitzt. Google, Amazon, Microsoft und Apple ließen ihre Sprachassistenten über Jahre hinweg mithören. Hinter der Künstlichen Intelligenz saßen Tausende wenig künstliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Fleisch und Blut – und lauschten, um die Performance der Assistenten zu verbessern. Dabei bekamen die sogenannten „Sprachassistenten-Trainer“ nicht nur zu hören, wie Sie finden, dass Nachbar Horst ein verklemmter Idiot sei, der nun seit gut zwölf Jahren mit seiner Midlife-Crisis ringt; oder dass Sie Kollegin Anne für eine überbezahlte Karrieristin mit überschaubarem Intellekt halten; auch für Ihren Abszess dürfte sich die menschlich-künstliche Intelligenz nur begrenzt interessiert haben – und dennoch wusste sie davon.
Allzu oft zeichneten die Sprachassistenten Gespräche auf, die mit Sicherheit nicht für fremde Lauscher bestimmt waren. Zum Beispiel, weil Amazons „Alexa“ nicht nur bei ihrem eigenen Namen anspringt, sondern auch bei „Alexandra“ oder „Amazonas“ die virtuellen Ohren spitzt. Weil „Hey, Google“ und „Hey, Kuchen“ ziemlich ähnlich klingen. Und weil sich Siri oftmals bei dem Zipp-Geräusch eines Reißverschlusses angesprochen fühlt.
Das mündet dann oft in Ereignissen, über die man heute vielleicht noch schmunzeln mag. Zum Beispiel als „Alexa“ in Pinneberg eigenständig Party feierte, ohne Wissen ihres Hausherren um 2 Uhr nachts mal richtig Mucke durch die Boxen röhren ließ – und die Fete mittels Polizeieinsatz ein jähes Ende fand. Alexa, die alte Rampensau!
Wurschtigkeit + Bequemlichkeit > Vernunft
Anonym berichten nun in den vergangenen Monaten zahlreiche Sprachassistenten-Trainer über das Mithören von Turnübungen, die den Austausch von Körperflüssigkeiten zum Ziel haben – vulgo Gevögel. Dazu gesellten sich allerlei intimer Momente und etwas Telefonsex.
Irgendwie hat man’s immer gewusst, ja. Irgendwie hat man’s immer ignoriert, ja. Weil die Wurschtigkeit im Verbund mit der Bequemlichkeit der Vernunft nur allzu oft überlegen ist. Maßlos. Gerade in Deutschland wissen wir davon ein Liedchen zu singen – wenn wir wieder Mal mit 150 Sachen über die Autobahn brettern und dies etwa unter dem Schlagwort „Freiheit“ subsumieren. Aber das ist eine andere Geschichte.
Was tun? Die Dinger einfach entsorgen? Logisch, unlogisch, weil Autobahn, Freiheit und so. Aber wie wär’s mit Kreativität? Gepaart mit zivilem Ungehorsam? Und einer Prise Humor? Google, Amazon und Co. lauschen nicht heimlich mit, weil sie sich so dolle für Ihr Privatleben interessieren (sorry, aber sollten Sie nicht zufällig Königin, Kaiser oder Kanzlerin sein, mächtig viel Dollars besitzen, beim Hog’n arbeiten und auch sonst im Leben nichts Anständiges gelernt haben, interessiert sich außerhalb Ihres Sichtfeldes keine arme Sau für Sie. Nochmal: Sorry!)
Vorschläge zur KI-Revolte
Bei den heimlichen Abhöraktionen soll es darum gehen, die Performance der Wohnzimmer-Stasis zu verbessern. Indem Transkripte ausgebessert und Algorithmen geschärft werden. Es geht darum, die Nutzer und Nutzerinnen besser zu verstehen. Und dann gilt es eben, dieses Verständnis etwas missverständlich zu tunen, den Tech-Giganten etwas die Show zu vermiesen. Hier ein paar Vorschläge zur KI-Revolte (die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und darf gerne laufend ergänzt werden):
- Reden Sie in Anwesenheit ihres Sprachassistenten nur noch vom eigenen Stuhlgang, sparen Sie dabei nicht mit Details und Fachvokabular
- Zippen Sie mal ihren Reißverschluss auf und zu und erklären Ihrem Gegenüber voll Wonne, wie sie sich gerade Zugang zum internen Bereich von Apple verschafft haben
- Zitieren Sie über Stunden hinweg aus der Bedienungsanleitung eines Ihrer Küchengeräte (gerne auch mit verteilten Rollen). Für Fortgeschrittene: Tun Sie so, als hätten Sie das eben gekaufte Ikea-Regal in Windeseile problemlos aufgebaut, da Sie die Bedienungsanleitung auf Anhieb verstanden haben. Gaukeln Sie Ihrem Assistenten dabei vor, es habe nicht eine einzige Schraube gefehlt.
- Persönlich sehr scharf finde ich auch die hohe Kunst des antithetischen Shoppens: Ordern Sie einen Artikel – nur um im selben Moment das exakte Gegenteil zu bestellen: Ein Buch zur Einführung in die Datenschutzgrundverordnung und einen neuen Sprachassistenten. Ein Katzenklo und einen Vibrator, leistungsstark. Eine DVD über die Sportler des Jahrhunderts und ein Trikot von 1860 München (ein nur noch in Expertenkreisen bekannter, sogenannter Fußballklub, wobei die ausgeübte Sportart nur bei klarer Sicht wirklich eindeutig definiert werden kann). Das Buch „Journalismus für Fortgeschrittene“ und ein PNP-Abo etc.
Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Das könnte eine Revolution werden!
Erwartungsfroh: Johannes Greß