Graz/Finsterau. Autos zählen heute zu den selbstverständlichsten Fortbewegungsmitteln überhaupt. Sie sind so alltäglich wie der Strom aus der Dose oder das Wasser aus dem Hahn. Doch das war nicht immer so. Und gerade die Menschen im Bayerischen Wald verfügten in den Nachkriegsjahren nur allzu selten über Autos, die ihnen – wie auch heute noch – die nötige Mobilität verschafften.

Welch idyllischer Anblick und eine Örtlichkeit, wo man immer leben möchte. Wie mühselig war das Dasein dort in früheren Jahren, welche Entbehrungen mussten die Menschen damals dort ertragen? Heute nicht mehr vorstellbar und doch möchten wir genau dort – am liebsten für immer – verweilen. Fotos: Familie Bänsch
Ulrich Bänsch, Autor unserer Serie „Finsterau – meine Jugendliebe„, hegt seit jeher eine große Leidenschaft für alles, was Räder hat. Mit seinem königsroten VW Käfer begab er sich einst auf Erkundungstour durch den Woid. Im fünften Teil berichtet er u.a. genau über jene Ausflüge in die Natur des Bayerischen Waldes, bei denen er seine Liebe zur Region rund um Finsterau weiter vertiefen konnte…
Das verdiente Geld wurde für wesentlichere Dinge benötigt
Als Städter fehlte einem irgendetwas: ein Hintergrundgeräusch, das in der Großstadt immer allgegenwärtig war und das man nicht mehr bewusst wahrnahm. Aber die Stille im Bayerischen Wald, sie war nicht unheimlich, sondern auf das Höchste angenehm. Das merkten meine Eltern und ich erst wieder, als wir uns zu Hause im Stuttgarter Moloch befanden. Dass auch das viertelstündige Kirchturm-Gebimmel nervtötend sein kann, ist mir erst vier Jahrzehnte später, auf einer Reise zurück in die Jugendzeit nach Finsterau, so richtig bewusst geworden.
Und es gab dort viele Menschen, die fuhren mit Zündapps herum. Junge wie Alte. Mopeds, Mokicks aber auch Kleinkrafträder. Allesamt preiswerte Fortbewegungsmittel, denn damals waren die Bewohner dieser Region – Finsterau war ja auch der letzte Ort vor der bayerisch-böhmischen Grenze – monetär nicht sehr gesegnet. Zündapps auch deshalb, weil sie, wie ich denke, bayerischer Fabrikation waren – und die Waidler ebenso patriotisch gesinnt sowie der Heimat verbunden gewesen (bzw. immer noch) sind.
Besonders bei den Jugendlichen war das einarmige Gashahn-Reißen in der 50-Kubikzentimeter-Klasse sehr beliebt. Ich möchte nicht wissen, ob es bei den Nachwuchs-Kradisten nur ein Maschinchen gab, das ohne „Frisieren“ auskam. Und einen BMW, den konnten sich damals nur die wenigsten leisten. Das verdiente Geld wurde für wesentlichere Dinge benötigt – weniger für ein Statussymbol. Da war es schon preisgünstiger mit dem Zweirad von A nach B zu fahren, um Besorgungen zu erledigen.
Die Männer arbeiteten während der Woche bei BMW in Dingolfing oder München und kamen erst am Freitagabend wieder heim zur Familie, heim in den Woid. Dann wurde mit dem in der Ferne verdienten Geld am eigenen Haus weitergebaut. So entstanden viele schmucke Einfamilienhäuser, die allesamt meistens nur an den Wochenenden erschaffen wurden. Bei solchen Bauvorhaben halfen sich die Familien und die Verwandten immer untereinander. Das Arbeitsplatzangebot war damals (wie heute) in dieser Gegend nicht besonders rosig. Deshalb ziehen heute viele aus ihrer Heimat weg. Aber: Es ist die Heimat dieser Menschen – und es kann nicht sein, dass sie für ihr Überleben diesen wunderbaren Ort verlassen müssen.
Die grüne Wiese ist zubetoniert
Der Geruch des Zweitaktgemisches der „Rängdängdängs“ – ich habe ihn nirgends mehr sonst so olfaktorisch genießen können wie damals und dort. Ob die Waidler wohl ihr eigenes Gemisch zauberten? Möglich wäre es schon. Jene Zweiräder brachten mich jedes Jahr wieder zu der Erkenntnis, dass sie die preiswerten, motorisierten Fluchten und Fortbewegungsmittel der Wald-Bevölkerung waren, wie ehedem im restlichen Deutschland der 50er Jahre, als die Massenmotorisierung einsetzte. Zuerst auf zwei Rädern, dann im Zuge des fortschreitenden Wohlstandes mit Automobilen.

Dies war damals das ultimative Geschoss, vor dem selbst Sportwagenfahrer ergebenst den Hut zogen, wenn das Ansauggeräusch durch die beiden Doppelvergaser zu den Umstehenden sprach.
Der Bayerische Wald war in vielerlei Hinsicht noch rückständig – und genau das war es, das seinen ganz besonderen Charme ausmachte. Kleine Krämerläden, die für die Grundversorgung der Menschen sorgten – man brauchte keine Supermärkte, um sich mit dem Tagtäglichen einzudecken. Und heute? In Freyung, der nächstgrößeren Stadt, sieht es am Ortseingang aus wie überall: Die großen Supermarktketten haben sich mit ihren Einkaufspalästen in trauter Eintracht niedergelassen – und es ist all das erhältlich, was auch in München oder Stuttgart zu finden ist. Die grüne Wiese ist zubetoniert – natürlich nur zum Wohle der Bevölkerung. Die kleinen Läden – sie verschwinden, einer um den anderen. Damit einher geht auch ein großer Verlust der Identität der Ortschaften sowie der Bezug zur Heimat.
Dann kam die Zeit, in der ich mit meinem eigenen Automobil in den Bayerischen Wald gefahren bin. Ein königsroter Käfer mit einem selbst aufgebauten Motor und reichlich Leistung. Wie viel? Das verrate ich besser nicht… Mit herrlich breiten Rädern und einer wunderbaren Artikulation des Triebwerks. Überall, wo ich stand, bildetete sich kurzerhand eine Traube um meinen Käfer. Vollgestopft mit allem notwendigen Werkzeug – man konnte ja nie wissen, was als nächstes kaputtgehen würde und was ich am nächsten Straßenrand wieder instand setzen durfte. Ein Lied von Phil Collins wurde in Dauerschleife im Kassettenrecorder und – zur damaligen Zeit – voluminösen Anlage mit den vier Lautsprechern gespielt.
Autobegeisterte Polizisten – und ein gerissener Gaszug
Und so trug es sich zu, dass ich in eine Verkehrskontrolle mit äußerst wichtigen „Amtspersonen“ auf der Magistrale zwischen Mauth und Philippsreut geriet. Auf einer Strecke, auf der sich stündlich wahrscheinlich nur ein einziges Auto „verirrte“. Sie schlichen um den Wagen herum, betrachteten den Motorraum – und mir trat immer mehr der Schweiß auf die Stirn. Sie waren nicht auf der Suche nach einem möglichen Fehlvergehen. Sie waren höchst interessiert. Bis die Frage aufkam: „Wie schnell läuft der denn?“ Ich antwortete etwas salomonisch: „Ich weiß es nicht, aber 150 bin ich schon mal gefahren – schneller traue ich mich nicht, ich möchte ja nichts kaputtmachen.“
Ich wusste nicht einmal, welche Höchstgeschwindigkeit in dem Fahrzeugschein eingetragen war. Es waren deutlich mehr als 150. Auf jeden Fall haben mich die zwei Streifenwagenbesatzungen mit einem „Schönen Tag noch“ weiterfahren lassen. Das war ein Abenteuer. Das war die bis heute einzige Verkehrskontrolle, in die ich geraten bin. Deswegen ist sie mir auch noch so nachhaltig im Gedächtnis geblieben. Es war damals ein traumhaft-schöner Tag und die Herrschaften wollten wahrscheinlich diesen ein wenig an der frischen Luft verbringen – was bot sich da Besseres an als eine Verkehrskontrolle an einem Fleckchen Straße, wo eh nichts los ist? Bis dann der Stuttgarter Käfer daher brauste und für einen Augenschmaus und für Abwechslung sorgte. Herrliche Zeiten…

Diese fotografische Notiz wurde in Waldhäuser komponiert: „Jahrzehnte später machte ich eine Revival-Tour zurück an den Ort meiner Glückseligkeit.“
Oder die Anekdote, als mir der Gaszug genau vor dem VW-Händler in Freyung gerissen ist. War das peinlich! Denn genau vorher hatte ich die Pferdchen aus dem Stall gelassen – als die Ampel auf Grün schaltete, es mich in den Vollschalensitz presste und die Brennraumkalotten gierig durch die voluminöse Vergaserbatterie vehement das Kraftstoff-Luftgemisch ansaugten. Der VW-Händler hatte einen neuen Gaszug auf Lager – den hatte ich nämlich nicht dabei(!) – und so schraubte ich am Straßenrand gemütlich vor mich hin. Nach einer Viertelstunde ging es weiter.
Die automobilen Wanderungen waren für mich als damaliger Nachwuchsautomobilist das Paradies schlechthin. Fenster offen, das Schiebedach ebenso. Phil Collins plärrte aus den Lautsprechern – und ich fuhr durch die Landschaft wie im Film. Du spürst, riechst, fühlst die Natur, die Kühle und Frische des Waldes, die wohlig einhüllende Wärme der sonnendurchfluteten Wiesen. Und das wonnige und paradiesische Herumstromern auf den kleinen Straßen, die über ein herrliches Kurvendesign verfügen. Da sind solche Sinn-Oasen das Herrlichste auf der Welt…
Hinauf zum Gipfel des Lusen und des Großen Rachel
Wie oft bin ich in diesen Jahren wohl auf den Lusen, einen 1.373 Meter hohen Berg im Nationalpark, gewandert – immer darauf aus, die Zeiten auf den liebevoll geschnitzten Hinweistafeln um mindestens die Hälfte zu unterbieten. Heute würde ich wahrscheinlich die doppelte Zeit benötigen. Aus dem Reschbachtal oder von Waldhäuser aus, denn von dort war die Lusenwanderung am schnellsten zu bewältigen. Von seinem nicht-bewaldeten und mit großen Granitsteinen besetzten Gipfel aus hat der Wanderer eine atemberaubende Rundumsicht – auf den Steinfleckberg mit der Steinfleckhütte, weit nach Osten in den Böhmerwald hinein und in den vorderen Bayerischen Wald.
- Die Lusenschutzhütte: Da schmeckten die Wienerle mit Brot nach dem Aufstieg zum Lusen gleich doppelt so gut.
- Die letzten Meter über die mächtigen Granitfelsblöcke zum 1.373 Meter hohen Lusengipfel.
- Der Rachelsee: Ein Ort, an dem es sich kontemplieren lässt.
Die Wanderungen mit meinen Eltern auf den Rachel (1.453 Meter) waren großartig. Wir wurden auch dort nach einem anstrengenden Aufstieg mit einer traumhaften Aussicht belohnt – und ein paar Felsen gab es ebenso. Für mich als Alpen-Liebhaber war das immer wieder ein kleines Highlight.
- Die Racheldiensthütte.
- Blick von der Rachelkapelle hoch über dem Rachelsee.
- Der 1.452 hohe Gipfel des Großen Rachels.
Jahre später habe ich mit zwei Freunden Urlaub in diesem abgeschiedenen Fleckchen Erde gemacht. Diesmal war es eine Ferienwohnung in Vierhäuser bei Mauth – mit einer traumhaften Terrasse und einem Garten, den wir auch benutzen konnten. Legendär unsere damaligen Grill-Orgien. In Ermangelung eines Grillanzünders wurde kurzerhand die Verteilerkappe des Käfers zweckentfremdet und mit Benzin aus dem Tank gefüllt. Das war schon abenteuerlich, aber geschmeckt hat’s recht gut – und einen Brand hat es nicht gegeben. Wir hatten diesen Grillzauber auf einem Parkplatz veranstaltet, der für derlei Grillereien zugelassen war. Zumindest ist es mir so heute noch im Gedächtnis…
Vielleicht auch eine Flucht in ein Stück Jugend
Und nach fast vier Jahrzehnten bin ich wieder in den Woid gefahren. Back to the Roots – zurück in die gute alte Zeit. Vielleicht auch eine Flucht in ein Stück Jugend, um sich wieder jung zu fühlen? Schluss mit der ewigen Träumerei und dem Schwelgen im Gestern. Mit einer Luxuskarosse bin ich eingefallen, es war mir fast schon etwas peinlich.

Der ultimative musikalische Hammer aus den 80er Jahren begleitete mich auch auf dieser Reise wieder: „In The Air Tonight“ von Phil Collins.
Eine Reminiszenz an die guten alten Zeiten musste doch sein – und zwar ultimativ und ohne wenn und aber: Phil Collins mit dem gigantischen „In the Air tonight“ dröhnte aus den Boxen. Wie damals mit meinem frisierten Käfer – nur heute in einem ultimativen Geschöpf aus der Dresdner Auto-Manufaktur. Die musikalische Orgie begann im Ort Glashütte und hörte in Mauth auf. In meinen Ohren wummerte das Lied noch Stunden später. Der Innenspiegel vibrierte sehr stark und äußerst musikalisch im Takt und ich bekam es schon mit der Angst zu tun, dass dieses Teil abfliegt – aber das musste sein: meine ganz persönliche Woid-Hymne.
Ulrich Bänsch
Im sechsten und letzten Teil unserer Serie „Finsterau – meine Jugendliebe“ beschäftigt sich der Autor u.a. mit dem Tourismus im Bayerischen Wald, den er aus vergangener und heutiger Perspektive betrachtet, sowie der Frage, warum gewisse Orte wie Finsterau eine gar magische Anziehungskraft auf ihn auswirken…